Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich auf mein eigentliches Thema, nämlich auf die europäische Organisation für Atomenergie und die Errichtung eines gemeinsamen Marktes, eingehe, möchte ich einer Bitte meines Fraktionsfreundes Kiesinger entsprechend kurz auf die großen außenpolitischen Auseinandersetzungen zurückkommen, von denen wir vorhin im Zusammenhang mit der ersten Entschließung des Europarates gehört haben. Sie erinnern sich, daß eine dramatische Situation insofern entstanden war, als Herr Kollege Professor Schmid an Herrn Kiesinger die Frage richtete, ob ihm bekannt sei, daß in der UNO-Kommission eine Einigung über die Zahl der klassischen Streitkräfte erzielt worden sei. Es wurden für die Großmächte 1 bis 1,5 Millionen und für Frankreich 650 000 Mann genannt, und es wurde gesagt, daß sich die übrigen Staaten dann mit einer Stärke bis zu 200 000 Mann begnügen müßten.
Nach den letzten vorliegenden Nachrichten ist eine Einigung über Zahlen in dieser Kommission weder früher noch heute erfolgt. Der neueste Stand ist der, daß nach dem britisch-französischen Abrüstungsvorschlag im Gegensatz zu früheren Vorschlägen keine Höchstziffern für konventionelle Streikräfte vorgesehen sind. Es ist vorgesehen, daß die Höchststärken auf einer späteren Konferenz, in der alle Länder ihre Auffassungen geltend machen können, festgesetzt werden. Es wurde früher auf Grund gegenseitiger Vorschläge über die Zahlen gesprochen, auch über die 1 bis 1,5 Millionen und die 650 000, die einmal von der britisch-französischen Delegation vorgeschlagen wurden. Dieser Vorschlag wurde später von der russischen Seite mit gewissen Modifikationen und Abänderungen, darunter der sowjetrussische Gegenvorschlag, die Stärke der Streitkräfte der übrigen Staaten auf bis zu 200 000 Mann zu begrenzen, aufgegriffen. Aber eine Einigung ist nicht erzielt worden. Da Herr Kiesinger vorhin hier eine Erklärung nicht abgeben konnte, habe ich dies in seinem Auftrag getan.
Nun zu den weiteren Resolutionen des Europarates und zu der Erklärung des Monnet-Komitees, die Gegenstand der gegenwärtigen Debatte sind. Sie wissen, daß der Gedanke, die friedliche Verwertung der Atomkraft in einer Gemeinschaft durchzuführen, und der Gedanke, diese Gemeinschaft auf eine wirtschaftliche Gemeinschaft auszudehnen, der vor allem ein gemeinsamer Markt zugrunde liegen soll, auf zwei Ursprünge zurückgeht, einmal auf anregende Beschlüsse, die die Gemeinsame Versammlung der Montanunion schon Ende 1954, und zwar auf Anregung des französischen Delegierten Teitgen gefaßt hat, zum anderen auf Anregungen aus der Messina-Konferenz vom Juni vergangenen Jahres. Beide Wege wurden begangen. Die Gemeinsame Versammlung hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die nunmehr in Brüssel umfangreiche Berichte vorgelegt hat, in denen beide Probleme, Euratom, wie man es später nannte, und Gemeinsamer Markt, behandelt werden. Die Messina-Konferenz hat eine Sachverständigenkommission gebildet, deren Arbeiten Monate hindurch sehr intensiv waren und deren Ergebnisse inzwischen von dem die Kommission leitenden belgischen Außenminister Spaak mehrfach
mündlich dargestellt worden sind und die demnächst in einem schriftlichen Bericht niedergelegt werden.
Die Gemeinsame Versammlung der Montanunion hat sich mit beiden Fragen auf ihrer Brüsseler Sitzung in der vergangenen Woche befaßt. Der Europarat nimmt nicht Bezug auf eigene Tätigkeiten, sondern auf diese beiden Motivierungen, die ich soeben dargelegt habe. Die Entschließungen unterstützten sowohl die Bestrebungen einer gemeinsamen Organisierung der Atomkraft als auch die Entwicklung eines gemeinsamen Marktes.
Zunächst zu Euratom. Die Idee, von der sowohl die Arbeiten der Messina-Konferenz wie die der Gemeinsamen Versammlung ausgehen, ist die, daß wir in Europa, wenn wir die Dinge getrennt in den einzelnen Staaten behandeln, aus dem Rückstand, der ganz offensichtlich gegenüber den großen Mächten besteht, überhaupt nicht mehr herauskommen werden. Der konkrete Gedanke war: die sechs Staaten, die schon in der Montanunion verbunden sind, sollen sich auch zusammenfinden, um die friedliche Verwertung der Atomkraft durch Zusammenlegung ihrer Kräfte zu aktivieren. Man war sowohl bei den Sachverständigen der MessinaKonferenz wie in der Gemeinsamen Versammlung der Auffassung, es genüge hierzu nicht, daß sich alle europäischen Staaten in einer internationalen Form wie etwa in der der OEEC zusammenschlössen, sondern man müsse eine Gemeinschaft gründen, und zwar nicht der Organisation wegen, nicht der Institutionen wegen, sondern deshalb, weil nur die engste gemeinsame Arbeit und nur eine eigene Handlungsfähigkeit dieser Gemeinschaft die notwendigen wirtschaftlichen Erfolge bringen, die höchste Leistungsfähigkeit erzielen könne.
Dieses Euratom-Projekt, dieses Zusammenfügen der Kräfte der sechs westeuropäischen Kontinentalstaaten, sollte nicht ausschließlich sein und gegen irgend jemanden gerichtet sein. Auch die Monnet-Erklärung — die ja der Initiative von Messina und der Gemeinsamen Versammlung neuen Antrieb geben will — sagt: Natürlich steht der Beitritt oder die Assoziierung zu dieser Gemeinschaft allen anderen europäischen Staaten offen. Was soeben Herr Minister Strauß festgestellt hat, ist auch die Auffassung des Monnet-Komitees: daß nämlich die beiden Gestaltungen sich nicht ausschließen, daß man sehr wohl innerhalb der großen europäischen Organisation der 17 oder 18 Staaten, die die OEEC bilden, diese engere, kraftvollere, wirkungsvollere Gemeinschaft gründen könne, die sich dann in die anderen Beziehungen einfüge.
Es ist interessant, daß auch die Entschließung des Europarates, die schon einige Zeit zurückliegt und vor dem OEEC-Projekt gefaßt wurde, sagt, die Organisation, die man für die friedliche Auswertung der Atomkraft schaffe, müsse zu diesem Zweck diejenigen wirklichen Befugnisse erhalten, die sie zur Erfüllung der ihr übertragenen Aufgabe benötige. Also auch da wird eine handlungsfähige Gemeinschaft gefordert.
Nun ist man sich über eine Reihe von Punkten völlig einig. Man ist sich darüber klar — ich brauche das im einzelnen nicht zu wiederholen —, daß diese Gemeinschaft der Forschung materiellen und ideellen Auftrieb geben müsse, daß sie die
Forschungsprogramme koordinieren, daß sie Doppelarbeit und unrationelles Vorgehen verhindern solle. Man ist sich auch darüber einig, daß gewisse besonders teure und besonders risikovolle Anlagen gemeinschaftlich zu errichten sind, so z. B. eine Anlage zur Isotopentrennung. Eine solche Anlage ist außerordentlich teuer und trägt das große Risiko des technischen Überholtwerdens in sich. Man will auch das Recht der sechs Staaten koordinieren. Man will ein wirkungsvolles Sicherheitssystem — ich komme darauf noch zurück —, und man fordert eine parlamentarische Kontrolle der Institutionen, die entstehen. Man schlägt im Interesse einer rationellen Gestaltung vor, diese parlamentarische Kontrolle durch die schon vorhandene Gemeinsame Versammlung der Länder der Montanunion durchzuführen.
Allerdings sind drei Probleme noch offen, die ich kurz behandeln will. Zwei von ihnen haben verhindert, daß man in Brüssel zu einer einheitlichen Resolution über Euratom kam. Es ist meines Erachtens notwendig, diese Dinge weiter zu klären, um zu einer Einigung zu gelangen. Wir dürfen nicht an irgendwelchen Formulierungen festhalten und doktrinäre Streite führen. Wir wollen zu einem Ergebnis gelangen. Ich betone, es kam in Brüssel zwar keine gemeinschaftliche Entschließung zustande; aber alle Fraktionen haben erklärt: Wir wünschen, daß sich die Sachverständigen mit diesen Problemen weiter befassen und daß sie endgültige Berichte vorlegen. Daß man sich noch nicht gemeinsam entschließen konnte, besagt nicht, daß man sich überhaupt nicht entschließen will. Im Gegenteil, man will dies. Man möchte versuchen, die Standpunkte anzunähern und sie möglichst auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.
Worin lagen die Differenzen? Die erste Frage war: soll diese Gemeinschaft der sechs Staaten die Atomenergie ausschließlich zu friedlichen Zwecken verwerten? Mit anderen Worten: soll die Gemeinschaft sich auf die Ausnutzung dieser ungeheuren Kräfte für die Schaffung von Kraftwerken beschränken oder soll sie auch die Möglichkeit haben, die großen Vernichtungswaffen zu erzeugen? Die Monnet-Resolution stellt sich eindeutig auf den Standpunkt: ausschließlich friedliche Verwertung. Ich gebe zu, daß dieser Standpunkt eine gewisse Folgerichtigkeit hat. Ich möchte aber betonen — um jedes Mißverständnis auszuschließen —, daß die ausschließlich friedliche Verwertung nichts zu tun hat mit einer Neutralisierung und allen Dingen, die damit zusammenhängen. Dies ist völlig klar. Die Monnet-Entschließung ist hier zunächst nur wirtschaftlich zu verstehen. Selbstverständlich bestehen für die Staaten der Gemeinschaft die Bindungen der atlantischen Verteidigungsgemeinschaft, der NATO, der Westeuropäischen Union usw. eindeutig weiter. Es ist also nicht möglich, zu sagen, hier werde irgendeiner Neutralisierung Vorschub geleistet.
Ich will zur Klarstellung — mein Bemühen ist der Versuch, zu einer Einigung hinzuführen — auch sagen, daß die Differenz zwischen dem einen Standpunkt — ausschließlich friedliche Verwertung — und dem anderen nicht so groß zu sein scheint. Auch wenn ein Euratomprojekt mit der Formulierung einer ausschließlich friedlichen Verwertung zustandekommt, schließt dies nicht aus, daß man durch einen gemeinschaftlichen, einstim-
migen Beschluß später von diesem Grundsatz wieder abgeht, wenn die außenpolitische Situation etwas Derartiges erfordert. Es ist nicht vorgesehen, daß die Atomgemeinschaft gegenüber dritten Staaten Bindungen übernimmt. Dieser Entschluß bleibt in ihrer souveränen Entscheidung. Ich will nur noch sagen: Welchen Weg man auch geht, es ist nötig, klarzustellen, daß auf jeden Fall die nicht friedliche Fertigung niemals durch einzelne Mitglieder der Gemeinschaft durchgeführt werden darf, sondern ausschließlich durch die Gemeinschaft.
Ich brauche nur darauf hinzuweisen, daß für die Bundesrepublik insofern eine besondere Situation besteht, eine schwierige Lage auch der Gemeinschaft gegenüber, als sie im Zusammenhang mit den Pariser Verträgen eindeutig auf eine Atomwaffenfertigung verzichtet hat. Bei uns ist diese Frage also von dem einzelstaatlichen Gesichtspunkt aus erledigt.
Auf alle Fälle ist folgendes sicher. Diese sechs Staaten wollen sich nicht zusammenschließen, weil sie allein nicht die Kraft haben, die großen Vernichtungswaffen herzustellen. Das ist nicht das Ziel der Gemeinschaft. Das Ziel ist, die Kräfte zu koordinieren, um wirtschaftlich weiterzukommen. Die Staaten wollen sich zusammentun, um die Atomkraft für die Entwicklung ihrer Wirtschaft einzusetzen, um ihren Völkern einen höheren materiellen Wohlstand erreichbar zu machen.
Nun zur zweiten offenen Frage, der Frage des Eigentums an den Kernbrennstoffen. Um hier klar zu sehen, ist von folgendem auszugehen. Das Eigentum an den Kernbrennstoffen wird in der Monnet-Deklaration ausdrücklich in Zusammenhang gebracht mit der notwendigen Kontrolle, die über die Betriebe ausgeübt werden muß, die mit solchen Kernbrennstoffen arbeiten. Man ist sich völlig darüber einig, daß es nicht möglich ist, diese Kernbrennstoffe irgend jemandem, sei es dem Staat, sei es Privaten, ohne eine ständige und wirksame Kontrolle zu überlassen. Das ist ein oberster Grundsatz: Kontrolle und Eingriffsmöglichkeiten müssen gegeben sein.
Die Frage ist nur: Ist es zur Durchführung dieser Kontrolle und für die Möglichkeit eines wirksamen Eingriffs nötig, daß die Gemeinschaft das Eigentum an den Kernbrennstoffen hat? Die Monnet-Erklärung ist der Meinung, dies sei nötig. Sie sagt aber ausdrücklich, daß das Eigentum auf die Gemeinschaft nur übertragen werden solle wegen des zu errichtenden Kontrollsystems. Nach langen Auseinandersetzungen innerhalb des Komitees wurde noch der klärende Satz hineingefügt, daß das Eigentum .,ausschließlich zu diesem Zweck", nämlich zum Zwecke der Kontrolle, zu übertragen ist.
Nun fragt sich: Ist es zur Kontrolle und zur Sicherstellung notwendig, das Eigentum zu übertragen? Scheinbar ist das notwendig. Ich sage scheinbar deshalb, weil in den Vereinigten Staaten von Amerika dieses öffentliche Eigentum auch besteht. Aber dort war eine ganz andere Situation gegeben. Man hat mit dieser Fertigung im Krieg zu kriegerischen Zwecken begonnen, und das schuf, auch wegen der Geheimhaltung, eine ganz andere Lage.
Das Zweite ist folgendes. Ich glaube — einmal rein juristisch gesehen —, daß man im angloamerikanischen Rechtsdenken von anderen Vorstellungen ausgeht. Man sagt sich dort: ein wirksamer Eingriff setzt private Rechtstitel voraus. Ich nehme an, mit Herrn Kollegen Schmid darüber einig zu sein, daß wir Kontinentaleuropäer hier anders denken. Wir sagen: zum Eingriff und zur Kontrolle sind nur hoheitliche Befugnisse notwendig. Selbstverständlich müssen in der Fabrik Leute stehen, die darüber wachen, daß mit diesen Rohstoffen kein Mißbrauch getrieben wird. Selbstverständlich muß die entscheidende Behörde die Möglichkeit haben, sofort den Betrieb zu schließen, das Material sicherzustellen und alle Maßnahmen zu ergreifen, die verhindern, daß ein beginnender Mißbrauch fortgesetzt wird. Aber nach unserer Meinung ist es dazu nicht notwendig, einen privatrechtlichen Titel, das Eigentum in der Hand Zu haben. Denn dieser Eingriff geht über das Eigentum hinweg. Dieser Eingriff erfolgt, gleichgültig, wem die Kernbrennstoffe gehören, die Gegenstand dieses Mißbrauches sind.
Wenn ich also zu dem Ergebnis komme, daß es für die Durchführung der Kontrolle und für die Eingriffsmöglichkeiten, die wir alle wollen, gar nicht nötig ist, das Eigentum zu übertragen, dann glaube ich auch, daß es dem Sinn und dem Grundsatz der Monnet-Erklärung nicht widerspricht, wenn man hieraus Konsequenzen zieht. Es wäre also dann zur Durchführung des Grundsatzes der Kontrolle und des Eingriffs die Modalität des Eigentummonopols nicht erforderlich.
— Nein! Ich sage das deshalb so deutlich, weil es ganz klar ist, daß in diesem Zusammenhang noch andere Gedankengänge eine Rolle spielen, und ich sage dies auch deshalb, weil ich glaube, daß wir alles versuchen müssen, Herr Kollege Wehner, um hier zu einem Zusammenführen der Gegensätze zu kommen. Wir wollen nicht über doktrinäre Streitigkeiten am Schluß in eine Situation geraten, in der irgendein Partner nicht mehr weiter mitgeht. Wir haben es ja in Brüssel gesehen; man ist wenigstens so weit zu sagen: Setzt euch noch einmal zusammen und prüft diese Dinge wirklich. Wir wollen ja zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen.
Das Dritte, das im Augenblick noch erörtert wird, ist die Frage: welcher Zusammenhang besteht zwischen der Entstehung von Euratom und der Entstehung ,des gemeinsamen Marktes? Beide Projekte kommen aus den gleichen Quellen. Sicher besteht ein sehr starker sachlicher Zusammenhang zwischen der friedlichen Ausnutzung der Atomkraft und der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung Europas. Die Atomkraft ist ein Teil des Kraftsystems überhaupt. Sie soll eingesetzt werden, um die klassischen Energiequellen zu ergänzen, um weitere wirtschaftliche Expansionsmöglichkeiten in Europa zu schaffen. Richtig ist auch, daß davon ausgegangen wird, daß für Euratom ein spezieller gemeinsamer Markt zu errichten ist, der sich natürlich viel leichter durchführen läßt, wenn er in den allgemeinen gemeinsamen Markt eingefügt wird. Ich glaube also, daß sachliche, psychologische und politische Gesichtspunkte, der wirtschaftliche Zusammenhang und die gemeinsame Entstehungsgeschichte dafür sprechen, mit dem Vertrag über die Atomgemeinschaft auch die rechtlichen Grundlagen für den gemeinsamen Markt zu schaffen. Selbstverständlich wollen wir nicht abwarten, bis
der gemeinsame Markt realisiert ist. In diesem Sinne wurde die Resolution Monnet dem Bundestag vorgelegt. Die Fraktionen verlangen, daß Verhandlungen über die Schaffung von Euratom geführt werden. Sie wünschen aber auch, daß der allgemeine gemeinsame Markt mindestens in seinen rechtlichen Grundlagen zur Entstehung kommt. Um zu verhindern, daß wir uns über diese Dinge auseinanderleben, wurde ausdrücklich gesagt, daß wir die Entschließung Monnet hinsichtlich ihrer Grundsätze billigen. Wir bejahen die Aktivität, die in dem Komitee für die Vereinigten Staaten von Europa entfaltet wird. Das Komitee befaßt sich aber — ich betone das — nicht nur mit Euratom, sondern von vornherein und in der nächsten Sitzung weiter auch mit dem gemeinsamen Markt.
Damit bin ich bei dem gemeinsamen Markt, dem zweiten, wohl noch größeren, noch tiefergreifenden Projekt, das gegenwärtig diejenigen bewegt, die mit den europäischen Dingen zu tun haben. Was ist das, der gemeinsame Markt? Ich kann auf die technischen Dinge nicht näher eingehen. Ich will nur sagen: der Grundgedanke, der sowohl von der Gemeinsamen Versammlung und ihren Berichterstattern als auch von den Sachverständigen der Messina-Konferenz entwickelt wurde, ist klar. Er ist einfach, aber in seiner Bedeutung von einer großen Tragweite. Er sagt nämlich, diese sechs westeuropäischen Staaten sollen eine Zollunion bilden, und sie sollen über diese Zollunion hinaus einen gemeinsamen Markt schaffen, d. h. ein einziges Gebiet des freien wirtschaftlichen Austausches, also des Austausches von Waren, von Dienstleistungen, von Kapital und der Freizügigkeit der Arbeitskräfte.
Daß ein solches Projekt bei so verschiedenartiger Entwicklung dieser sechs Staaten nicht von heute auf morgen vollzogen werden kann, ist offensichtlich und einleuchtend. Aber auch die historisch verschiedenen Entwicklungen dürfen uns nicht entmutigen. Wir dürfen nicht sagen: Das ist einfach so geworden, das muß so bleiben. Nein; man ist im Begriff, wenn die nötigen politischen Voraussetzungen geschaffen werden können, einen großen neuen Weg zu gehen und in langen Etappen zum Ziele zu gelangen. Es sind drei Stufen von je vier Jahren, zusammen also zwölf Jahre, vorgeschlagen. Weiterhin ist vorgesehen, daß, wenn nach zwölf Jahren die völlige Zollunion und die völlige Gemeinschaft des Marktes noch nicht erreicht sind, noch einmal drei Jahre als Übergangszeit anzuhängen. Aber in spätestens 15 Jahren muß das ganze Projekt durchgeführt sein. In dieser Zeit sollen die Binnenzölle, die ganzen Kontingentierungen und Ausfuhrbeschränkungen völlig fallen.
Es ist nun nicht so, daß dies Spekulationen wären. Zu diesen sehr schwierigen Fragen der Aufhebung der Zölle, der Beseitigung der Kontingente usw. liegen ganz konkrete, realisierbare Vorschläge in Gutachten vor, die sich nicht in einem Wolkenkuckucksheim bewegen, sondern die geprüft sind und die nunmehr den Regierungen zur Entscheidung vorgelegt werden. Man kann natürlich nicht die Dinge völlig automatisch durchführen. Man will eine große Elastizität und einen gewissen Spielraum lassen. Aber dies ist wichtig: es darf keine endgültigen Durchbrechungen geben.
Solche Projekte lassen sich nicht ohne gewisse Anpassungen durchführen. Wie Herr Wirtschaftsminister Erhard soeben sagte, sind zu diesem
Zweck verschiedene Maßnahmen vorgesehen. Man hat einen Anpassungsfonds vorgeschlagen, der bei Betriebsstillegungen helfen soll, mit dessen Hilfe also die menschlichen und betrieblichen Schäden oder auch Schäden, die in den Wirtschaften der Länder entstehen können, von der Gemeinschaft ausgeglichen werden. Man hat einen Investitionsfonds vorgeschlagen, der mit sehr großen Mitteln arbeiten und dazu dienen soll, Projekte durchzuführen, die die Kräfte des Einzelnen übersteigen. Mit seiner Hilfe sollen in weniger entwickelten oder in solchen Gebieten, die in Schwierigkeiten kommen, Neuinvestitionen durchgeführt werden. Man hat vor allem großzügige Sicherheitsklauseln vorgesehen, die es ermöglichen, eine gewisse Übergangszeit ohne allzu große schmerzliche Eingriffe zu überwinden.
Was ich für sehr wesentlich halte, ist, daß diese Gemeinschaft, diese Zollunion — und das ist ein Faktum, das sehr stark gemeinschaftsbildend wirkt — nach außen, dritten Staaten gegenüber einen einheitlichen Zolltarif haben soll, wodurch sich ohne weiteres eine Verbindung der Zollpolitik der Mitgliedstaaten ergeben muß.
Man will auf keinen Fall eine Autarkie anstreben. Man will diese Gemeinschaft nicht dazu ausnützen, irgendwelche Kampfzölle gegen dritte große Gebiete zu schaffen. Das hindert schon das Bestehen des GATT, in dem sich diese Gemeinschaft, diese Zollunion befindet. Die Vorschriften des GATT schließen eine Erhöhung der Außenzölle aus. Die Gemeinschaft kann in ihren Zöllen nie höher gehen als der bisherige Durchschnitt. Sie kann nach unten variieren, was im Interesse der wirtschaftlichen Verflechtung mit der übrigen Welt sehr erwünscht ist.
Nur nebenbei will ich bemerken, daß auch die Landwirtschaft in diese Gesamtbindung, in diese Zollunion, in diesen gemeinschaftlichen Markt eingeschlossen werden soll. Dies wirft natürlich schwierige Probleme auf. Besonders umfassende Anpassungsmöglichkeiten werden hier notwendig werden.
Daß diese Gemeinschaft, wenn sie politisch durchgeführt werden kann, gemeinsamer Organe bedarf, versteht sich von selbst. Es ist unmöglich, Derartiges automatisch vor sich gehen zu lassen. Man will aber nicht in doktrinäre Auseinandersetzungen darüber eintreten: supranationaler Charakter — nicht supranationaler Charakter. Man will einen Ausschuß schaffen, der die Befugnis hat, im Rahmen der zu schließenden Verträge einzugreifen, der den Übergang, den Vollzug überwacht, der hier sachlich begrenzte, aber wirkliche Entscheidungen treffen kann. Diese Organe sollen unter einer parlamentarischen Kontrolle stehen.
Wichtig an dem Ganzen ist folgendes. Bei allen Anpassungsmöglichkeiten, bei allen Investitionshilfen ist es so, daß es kein Zurück geben darf. Der Plan muß als Einheit angenommen werden. Man kann also nicht nach vier Jahren sagen: Nun hört es auf, wir betreiben wieder eine andere Politik! Man kann auch nicht Gebiete herausnehmen, reservieren, außerhalb des gemeinsamen Marktes lassen. Die Einheit ist schon deshalb dringend erforderlich, weil sonst die Kraft, der heilsame Zwang verlorengehen. Wenn sich jeder, der betroffen wird, sagen kann: ich warte eine Zeit ab, es wird sich schon wieder alles ändern, dann würde der notwendige Strukturwandel, der erwünscht ist, nicht eintreten.
Meine Damen und Herren, ich will mich nicht mehr lange mit diesem Projekt auseinandersetzen. Ich will in dieser Diskussion nur noch einige konkrete Bemerkungen machen. Es ist erstaunlich, daß eine Kritik kommt, die sagt: Das alles geht nicht weit genug, wir müssen eigentlich viel mehr zugleich tun. Wir müssen die Zollpolitik, die Wirtschaftspolitik harmonisieren und ähnliches mehr.
Ich glaube, man sollte die Kritik nicht hier ansetzen, sondern sich darauf verlassen, daß gewisse Dinge mit Notwendigkeit eintreten. Die Harmonisierung der Wirtschaftspolitik wird die notwendige Folge dieser Gemeinschaft sein. Und so sagt auch die Entschließung, die in Brüssel von allen Fraktionen des Montanparlaments einstimmig angenommen worden ist, daß der gemeinsame Markt „die Koordinierung der Wirtschafts-, Sozial-, Währungs- und Steuerpolitik der Mitgliedstaaten notwendig macht". Die .Folgerungen aus dem Faktum des gemeinsamen Markts und der Zollunion werden sich im Laufe der Jahre ohne weiteres ergeben. Man soll diese realistische Haltung, nicht zu viel zu verlangen und nur das Mögliche zu erstreben, nicht dadurch in Gefahr bringen, daß man Bedingungen aufstellt, die einfach unerfüllbar und die aber auch nicht notwendig sind.
Eine besondere Rolle spielt hier immer die Frage der sozialen Lasten. Ich glaube, wir müssen hier ganz offen zusagen, daß wir von der Bundesrepublik aus im Interesse des großen Zieles selbstverständlich damit einverstanden sind, daß diese sozialen Lasten nicht differierend sein können. Wir wollen die Gemeinschaft nicht in einer solchen Form, daß der eine den anderen dadurch konkurrenziert, daß in den Lasten, die hier zu tragen sind,
gewisse Verschiedenartigkeiten bestehen. Ich glaube, wir müssen sagen, daß wir jede paritätische Formel aufnehmen, die für notwendig gehalten wird, um das große Ziel des Gemeinsamen Marktes zu erreichen.
Nun am Schluß ein paar kurze allgemeine Bemerkungen.
Nachdem die EVG gescheitert ist, nachdem auch die politische Integration nicht weitergeführt werden konnte, haben wir gegenwärtig Ansatzpunkte dafür, daß die Bestrebungen, eine Gemeinschaft und eine Einigung auf wirtschaftlichem Gebiet herbeizuführen, weiterkommen. Ich glaube, es ist realistisch, diese Ziele zunächst auf die sechs Staaten der Montanunion zu beschränken. Ein Darüberhinausgehen führt zu so großen Schwierigkeiten, daß es hoffnungslos wäre, das Projekt auszuweiten. Ich betone aber, daß diese Gemeinschaft nicht gegen das größere Europa gerichtet ist. Im Gegenteil: sie arbeitet für dieses größere Europa deshalb, weil, wenn in einem Teilgebiet eine stärkere Kraft entsteht, dies auch ohne weiteres der Gesamtheit zugute kommt.
Alte Vorstellungen wie die einer kontinentalen Hegemonie, eines Übergewichts, eines notwendigen Gleichgewichts sind durch die weltpolitische Situation völlig überholt. Wir können in unserem kontinentalen Europa nur noch erwarten, daß wir gemeinsam die Kraft finden, uns zu erhalten. Wir können. selbst wenn wir uns noch so eng zusammenschließen, gegenüber den großen Weltmächten nicht mehr führend werden und auch nicht daran denken, irgendwelche anderen europäischen Staaten zu konkurrenzieren. Wir wollen nur ein Zentrum der Einigkeit, ein Zentrum der Überwindung der Spaltung und der Isolierung schaffen. Denn das ist sicher: wir kommen, so gut die wirtschaftliche Entwicklung auch heute ist, über einen gewissen Stand der wirtschaftlichen Expansion nicht hinaus, wenn wir getrennt bleiben. Nur diese Zollunion, nur der Gemeinsame Markt schafft die Möglichkeit eines weiteren Fortschreitens. Wenn wir auch nicht so stark werden wie die Vereinigten Staaten von Amerika, so ist doch einleuchtend, daß ein Gebiet von 150 Millionen Menschen, selbst wenn es räumlich nicht so ausgedehnt und nicht so reich ist, eben weiter kommt als die getrennten Staaten.
Wir wissen genau, daß große Schwierigkeiten zu überwinden sind. Wir wissen genau, daß die Realisierung nicht allein von uns abhängt. Es wäre falsch, einem wirklichkeitsfremden Optimismus das Wort zu reden. Es wäre aber genauso verfehlt, gegenüber der europäischen Entwicklung in einen Pessimismus zu verfallen, der jedes Streben, jedes Handeln hindert.
Ich möchte am Schluß nur eines sagen. Sicher scheint mir das zu sein: Wir können nicht wieder Jahre der Ungewißheit auf uns nehmen, Jahre, in denen völlig offen ist, ob die Pläne realisiert werden können oder ob sie zum Scheitern verurteilt sind. Wir haben Verständnis dafür, daß es Hemmungen gibt — bei uns und bei anderen. Wir haben Verständnis dafür, daß die Kräfte des Alten sich wehren gegen den großen neuen Gedanken. Aber ich glaube, wir müssen die Entschlußkraft aufbringen, und wir müssen sie bald aufbringen. Denn die Zeit arbeitet nicht für uns. Noch haben wir in diesen westeuropäischen Staaten eine relativ günstige Wirtschaftssituation, eine Situation, die es leichter macht, die Opfer zu bringen, die notwendig sind. Wenn eine Krise käme oder wenn nur politische Veränderungen stattfänden, so würde das ganze geplante Werk in Gefahr kommen.
Deshalb meinen meine Freunde und ich, daß es unsere Aufgabe ist — und das entspricht auch den Entschließungen, die Ihnen vorliegen —, die Regierungen zu drängen, bald die notwendigen Verträge abzuschließen. Wenn aber diese Verträge da sind, müssen wir und die anderen Länder alles tun, um die endgültige Entscheidung der Parlamente schnellstens herbeizuführen.