Rede von
Dr.
Eugen
Gerstenmaier
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren! Zu Beginn der-ersten Plenarsitzung im neuen Jahr darf ich Sie herzlich willkommen heißen. Die Glückwünsche sind ausgetauscht. Die Arbeit hat wieder begonnen. Für den Bundestag wird auch das Jahr 1956 viel Arbeit bringen. Dieses Haus wird von allen seinen Mitgliedern und von allen seinen Mitarbeitern in der Verwaltung und in den Fraktionen viel Mühe und Hingabe verlangen müssen. Die Festigung des freiheitlichen Rechtsstaates, die Wiedervereinigung unseres Volkes, die Sicherung des inneren und des äußeren Friedens fordern von Parlament und Regierung nicht nur Mut und Entschlossenheit, sondem auch Weisheit und Mäßigung. Wir beginnen dieses Jahr mit einem neuen Arbeitsturnus. Ich erbitte auch aus diesem Anlaß Ihrer aller Einsicht und Mithilfe für die zweckmäßigste Gestaltung unserer Arbeit.
Diesem Willkommensgruß an Sie alle darf ich ein Wort des Grußes und des Glückwunsches an den Herrn Bundeskanzler hinzufügen.
Ich kann mir vorstellen, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, daß Sie nicht vorbehaltlos glücklich darüber sind, daß Sie heute, eine Woche nach Ihrem 80. Geburtstag, immer noch Glückwünsche entgegennehmen sollen.
Sie sind in Deutschland und im Ausland hoch gefeiert worden; aber ich denke, daß Sie es diesem Hause doch erlauben, auch heute seinem Brauch zu folgen, um so mehr, als unsere Grüße und Glückwünsche diesmal nicht nur -dem Chef der Bundesregierung, sondern vor allem dem ältesten Mitglied des Deutschen Bundestages gelten.
Sie sind von vielen für vieles- zu Recht gefeiert worden. Wenn sich aber dieses Haus heute vor Ihnen in Ehrerbietung neigt, so ist es ein Akt der Kollegialität gegenüber seinem Senior, der im biblischen Alter noch die schwerste Würde und Bürde Deutschlands trägt. Sie, Herr Bundeskanzler, kennen -dieses Haus zu gut, um nicht zu wissen, daß dieser Augenblick des ehrerbietigen Glückwunsches Freunde und Gegner Ihres staatsmännischen Wirkens vereint. Damit gewinnt diese Stunde aber auch ihren eigenen, Sie als den, der Sie sind, besonders ehrenden Gehalt.
In diesem Hause sind harte Kämpfe ausgetragen worden für und gegen Ihre Politik, aber auch für und gegen Sie selbst. Das ist natürlich, meine Damen und Herren; denn was ist ein Mann ohne seine Sache, und was ist eine Sache ohne ihren Mann! Nun, hier vereinen sich Ihre Freunde und Gegner in der Anerkennung dessen, daß die Sache, die Sie vertreten, in Ihnen nicht nur ihren Mann, sondern ihren Meister gefunden hat.
Der sachliche Gegensatz bleibt, und dieses Haus wird noch manchen harten Gang erleben. Aber das Parlament kann sich dazu nichts Besseres wünschen, als daß das Ringen um -den rechten Weg Deutschlands in gegenseitiger Achtung erfolge und gesegnet sei. Das Parlament kennt kein Oben, und es kennt kein Unten; es kennt nur das Nebeneinander. Denn es muß jedem seiner Mitglieder nicht nur das Recht, sondern auch die Chance bieten, aufzustehen und mit seiner eigenen Stimme das zu verfechten, was nach seiner Meinung Recht und Freiheit für das Wohl des Ganzen gebieten. Hier in diesem Hause wird die Regierung unseres Staates geboren, aber hier regiert sie nicht, sondern hier wird sie ihrerseits dem Gesetz unterworfen. Das Parlament des freiheitlichen Rechtsstaates ist ein Ort der strengen Bewährung für -die Mitglieder der Regierung wie für jedes einzelne Mitglied des ganzen Hauses. Hier erringen nicht nur Geschicklichkeit, taktische Kunstfertigkeit, Fleiß und Überzeugungskraft ihre Erfolge, nein, hier werden auch der geschichtliche Rang und die geschicht-
liche Berufung eines Mannes im Feuer der Bewährung sichtbar. Nicht wenige Mitglieder dieses Hauses, aus allen Fraktionen, politische Freunde und politische Gegner, haben an Ihrem 80. Geburtstag, Herr Bundeskanzler, auch unter dem Eindruck Ihres parlamentarischen Wirkens im Bundestag dem Gefühl der Dankbarkeit und dem Respekt vor dem geschichtlichen Rang, den Sie erreicht haben, einen eigenen öffentlichen Ausdruck verliehen.
Ich habe die Ehre, Herr Bundeskanzler, das heute für den ganzen Bundestag zu tun. Mit Ihnen hat ein Mann die Führung Deutschlands übernommen, der drei Epochen der deutschen Geschichte an sich selbst erfahren und erlitten hat und der ihr geläutertes Erbe gelassen in sich vereint. Sie haben das Glück gehabt, auf kargem Boden zu wachsen und die Mühsal und Demut des Kampfes um das tägliche Brot in früher Jugend kennenzulernen. Ein untrüglicher Blick und ein fester Maßstab für den Wert der eigenen Arbeit und die Leistung anderer ist Ihnen bis heute geblieben. Der bloße Schein hat Sie nie wirklich beeindrucken, geschweige gar gewinnen können, auch wenn er in unserer propagandafreudigen Zeit noch so hoch veranschlagt wird. Als sich Ihre ersten Vorstellungen vom Staat und von der Regierung des Staates zu bilden begannen, da war Bismarck Reichskanzler und Deutschland war eine aufstrebende Weltmacht. Sie wuchsen auf in einer Welt der festen nationalen Rang- und Wertordnung. Aber früh wurden Sie des Wetterleuchtens gewahr, in dem sich die Stürme ankündigten, die Ihre besten Mannesjahre durchtobten und mit deren Hinterlassenschaft Sie nun seit Jahr und Tag mühsam und heroisch fertig zu werden versuchen.
Aber Sie haben nicht nur Kämpfe, Krisen und Katastrophen gesehen, nein, Sie sind auch Zeuge großer Ereignisse von bleibender Bedeutung geworden. Sie sahen nicht nur den Welterfolg der deutschen Wirtschaft und Wissenschaft, sondern Sie sahen auch den Aufbruch des deutschen Arbeitertums, und Sie wurden Zeuge seines Ringens. Sie haben gesehen, daß es dabei nicht nur um das Brot für die Armen ging, sondern mehr noch um die Freiheit und das Recht, am Vaterland als Gleiche unter Gleichen teilzuhaben. Sie haben gesehen, wie sich Deutschlands Arbeitertum der Gefahr entrang, als graue proletarische Masse Lenin und seinen Gehilfen in die Hände zu fallen, und wie es als eine staatstragende, verantwortungsbewußte Kraft im Leben der Nation in Erscheinung getreten ist.
Aus der Frühzeit Ihres Werdens scheint mir aber noch ein zweites bedeutungsvoll zu sein, das später Sie und viele von uns, die wir hier versammelt sind, betroffen hat. Ich meine den Zusammenstoß von Kirche und Staat im sogenannten Kulturkampf. Mögen die politischen Zusammenhänge auch heute noch verschieden beurteilt werden, sicher ist, daß sich in jener Auseinandersetzung zum erstenmal in der neueren Geschichte Deutschlands ein Vorgang angekündigt hat, der 50 Jahre später unter der Diktatur Hitlers nicht nur den deutschen Katholizismus, sondern die Kirchen und das deutsche Volk überhaupt vor eine ernste Gewissensfrage unserer Zeit, nämlich vor die Frage nach der Grenze des Staates gestellt hat. Das Thema und seine fundamentale Bedeutung für die gesetzgebende Gewalt im deutschen Volk ging Ihnen schon in der Zeit Ihres politischen Werdens auf. Als Parlamentarier und verantwortlicher Staatsmann sind Sie sich seiner bewußt geblieben.
Ihr eigenes politisches Wirken über den Bereich Ihrer heiteren und großzügigen Vaterstadt Köln hinaus entfaltete sich nach dem ersten Weltkrieg in der Weimarer Zeit. Deutschland hatte aufgehört, eine Weltmacht zu sein, aber es vermochte sich zwischen Ost und West als eine noch immer ansehnliche Großmacht zu behaupten. Dann kam Hitler und damit auch für Sie die Entfernung aus dem Amt, Bedrückung und schließlich die Gefängniszelle. Es ist nicht ohne Ironie, Herr Bundeskanzler, daß Sie nach dem gesetzmäßigen Ablauf der deutschen Katastrophe wieder auf Ihrem alten Platz als Oberbürgermeister von Köln begonnen haben. Sie haben immer einen Hang zur Polis, zum überschaubaren Bereich der gewachsenen Stadt gehabt, und es bedurfte nach einem Wort Hegels erst einer List der Geschichte,
um Sie auf die Bahn zu bringen, auf der Sie das Vertrauen der Mehrheit des deutschen Volkes und ohne Zweifel die hohe Achtung der Weltöffentlichkeit gewonnen haben.
Diese Stunde gehört trotz allem nicht der politischen Würdigung Ihrer persönlichen Leistung im Bundestag und in der Bundesregierung. Aber vielleicht erlauben Sie mir doch zwei Bemerkungen, von denen ich meine, daß sie vom ganzen Hause bejaht werden könnten.
Unter Ihrem Präsidium hat der Parlamentarische Rat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ausgearbeitet. Mit der verfassungsrechtlichen Einführung des sogenannten konstruktiven Mißtrauensvotums ist ein entscheidender Schritt über die Weimarer Verfassung hinaus getan worden. Daß dieser Schritt von großer Bedeutung für die Festigung des freiheitlichen deutschen Rechtsstaates wurde, ist in jedermanns Bewußtsein. Von besonderer Bedeutung aber erscheint mir die Tatsache, daß dieser Schritt übereinstimmend und gemeinsam von allen großen Parteien getan wurde und daß seine Richtigkeit auch heute noch von ihnen allen anerkannt wird. Das konstruktive Mißtrauensvotum erfordert ein hohes Maß an staatsmännischem Denken und staatsmännischer Disziplin bei der Regierung, bei der Koalition und bei der Opposition. Es ist nicht leicht, der inneren Verpflichtung einer solchen Einrichtung immer gerecht zu werden. Aber es besteht eine breite Übereinstimmung in diesem Hause darüber, daß Sie dem verfassungsrechtlich besonders gestärkten Amt des Bundeskanzlers durch Ihre eigene Person eine noch weit höhere Autorität zu geben vermochten. Es ist unzweifelhaft, meine Damen und Herren, daß der ausgeprägt föderalistische Staatsaufbau der Bundesrepublik Deutschland eine zusammenhaltende, kraftvolle Führung des Bundes erforderlich macht, und es scheint mir ebenso unzweifelhaft zu sein, daß die parlamentarische Demokratie in unserer Zeit nur dann recht verstanden ist, wenn sie den freiheitlichen Rechtsstaat gewährleistet und zeitgemäß weiterzubilden vermag. In diesem Staat müssen die Gebote des Rechtes immer höher stehen als die wechselnden Ansprüche wechselnder Mehrheiten, und in diesem Staat wird die Freiheit nur dann fest gegründet sein, wenn er auch der Autorität den ihr gebührenden Platz einräumt. Hitler in uns und Hitler unter uns wird nicht mit der Proklamation der Führungslosigkeit, mit der Verdächtigung oder Verächtlichmachung der Autorität bekämpft, sondern
nur durch die freie Bejahung und das Wirksamwerdenlassen der verfassungsmäßigen, legitimen Führung unter der Kontrolle des Parlaments.
Und eine zweite Bemerkung! In Ihrer Gestalt ist für viele von uns und für viele im deutschen Volk unsere Verbindung mit der eigenen Geschichte gegenwärtig und sichtbar geworden. Wir Deutsche leiden unvergleichlich mehr als jedes andere Volk aus dem europäisch-atlantischen Kulturkreis unter unserer nichtbewältigten jüngeren Geschichte. Es ist unsere eigene Geschichte der letzten 80 Jahre, die uns in Ihrer Gestalt gegenwärtig wird. Sie, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, sind für viele von uns eine Brücke aus der Vergangenheit in die Gegenwart und in die Zukunft Deutschlands. Sie haben das Auf und Ab unserer geschichtlichen Entwicklung, ihre Höhen und ihre Tiefen, ihre Größe und ihr Elend erfahren und erlitten. Sie haben an der Wandlung und Läuterung unseres nationalen Selbstbewußtseins nicht nur für Ihre Person, sondern auch in Ihrem politischen Handeln stellvertretend für das ganze deutsche Volk teilgenommen. Sie haben wie kein anderer der Welt einen Achtung gebietenden Eindruck von diesem kaum in Worte zu fassenden inneren Vorgang in Deutschland zu vermitteln gewußt. Sie haben für viele von uns, insbesondere für die Jüngeren unter uns, in Ihrer Person die Einheit der deutschen Geschichte wieder zur Darstellung gebracht. Diese unsere Geschichte ist nicht die Geschichte der Bundesrepublik; sie beginnt nicht im Jahre 1949.
Unsere Geschichte ist und bleibt im Guten wie im Bösen als Gabe wie als Aufgabe die Geschichte ganz Deutschlands, zurück in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft.
So etwas wie ein bundesrepublikanisches Geschichtsbewußtsein kann und darf es gar nicht geben. Es kann und darf nur geben ein geschichtliches Bewußtsein der ganzen deutschen Nation, ein dankbares Gefühl für die Größe dieser Geschichte und eine klare Einsicht auch in ihr Elend und die Notwendigkeit ihrer Wandlung. Wenn in irgend etwas, dann besteht darin die Unteilbarkeit Deutschlands, darin gerade mehr denn in irgend etwas anderem: in einem solchen treuen und redlichen Verhältnis zu unserer eigenen nationalen Geschichte und damit zu dem, was wir als Volk in großer Leistung, aber auch in Schuld, in dämmernder Einsicht und läuternder Demut geworden sind.
Diese Einsicht in die geschichtliche Unteilbarkeit Deutschlands ist von Bedeutung für die schwere Aufgabe, der Sie wie wir hier dienen: der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands. Aber diese selbe Einsicht ist auch von nicht geringerer Bedeutung für unsere Bereitschaft, unsere Situation zwischen den Völkern nüchtern zu erfassen und unter bewußter Absage an alte Träume und Vorstellungen immer von neuem bereit zu sein, den Weg in eine neue gemeinsame Ordnung der Völker Europas mitzugehen.
Sie, Herr Bundeskanzler, gehen nun in das neue, in das neunte Jahrzehnt Ihres großen und gesegneten Lebens, im Kampfe für Aufgaben und Lösungen, mit denen das Schicksal von Millionen
Menschen in Deutschland, in Europa, in der Welt verknüpft ist. Sie kämpfen um die Einheit unseres Vaterlandes, Sie ringen um eine neue Friedensordnung für den alten Kontinent, und Sie stehen und fallen gleich uns mit der Bewahrung der Freiheit in einer befriedeten Welt. Unser Wunsch für Sie, Herr Bundeskanzler, faßt sich darin zusammen, daß Gottes Güte es Ihnen gelingen lasse.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.