Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unter den Gegenständen des Punktes 1 der heutigen Tagesordnung befindet sich auch der Antrag meiner politischen Freunde von der SPD-Fraktion Drucksache 1896 betreffend die Politik der Bundesregierung in den Angelegenheiten der Vertriebenen, Sowjetzonenflüchtlinge und Evakuierten. Der Punkt 1 dieses Antrages lautet:
Die Bundesregierung wird ersucht,
die weitere Tätigkeit des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegssachgeschädigte entsprechend der Bedeutung und der Dringlichkeit der Hilfsmaßnahmen für diese Geschädigtengruppen sicherzustellen.
Punkt 2 verlangt ,von der Bundesregierung einen Gesamtbericht über die bisher vollzogenen Eingliederungsmaßnahmen und die noch zu lösenden Aufgaben. Es geht also meinen politischen Freunden von der SPD-Fraktion dieses Hauses vor allem um die Grundsatzentscheidung, welchen Platz die Bundesregierung und die Mehrheit dieses Hauses den Anliegen der großen Geschädigtengruppen nach wie vor einzuräumen gewillt sind.
Es klafft hier nämlich offenkundig eine Lücke zwischen dem Wortreichtum der offiziellen Erklärungen
und den Taten der Bundesregierung auf diesen Sachgebieten.
Ich muß hier gleich mein tiefes Bedauern darüber aussprechen, daß die Behandlung des Vertriebenen- und Flüchtlingsproblems in diesem Hause unter einem so ungünstigen Stern steht. Die heutige Aussprache wäre nämlich schon seit längerer Zeit fällig gewesen.
Vielleicht hätte man dafür auch einen günstigeren Tag finden können. Das gilt auch für den Zwischenbericht des Herrn Bundesministers für Vertriebene, den wir soeben gehört haben. Detailzahlen — das möchte ich gleich hinzufügen —, die allein im parlamentarischen Raum stehen, sagen in dieser schicksalsvollen Angelegenheit doch zu wenig aus. Ich möchte auch davor warnen, aus der Berichterstattung über dieses viel verzweigte Sachgebiet eine Art Stoßgeschäft zu machen, bei dem man einmal in der Zeit den Mitgliedern dieses Hauses eine Fülle von Angaben an den Kopf wirft, mit denen dann die Presse und die ganze öffentliche Meinung zu wenig anzufangen wissen.
Man hatte heute jedenfalls das Empfinden, daß durch eine Fülle von Detailfragen und Detailangaben der ungünstige Eindruck verwischt werden sollte, den die zweimalige Verhinderung dieser Debatte im Lande draußen weithin ausgelöst hat.
Es ist immerhin bemerkenswert und muß hier gesagt werden: Wenn in vorgeschrittener Stunde, schon unter der Mahnung des Herrn Präsidenten zur Kürze, dazu noch an einem ungünstigen Tag, —
das ist doch nicht verborgen geblieben, meine Damen und Herren! Ich wünschte, daß diese Befürchtungen zu Unrecht bestünden.
Aber es ist doch eine Unterbewertung dieser großen staatspolitischen Aufgabe, wenn wir so zusammengedrängt, so unter Zeitdruck darüber sprechen müssen.
— Wir haben es erlebt, und ich muß das hier sagen, daß für die Berufsordnungen sehr ehrenwerter Stände,
deren Bedeutung wir voll anerkennen, ein ganzer Tag zur Verfügung stand
und daß da dem breiten Strom der Argumente in keiner Weise Einhalt geboten worden ist. Weil es darum geht, einmal gewisse Dinge von großer Bedeutung aufzuzeigen, will ich vorausschicken, daß diese Debatte, mag sie auch unter einem unglücklichen Stern stehen, im Lande draußen von einer großen Anzahl von Menschen mit Hoffen und Bangen verfolgt wird, weil man vom Bundestag erwartet, daß auch dieses Schicksalsthema nicht vernachlässigt wird.
Nun wollte ich mit dieser Feststellung die beachtliche Bilanz der bisherigen Eingliederungsmaßnahmen keineswegs schmälern. Das wäre unsinnig, weil auch die Opposition dieses Hauses in den Ländern und Kommunen daran beteiligt war, und ich glaube, sogar nicht unerheblich. Was uns aber mit schwerster Sorge erfüllt, ist die Wahrnehmung, daß die Bereitschaft, den permanenten sozialen Ausnahmezustand Westdeutschlands zur Kenntnis zu nehmen, im Abnehmen begriffen ist, und zwar auf allen Ebenen.
Es wäre pharisäisch, das Volumen der westdeutschen Selbsttäuschungen und auch einer zunehmenden Herzensträgheit nach Parteien aufschlüsseln zu wollen. Aber wir können den fatalen Eindruck nicht verhehlen, daß sich das Interesse der Bundesregierung für die sozialen Belange der großen Geschädigtengruppen des zweiten Weltkrieges im Zeichen des abnehmenden Mondes befindet.
Die Behandlung wahrer Existenzfragen des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte gerade in den letzten Monaten war dafür symptomatisch. Obwohl in dieser Aussprache Personalfragen sicherlich nur am Rande interessant sind, scheint mir die Feststellung im Interesse der Sache zu liegen, daß ,die Parlamentsscheu des gegenwärtigen Herrn Bundesministers für Vertriebene zum Teil dafür verantwortlich ist, daß die Öffentlichkeit den ganzen Problemkreis sozusagen in die falsche Kehle bekommen hat. Das ist die Hauptursache dafür, daß wir mit unserem Antrag heute die Frage der Funktionsfähigkeit des
Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte aufwerfen. Ich glaube damit an einer wichtigen Nahtstelle der Zusammenhänge angelangt zu sein, die es hier klarzustellen gibt. Es wäre doch die erste Aufgabe des Chefs eines so wichtigen Bundesressorts, das Wohlwollen und sogar die Bundesgenossenschaft dieses Hohen Hauses zu suchen und zu finden, was seinem Vorgänger in einem bemerkenswerten Ausmaße gelungen ist. Der 2. Bundestag tagt nun schon das dritte Jahr; doch abgesehen von der routinemäßigen Pflichtdebatte anläßlich der Haushaltsberatungen, die gewiß nützlich ist und viele gute Anregungen bringt, ist dies die zweite Möglichkeit, dieses große Aufgabengebiet anzusprechen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß sich der Herr Bundesverkehrsminister eine viel bessere parlamentarische Tribüne zu sichern weiß. Ich weiß nicht, wie es kommt; aber er hat jedenfalls das Glück, daß ihm von seiner eigenen Fraktion rechtzeitig Große Anfragen gestellt werden, die manchesmal auch Suggestivanfragen sind, die ihm dann die Möglichkeit bieten, vor diesem Hause eine umfassende Berichterstattung über die Probleme und Sorgen seines Ressorts vorzunehmen. So kommt es, daß der 2. Bundestag über die Fragen der Binnenschiffahrt und über die Aussichten der zivilen Luftfahrt viel besser unterrichtet worden ist als über die Zustände in den Flüchtlingslagern und über die Problematik der inneren Umsiedlung.
Dann komme ich zu einigen Illustrationsfakten, welche die Notwendigkeit einer Reaktivierung der Vertriebenen- und Geschädigtenpolitik der Bundesregierung noch unterstreichen. Im Namen vieler Interessenten, die ungeduldig auf eine Entscheidung der Bundesregierung warten, möchte ich die Frage stellen: Wie steht es denn in Wirklichkeit um die Fortsetzung der Bundesumsiedlung? Es ist uns immerhin aufgefallen, daß in der Großen Anfrage der Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion plötzlich ein neuer Begriff gefunden wird.
Es ist nicht mehr von Bundesumsiedlung die Rede, sondern ganz bescheiden von der „übergebietlichen Familienzusammenführung".
Soll das — diese Frage richte ich an die Kollegen von der anderen Seite des Hauses — der äußere Ausdruck dafür sein, daß sich der Vertriebenenflügel der CDU/CSU-Fraktion auf dem Rückzug befindet?
Meine Damen und Herren, ich weiß genau, warum ich diese Fragestelle. Denn die heutige Debatte hat im Oktober vorigen Jahres in Berlin ein Vorspiel gehabt. Es war merkwürdigerweise der Herr Bundesfinanzminister, der dort — ich weiß nicht, ob im Einvernehmen mit seinem Kollegen vom zuständigen Ressort oder nicht — in der Frage der Bundesumsiedlung sehr weitgehende Erklärungen abgegeben hat. Ich darf, Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung die entscheidenden Sätze der Berliner Rede des Herrn Bundesfinanzministers zitieren. Er sprach von der Bundesumsiedlung und sagte:
Aber wer Augen hat zu sehen und Ohren hat
zu hören, der soll sich heute mit mir vielleicht
einmal in ein solches, früher als überlastetes
Notstandsgebiet bezeichnetes Gebiet hinein begeben und dort eine Rede halten, die staatlich gelenkte Umsiedlung müsse weiter getrieben werden! Ich wünsche ihm viel Glück. Heute ist es Gott sei Dank so geworden, daß die Leute auch im letzten Grenzdorf draußen die Arbeitskräfte, die noch vorhanden sind, zu behalten wünschen ...
Ich lenke die Aufmerksamkeit des Hohen Hauses auf die interessante linguistische Unterscheidung zwischen „Leuten" und „Arbeitskräften".
Besser hätte man wohl nicht ausdrücken können, daß man die noch arbeitslosen Heimatvertriebenen sozusagen als Objekte der regionalen Wirtschaftspolitik betrachtet.
Wir leben aber nicht mehr im Zeitalter der Schollengebundenheit. Noch mehr hat mich befremdet, daß der Herr Bundesfinanzminister glaubte, in der Behandlung eines solchen Themas noch ein Stück Ironie einflechten zu können, indem er sagte — es ist nur ein Satz, den ich hier anführe —:
Der ist ein schlechter Jäger, der dann, wenn der Hirsch erlegt ist, noch immer weiter auf den toten Hirsch schießt.
Ich glaube, meine Damen und Herren, auch die Kollegen von der CDU-Fraktion, denen diese Dinge am Herzen liegen, werden sich da nicht ohne weiteres als schlechte Jäger hinstellen lassen,
denn die Zahlen über die überhöhte Arbeitslosigkeit der Vertriebenen sagen aus, daß dieser Hirsch noch lange nicht tot ist
und daß er auch noch ganz munter im Bayerischen Wald herumläuft, also gerade im Wahlkreis des Herrn Bundesfinanzministers.
— Herr Kollege, wenn Sie mir diese bescheidene Bemerkung gestatten: auf dem Gebiet habe ich schon einige Erfahrungen gesammelt.
— Hier wird eingeworfen: Industriestreuung! Lassen Sie mich vom Standpunkt einer guten Erfahrung hierzu feststellen, es ist vielfach ein Ausweichen vor dem Thema, wenn man sagt: Wir wollen nicht umsiedeln, sondern Arbeit herschaffen.
Wenn für solche Notstandsgebiete ein Sanierungsprogramm auf kurze Sicht existiert, kann man mit diesem Argument operieren, wir haben es auch in Hessen im Kreis Eschwege und im Kreis Marburg an der Lahn versucht — dort ist saniert worden, bis eben die überhöhte Arbeitslosigkeit verschwunden war —; aber man darf die arbeitslosen Heimatvertriebenen in den Notstandsgebieten nicht auf eine Arbeitsbeschaffung vertrösten, die noch gar nicht unterwegs ist.
Dieses Thema ist sehr wichtig, weil es in die Auffassungen des Kabinetts hineinspielt, die hier von einiger Bedeutung sind. Ich berufe mich in diesem Zusammenhang auf eine recht zuverlässige Quelle, auf einen Bericht des „Münchner Merkur" vom 18. Dezember vorigen Jahres, worin gesagt wurde, daß auf dem Höhepunkt der Beschäftigungslage in Bayern noch „eine beträchtliche Reserve an Arbeitslosen" zur Verfügung stand.