Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin dem Kollegen Furler sehr dankbar, daß er dem Hause gegenüber einen Teil der Berichterstattung über die Arbeit des Montanparlaments in Brüssel in der letzten Woche übernommen hat. Aber trotz der Courtoisie, die wir uns in diesem Montan-Parlament angewöhnt haben, weil wir dort ein sehr sympathisches internationales Klima vorfinden, das sehr viel Verständnis für die Nationalitäten, Gruppen und Individualitäten verlangt, muß ich dem Herrn Kollegen Furler sagen, daß er in einem Punkt zumindest nicht ganz korrekt berichtet hat. Es hat sich in Brüssel nicht darum gedreht, daß die drei politischen Gruppen des Montanparlaments eine gemeinsame Resolution zu den Atomfragen fassen wollten, sondern es war die Frage gestellt worden, ob man es tun solle. Die sozialistische Gruppe jedenfalls hat erklärt: Wir halten das aus mehreren Gründen für voreilig und für viel zu früh. Erstens wußten wir nicht, in welcher exakten Form die Arbeiten der Messina-Kommission eines Tages in Erscheinung treten werden. Zweitens war uns im Montan-Parlament ein Bericht vorgelegt worden, der die persönliche Meinung eines Berichterstatters wiedergab, dem wir aber mit der Höflichkeit, die bei uns ab und zu herrscht, gestattet hatten, seine persönliche Meinung als Diskussionsgrundlage vorzulegen. Wir haben uns dann, weil wir, ohne eine konkrete, echte Diskussionsgrundlage zu haben, unsererseits dazu nicht Stellung nehmen konnten, darauf beschränkt, eine Erklärung abzugeben. Es ist eine gute Sitte in diesem Montan-Parlament, daß die einzelnen politischen Gruppen ihre Meinung in einer Stellungnahme bekanntgeben, die dieses Hohe Parlament sich in vorbildlicher Weise angewöhnt hat zur Kenntnis zu nehmen, damit man weiß, was der einzelne Partner über eine Sache denkt. Das wird sich hier wahrscheinlich niemals realisieren lassen. Ich wollte es aber hier einmal erwähnen, damit man sieht, daß es Parlamentsformen gibt, die ausgezeichnet sind, ohne daß es etwa dahin führt, daß die echte Gegnerschaft in grundsätzlichen Fragen verwischt würde.
Die sozialistische Gruppe jedenfalls hat zu der entscheidenden Frage des Eigentums an den Kernbrennstoffen erklärt, daß die sozialistischen Mitglieder des Montan-Parlaments — und ich kann das hier zugleich für die ganze sozialdemokratische Bundestagsfraktion sagen — der Meinung sind: Wenn man öffentliche Gelder in erheblichem Umfange dafür in Anspruch nimmt, die Forschung durchzuführen und die Pionieranlagen zu schaffen, dann haben wir in einer Sache, bei der das allgemeine Interesse so absolut vorrangig ist, kein Verständnis dafür, daß nachher die Privatindustrie die Möglichkeit haben soll, mit dieser gefährlichen Materie erhebliche Profite zu machen. Das ist eine entscheidende Frage, vielleicht auch eine grundsätzliche Frage.
Ich darf Sie zu Ihrer weiteren Informierung über die Vorgänge im Montan-Parlament noch auf folgendes hinweisen, und Kollege Furler wird mir das sicher nicht übelnehmen, sondern eher sogar dankbar sein. In der ursprünglichen Fassung der Erklärung, die die Christlich-Soziale Gruppe in Brüssel abgeben wollte, war ein Passus enthalten, der der freien Initiative ausdrücklich freie Hand geben und sie fördern sollte. Ich weiß, zumal ich mit so manchem dieser Kollegen wegen der gemeinsamen Resolution über den gemeinsamen Markt gesprochen habe, daß es auch innerhalb dieser Gruppe bei dieser Eigentumsfrage sehr erhebliche Unterschiede und Vorbehalte, jedenfalls Meinungsdifferenzen gegeben hat. Die ChristlichSoziale Gruppe im Montan-Parlament hat sich dann klugerweise darauf beschränkt, zu sagen, daß die „konstruktiven Bemühungen der Privatinitiative" ermöglicht werden sollten. Nun, dagegen ist wenig einzuwenden. Herr Furler schmunzelt; er kennt genau die kleine Finesse: gegen „Initiative" der Privatindustrie ist nichts einzuwenden. Die Frage ist nur, ob sie das machen kann mit Brennstoffen, die ihr gehören, oder mit Brennstoffen, die sie zur Dienstleistung geliehen bekommt. Ich erinnere daran, daß der sehr kluge Präsident der Hohen Behörde, Herr René Mayer, sich in einer sehr kurzen, knappen Schlußansprache zu diesem Thema ausgezeichnet geäußert hat, und ich empfehle vor allem den Kollegen der FDP, das einmal nachzulesen. Es besteht die Hoffnung, daß sie dann vielleicht zu der Auffassung kommen, daß die Lösungen, die da vorgesehen sind, möglicherweise zweckmäßiger sind als das, was in ihrem Gesetzentwurf steht. — So weit zu den Fragen der Atomenergie und der damit zusammenhängenden Probleme.
Ich bedaure außerordentlich — und das sind wieder Dinge, die wir aus anderen Parlamenten kennen —, daß die beiden Herren Bundesminister, die hier offizielle Erklärungen abgegeben haben, nicht auf den eigentlich selbstverständlichen Gedanken gekommen sind, uns die Texte ihrer Ausführungen, während sie sie vorlasen, auf den Tisch legen zu lassen. Es ist sehr schwer, sofort den Inhalt der Rede, die man nur hört, zu erfassen oder gar darüber zu diskutieren. Ich will mich deshalb nicht darauf einlassen; ich könnte falsch gehört haben. Aber wenn der Herr Atomminister in seiner Erklärung gesagt haben sollte, man solle zunächst alles laufen lassen, um es dann möglicherweise in Etappen zurückzuentwickeln, dann hätte ich doch starke Bedenken.
Viel stärker aber sind meine Bedenken gegenüber dem, was ich vom Herrn Bundeswirtschaftsminister gehört habe, der sich heute mit der an ihm gewohnten Bescheidenheit als „Staatsmann mit besonderen Qualitäten" charakterisiert hat. Er hat erklärt, welche Prinzipien über den gemeinsamen Markt die Bundesregierung verfolgen will oder verfolgt. Er hat einiges gesagt, was vollkommen richtig ist. Er hat sehr viel schöne Worte gebraucht, mit denen die Praktiker aus dem Montanparlament, die mit Kohle und Stahl zu tun haben,
wenig anfangen können. Ich möchte zu dem, was Kollege Reif gesagt hat, zu dem, was Kollege Furler ausgeführt hat, und zu dem, was in der Tagespresse und in vielen Zeitschriften zu diesem Problem des gemeinsamen Marktes geschrieben und gesagt wird, doch auf folgendes hinweisen. Ich teile die Besorgnis, die einer der Kollegen hier ausgesprochen hat, daß es heute schon wieder sehr viele merkwürdige Europäer gibt, die sagen: wir sind für den gemeinsamen Markt, und die dann das Gefühl haben: da haben wir eine schöne Visitenkarte herausgesteckt und brauchen nicht mehr sehr viel zu machen, um dieses Europa zu vereinigen.
Es gibt hier einige entscheidende Notwendigkeiten, und ich möchte zwei, drei Dinge, die ich in der Erklärung der Bundesregierung vermißt habe und die Herr Professor Erhard vergessen oder an die er offensichtlich nicht gedacht hat, mit knappen Sätzen sagen. Es ist zunächst einmal eine absolute Selbstverständlichkeit — darüber war auch erfreulicherweise eine übereinstimmende Meinung im Montanparlament vorige Woche in Brüssel vorhanden, wo wir uns in den Sitzungen der Arbeitsgruppe und in den verschiedenen Fachausschüssen mit diesen Fragen sehr gründlich und mit relativ viel Sachkenntnis unterhalten haben —, daß sich der gemeinsame Markt unter keinen Umständen darin erschöpfen kann, daß man die Freizügigkeit von Gütern, Sachleistungen, Menschen und Kapital herbeiführt. Diese Freizügigkeit ist mehr oder minder auch heute gegeben; dazu braucht man keinen gemeinsamen Markt. Aber viele Leute sagen: wenn wir ihn proklamieren und sozusagen die Liberalisierung noch weiterführen, ist alles Notwendige geschehen. Das Entscheidende, was für den gemeinsamen Markt und für das Gelingen eines gemeinsamen Marktes notwendig ist, ist jedoch die Harmonisierung der Wirtschafts- und der Währungspolitik und die Koordinierung der Sozial-und Fiskalpolitik. Sonst geht die Sache nicht, oder sie geht schief.
Dann möchte ich auf ein Zweites hinweisen; ich habe das in Brüssel getan, und es scheint mir notwendig zu sein, das auch hier in unserem eigenen Parlament zu tun. Wer die Vorstellung hat, daß der gemeinsame Markt irgendwie zu der mechanischen Maximierung des Sozialproduktes führen müßte, wie wir das aus einer jahrzehntelangen Entwicklung in Amerika kennen, begeht ebenfalls wieder einen Riesenfehler; denn das kann nicht das Ziel des gemeinsamen Marktes in Europa sein. Warum nicht? Damit komme ich zum dritten Punkt: Weil dieses Europa ein Erdteil ist, in dem die Völker durch jahrzehnte-, oft jahrhundertelange Traditionen gewachsen sind, wo sie „Persönlichkeiten" und Individualitäten geworden sind. Das muß man bewahren können. Es kann also für Europa, auch wenn es zunächst nur sechs Staaten sind — wir alle hoffen, daß die Zahl möglichst bald über sechs hinausgeht —, bei der Schaffung eines gemeinsamen Marktes nicht darauf ankommen, zu einer mechanischen Gleichmacherei zu kommen.
Damit komme ich zu dem letzten Anliegen, das ich hier noch vortragen möchte. Wenn ich die Zeitungen und Zeitschriften lese — und auch in der Diskussion mit vielen, sogar gutwilligen Menschen —, habe ich immer — und sicherlich auch der eine oder andere von Ihnen — den Eindruck: man sagt: „wir wollen den gemeinsamen Markt", und man hat das Gefühl, als sei das schon wieder ein Dogmageworden, — man brauche nur den gemeinsamen Markt zu schaffen, und alles werde automatisch schöner und besser. Die Schaffung des gemeinsamen Marktes bringt keineswegs automatisch die Besserung der Lebenshaltung. Sie bringt keineswegs die Steigerung der Produktion. Wer das annimmt und glaubt, begeht einen großen Fehler. Um zu einer wirklichen Produktivitätssteigerung zu kommen, ist es Voraussetzung, daß die Dinge, die ich vorher erwähnt habe, beachtet und auch wirklich praktiziert werden.
Einer der Punkte jedenfalls, auf die wir Sozialdemokraten entscheidendes Gewicht legen, ist die Position und die Stellung des Menschen in diesem gemeinsamen Markt. Wir haben aus den dreieinhalb Jahren Praxis der Montangemeinschaft doch gerade diesen einen entscheidenden Punkt in aller Klarheit erkannt, daß nämlich der schöne Vertrag nicht ausreichend war, um die Hebung der Lebenshaltung der Menschen der beteiligten Länder wirklich herbeizuführen. Glauben Sie mir, meine Damen und Herren, die Stahlarbeiter und die Bergarbeiter in diesen sechs Ländern haben bisher nicht den Eindruck bekommen, daß sich durch die Schaffung des gemeinsamen Markts für diese beiden Grundstoffe ihre persönliche und menschliche Lage so gebessert hat, daß sie in dieser Gemeinschaft wirklich einen großen Fortschritt sehen.
Wir sind uns im Montanparlament in dieser Frage alle einig. Daher die Bemühung, durch die Vertragsänderung und -erweiterung der Hohen Behörde die Vollmachten und Möglichkeiten auf dem sozialen Gebiet zu geben, die sie bisher nicht gehabt hat.
Aber daß es in diesem gemeinsamen Markt noch auf etwas ankommt: daß man dahin kommt, den Menschen die Angst zu nehmen, jemals wieder nicht beschäftigt zu sein, darüber habe ich in der Erklärung von Professor Erhard nichts gehört. Daß man das Prinzip der Vollbeschäftigung, der Aufrechterhaltung der Beschäftigung verfolgt, die Notwendigkeit des Konjunkturausgleichs beachtet und eine laufend steigende Beschäftigung sichert, wenn der gemeinsame Markt funktionieren soll, das sind entscheidende Notwendigkeiten, über die ich, wie ich sagte, in der Erklärung nichts gehört habe.
Das sei als Letztes gesagt: Der Weg, der gegangen werden soll, ist klar. Er soll über die Zollunion zu der Wirtschaftseinheit der sechs Länder führen und, wenn die andern mitmachen, möglichst bald darüber hinausgehen. Nach dem bisher Gesagten war es notwendig, das klar auszusprechen.
Zum Schluß möchte ich mir einen Hinweis gestatten, nämlich bezüglich des Antrags Drucksache 2229. Es ist hier von einem Kollegen gesagt worden, man solle den Antrag in einen Ausschuß verweisen und dort besprechen lassen. Meine Damen und Herren, wollen wir uns doch darüber klar sein, was hier geschieht. Erstens haben die großen Fraktionen diesen Antrag gemeinsam eingebracht, und zweitens dreht es sich hier doch gewissermaßen darum, daß wir als Bundestag etwas ratifizieren, was in Paris festgelegt worden ist, und daß kein Ausschuß des Deutschen Bundestags die Möglichkeit hat, an dieser Festlegung von Paris etwas zu ändern. Ich plädiere also dafür, daß wir heute diesen Antrag annehmen.