Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat soeben mit der ja nicht an uns als Opposition, sondern an Sie, meine Damen und Herren, die Sie die Koalition bilden, gerichteten Bemerkung geschlossen, daß er diese Frage, nämlich des Rücktritts der Herren Kraft und Oberländer, zum Gegenstand einer Koalitionsbesprechung machen werde. Nun, darüber kann man sich nur verwundern, nachdem der Herr Bundeskanzler vor einigen Tagen doch bereits verfügt hat, daß die beiden Herren ihre Ämter abzusitzen haben.
Gerade an dieser letzten Bemerkung sieht man, worum es geht: nicht um Rechtsfragen, sondern um Fragen des politischen Stils und um die Achtung, die der Herr Bundeskanzler seiner eigenen Koalition entgegenbringt.
Der Herr Bundeskanzler hat uns geraten, wir sollten die verfassungsrechtlichen und die politischen Fragen auseinanderhalten. Das ist ein guter Rat. Aber man darf dann nicht das tun, was der Herr Bundeskanzler getan hat, nämlich auf politische Einwendungen mit rechtlichen Argumenten antworten und auf rechtliche Einwendungen mit politischen antworten.
Dasselbe gilt für den Herrn Kollegen Hoogen, der uns hier ein Kolleg gehalten hat über Dinge, die kein Mensch bezweifelt.
Kein Mensch bezweifelt, daß es keine rechtliche Abhängigkeit der Bundesminister von dem Bundestag gibt. Das ist klar aus dem Grundgesetz zu lesen; das ist einhelliger Wille des Parlamentarischen Rates gewesen. Also wozu diese Vorlesung? Übrigens mit dem Ergebnis, daß die Bundesminister hier in einer Art und Weise hingestellt werden, als ob sie eigentlich für nichts und wieder nichts eine große Rente bezögen und im übrigen nichts zu sagen hätten.
Das dient dem Rang und dem Ansehen der Bundesminister nicht, wenn es so vorgebracht wird, wie das hier geschehen ist.
Es ist völlig richtig, was Herr Katz gesagt hat, daß die Bundesminister eine Art Untergebene des Bundeskanzlers sind. Das ist auch absolut nichts Ehrenrühriges; das ist in Weimar nicht anders gewesen. Es muß immer einen Primus inter pares geben, und der Herr Bundeskanzler hat eine gewisse Führungsaufgabe dadurch, daß er die Richtlinien der Politik bestimmt. Das ist also alles keine Offenbarung, was uns hier vom Herrn Hoogen vorgetragen worden ist, und hat mit der Sache gar nichts zu tun. Die Sache liegt in einem ganz anderen Punkte.
Ich will nur noch zwei Bemerkungen zu den Ausführungen des Herrn Kollegen Hoogen machen, ehe ich auf die Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers zurückkomme. Herr Kollege Hoogen hat gesagt, man habe „nicht einmal" das Volk angerufen, um das Bonner Grundgesetz bestätigen zu lassen, weil man auf eine mittelbare Demokratie hinausgewollt habe. Ich möchte dieser Legendenbildung hier keinen Vorschub leisten. Der Grund, warum man das Bonner Grundgesetz von den Landtagen ratifizieren ließ und nicht zur unmittelbaren Volksabstimmung gestellt hat, ist schlicht der, daß Deutschland damals nicht nur geteilt und besetzt war, sondern auch der heute bei manchen vergessene Wille geherrscht hat, es nur zu einem Provisorium kommen zu lassen, hier dieser Ordnung noch nicht den Charakter des Endgültigen zu geben, den sie durch eine Volksabstimmung bekommen hätte.
Ich warne davor, dem Worte „Demokratie" irgendwelche Zusätze beizufügen, „unmittelbar" oder „mittelbar" und ähnliches mehr. Das Wesen der Demokratie als Selbstbestimmung des Volkes und als Staatsgewalt, die immer nur vom Volke ausgehen kann, verträgt keinen Zusatz oder Beisatz, weder den, Volksdemokratie zu sein, noch den, Kanzlerdemokratie zu sein.
Nun zu einer zweiten Bemerkung des Herrn Kollegen Hoogen, über die ich mich nicht ereifern will. Herr Kollege Hoogen hat gesagt, was hier vertreten und gefordert werde, sei nur im Wege der Verfassungsänderung zu erreichen, und dann komme man zum Blocksystem der Verfassung der „DDR". Meine Damen und Herren, ich muß im weiteren Verlauf meiner Ausführungen noch auf einen Begriff kommen, der hierbei auch schon eine Rolle spielt; das ist der Begriff der politischen Gesittung. Ich glaube, daß die politische Gesittung es in diesem Hause verbieten sollte, einer anderen demokratischen Fraktion oder einem Kollegen in diesem Hause, der einer demokratischen Fraktion angehört, irgend etwas zu unterstellen, was ihn ostverdächtig macht oder ihn in den Verdacht bringt, er habe etwas angestrebt, was dem östlichen totalitären Regime entspreche. Mehr will ich dazu nicht sagen.
Ich komme auf Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers zurück, der zwei Grundsätze aufgestellt hat, einmal den, daß ein Bundesminister nach dem Grundgesetz nicht verpflichtet sei, sein Amt zur Verfügung zu stellen, und zweitens den, daß der Herr Bundeskanzler bei der Auswahl seiner Mitarbeiter frei sei. Das sind rechtliche Antworten
auf politische Einwendungen. Ich bleibe aber jetzt erst einmal beim Rechtlichen, nur in ganz kurzer Ergänzung dessen, was der Herr Kollege Becker schon so ausgezeichnet vorgetragen hat.
Der schwerste Fehler, den man bei dem Verständnis einer Verfassungsurkunde begehen kann, ist der, eine einzelne Vorschrift herauszugreifen — so wie man das in Weimar mit dem Art. 48 getan hat — und diese eine Vorschrift auszuweiten und verstehen zu wollen ohne Zusammenhang mit den anderen. So kann man weder den Art. 64, der besagt, daß der Bundeskanzler die Bundesminister ernennt und entläßt, isolieren noch etwa gar das konstruktive Mißtrauensvotum. Die Bestimmungen des Grundgesetzes darüber fangen an mit der Bundesregierung. Dieses Wort fällt, bevor überhaupt vom Bundeskanzler die Rede ist, im Art. 62. Dort heißt es, die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern. Sie ist also für sich ein besonderes Organ, in das auch der Bundeskanzler eingegliedert ist, soweit er nicht die Richtlinienbestimmung hat. Nun gibt es einen wesentlichen Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung. In der Weimarer Reichsverfassung bekam der Reichskanzler seine Legitimation dadurch, daß das Staatshaupt, der Reichspräsident, ihn ernannt hat, ein Weg, der zur Präsidialkabinettsbildung geführt hat, und ein Weg, der den Reichskanzler insoweit in gewisser Weise sogar unabhängig vom Reichstag gemacht hat. Das hat das Bonner Grundgesetz nicht gewollt. Darum beginnen die Bestimmungen, denen die Vorschrift über die Ernennung und Entlassung von Ministern nachfolgt, damit, daß der Bundeskanzler vom Bundestag gewählt wird. Das wird mit Recht in der Rechtslehre dahin ausgelegt, daß nicht der Akt der Ernennung durch den Herrn Bundespräsidenten, sondern diese Wahl den Bundeskanzler legitimiert, und zwar in einer ganz besonderen Weise, nämlich dahin, daß er dauernd ein Gewählter bleibt. Das ist ein ständig gegenwärtiger und unaufhörlicher Vorgang, der sich auch mit dem Art. 67 verkoppelt. Dabei handelt es sich nicht etwa nur um die Gestaltung der Regierungsbildung, sondern auch des Regierens selber, das heißt, daß von einem gewählten Kanzler zu regieren ist.
In diesen Zusammenhang gehört der Art. 64, zu dem der Bonner Kommentar — ein rechtswissenschaftlicher Kommentar — bezüglich des Vorschlags des Kanzlers auf Ernennung des einen oder anderen Ministers sagt, daß „dieser Vorschlag eine bedeutsame politische Entscheidung ist, d. h. eine verantwortliche Entscheidung vor allem gegenüber den politischen Parteien, die dem Bundeskanzler mit der Wahl das Vertrauen auch für eine den Parteien genehme Regierungsbildung gegeben haben". Es gibt also hier durchaus diesen rechtlichen Zusammenhang auch zwischen der Kanzlerwahl und der politischen Regierungsbildung für die Gestaltung der Bundesregierung.
Gerade die größte Fraktion des 2. Bundestages hat sich doch deshalb oft und oft auf dieses verfassungsrechtliche und politische Formprinzip berufen, indem sie die Frage der Koalitionstreue aufgeworfen hat. Welchen Sinn könnte es denn haben, von der Koalitionstreue zu sprechen und sie zu fordern, falls nicht die Bundesregierung in ihrer Gesamtheit und die Fraktionen der sie tragenden Mehrheit in einer Wechselbeziehung der gegenseitigen Legitimation bleiben?
Sonst sollte man nicht von Koalitionstreue, sonst sollte man statt dessen von Koalitionsgehorsam reden.
Warum geht uns das etwas an? Aus dem Grunde, weil hier eine Tradition geschaffen werden könnte, die wir für schlecht halten, aber vor allen Dingen deshalb, weil das, was hier geschieht, auf eine Entwertung der politischen Fraktionen hinausläuft, auf eine Entwertung der politischen Parteien. Die Freiheit ist nun einmal mit der Parteibildung und mit dem Wesen und der Existenz politischer Parteien in einer Demokratie unlösbar verknüpft. Darum haben wir dieses Interesse, hier die politischen Parteien nicht in einer solchen Weise entwerten zu lassen, wie es geschehen ist.
Darum ist es politisch nicht richtig, daß eine Freiheit des Bundeskanzlers bei der Auswahl seiner Mitarbeiter besteht, weil er immer ein gewählter Kanzler bleibt. Dieses ganze Spiel kann ja nur deshalb gespielt werden, weil die eine Fraktion der Koalition, der der Herr Bundeskanzler selber angehört, allein die Mehrheit hat,
und ich glaube, daß Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, nicht mitspielen würden, wenn der Herr Bundeskanzler aus Ihrer Fraktion austräte und sagte, er könne gleichwohl Kanzler bleiben.
Das sind die Argumente des Herrn Bundeskanzlers, die ich damit einmal ad absurdum führen will, weil er juristische Antworten auf politische Fragen gibt.
Nun zu erzählen, daß ein Bundesminister verfassungsrechtlich nicht verpflichtet sei, zurückzutreten, ist doch genauso gut, wie wenn uns gesagt würde, daß er nicht verpflichtet sei, einen besonderen Anzug zu tragen oder irgend etwas Derartiges zu tun. Das ist doch gar nicht das, worum es geht. Es handelt sich nicht um die rechtliche Struktur der Bundesregierung im Innenverhältnis zwischen Bundeskanzler und Bundesminister. Es handelt sich um die politische Beziehung zwischen der Bundesregierung und dem Bundestag als dem Parlament. Das ist das Thema, um das es geht,
ein Thema, zu dem Sie manches nicht in den Artikeln des Grundgesetzes finden, weil sich das nicht paragraphieren läßt. In der Mutter der Parlamente, im britischen Unterhaus, gibt es überhaupt keine geschriebene Verfassung. Es wäre aber dort ein Fall Oberländer-Kraft niemals vorstellbar gewesen;
denn die Engländer regieren mit dem, was man politische Gesittung nennt. Der Fall Kraft-Oberländer zeigt wieder einmal, daß wir darin noch ein unterentwickeltes Gebiet sind.