Rede von
Margot
Kalinke
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Der Herr Präsident hat richtig unterstellt.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Es ist mir eine Ehre, den Antrag der Fraktion der Deutschen Partei, Drucksache 1822, begründen zu dürfen. In der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages in der vergangenen Woche ist der Sozialetat verhältnismäßig kurz gestreift worden, und über die Ausgaben, soweit sie für die Vorbereitung der Sozialreform und für Maßnahmen der Sozialreform bereits im Haushalt vorgesehen waren, wurde nicht gesprochen. Es bleibt anzunehmen, daß das der zweiten Lesung des Haushaltsplans vorbehalten bleiben soll. Um so mehr ist in der öffentlichen Diskussion auf die Höhe des Sozialetats hingewiesen worden, bei dessen Festsetzung der Bundesfinanzminister erklärt hat, daß der Bund eine Umschichtung von Einkommen von den sehr begünstigten Schichten der Bevölkerung vornimmt, uni den Sozialetat zu sichern.
Bei der Betrachtung des Etats im Zusammenhang mit der Sozialreform wird es aber notwendig sein, immer vor Augen zu haben, daß die 21 Milliarden DM, die für soziale Leistungen ausgegeben werden, und die 8,1 Milliarden DM im Sozialetat nicht allein von hoch verdienenden Steuerzahlern aufgebracht, sondern zum großen Teil von Arbeitern, Angestellten und Angehörigen des Mittelstandes mit kleinen und mittleren Einkommen finanziert werden müssen. Es wird also eine der ersten Aufgaben sein, bei allen Reformen dafür Sorge zu tragen, daß unter dem Titel „sozial" nicht eine unsoziale Politik getrieben wird, in der gar der Arme oder Bedürftige für den Wohlhabenden zahlen muß, wie es das Experiment des englischen Wohlfahrtsstaates so erschreckend gelehrt hat. Daß die Höhe des Sozialetats keineswegs entscheidend für die Qualität der sozialen Leistungen ist, wurde inzwischen von allen Parteien festgestellt.
Die öffentliche Diskussion des letzten Jahres hat unter Beteiligung vieler Fachleute in der Fachliteratur und der Tagespresse die Probleme der Sozialreform nach zwei Richtungen behandelt, einmal als die einer gesellschaftspolitischen Entscheidung und zum anderen als die einer Forderung nach weiteren Erhöhungen aller sozialen Leistungen. Die Voraussetzungen für eine Reform, zu der nach unserer Auffassung eine Reihe von Vorarbeiten mehr hätten geleistet werden können, sind leider bisher nicht geschaffen. Dazu gehören die Herstellung der Rechtseinheit, die längst überfällig ist, und eine Beschaffung gewisser statistischer Unterlagen, die zur Klärung von Zweifelsfragen unerläßlich sind.
Alles, was bisher an wirtschaftlichem Aufstieg und Wohlstand erreicht ist, könnte aber — so erklärte der Wirtschaftsminister Professor Erhard in der Konjunkturdebatte in Berlin warnend — durch den Sieg einzelner Gruppeninteressen gefährdet werden. Eine gesunde, organische Entwicklung kann nicht durch zu revolutionäre Pläne, die noch dazu unklar und unausgereift sind, gestört werden. Sie würden das erreichte Maß an Sicherung gefährden. Das heißt nicht etwa, daß wir in der Änderung nur gewisser Paragraphen der Reichsversicherungsordnung und ihrer Anpassung an die gegenwärtigen Bedürfnisse eine ausreichende Reform sehen. In der geistigen Auseinandersetzung geht es um die Frage, nach welchen Grundsätzen unsere Sozialpolitik künftig ausgerichtet werden soll. Sie darf nicht mit den Mitteln der sozialen Reformen gesellschaftspolitische Fernziele oder gar parteipolitische Machtpolitik oder verborgene, indirekte Vorbereitungen auf dem Weg zum totalen Wohlfahrtsstaat beinhalten.
Nachdem die Bundesregierung in ihrer Regierungserklärung die umfassende Sozialreform versprochen hat mit dem Anliegen, die wirtschaftliche Lage der Rentner, Invaliden und Waisen zu verbessern, wird dieses Versprechen zwar immer wieder zitiert, allerdings ohne den Zusammenhang mit der Einleitung der Regierungserklärung, daß nur eine gesunde Wirtschaft eine gesunde Sozialpolitik garantieren kann, daß die Probleme und Aufgaben der Sozialpolitik, der Wirtschaft und der Finanzen unlösbar miteinander verbunden sind. Nach der Erklärung des Bundeskanzlers vorn 20. Oktober 1953 hat es nicht an Vorschlägen zur Reform gefehlt. Alle, die sich mit den Fragen der Reform gründlich beschäftigen müssen, können kaum die Fülle der Literatur bewältigen, und es ist verständlich, wenn unter den Vorschlägen auch solche auftauchen wie die, in einem großen Code social alles zu Reformierende zusammenzufassen und damit jene Vereinfachung zu schaffen, nach der so viele streben. Diejenigen, die eine derartige Auffassung vertreten, sind sich nicht immer klar darüber, daß solche sozialreformerischen Bestrebungen, auf Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit und
Einfachheit beschränkt, zwangsläufig dazu führen könnten, daß die zweckmäßigsten und einfachsten Losungen in einem zentralstaatlichen Ordnungssystem landen und damit indirekt wohlfahrtsstaatlichen Tendenzen Vorschub leisten. Die in so großer Zahl gemachten Vorschläge enthalten solche Lösungsversuche; sie erscheinen denen einleuchtend, die die gefahrvollen Zusammenhänge aus der Auseinandersetzung von Vergangenheit und Gegenwart nicht genügend erkennen.
Daneben gibt es aber auch noch jene Gruppen, die nach Gesprächen über die Reform das Ziel durch die Lösung verschiedener Teilfragen durch eine Fülle einzelner Gesetze und Novellen zu erreichen suchen. Der Erfolg solcher Versuche, wie sie in den letzten Jahren gemacht worden sind, führt zu einer immer lauter werdenden Klage über immer größere Unübersichtlichkeit und Unklarheit unserer sozialen Gesetzgebung und zu der Feststellung, daß die hohen Sozialleistungen nicht gezielt seien und trotz der Höhe des Etats für viele nicht ausreichten.
Nun hat sich dieses Haus bei der Einsetzung eines Beirates zur Reform der Sozialversicherung für die Aufrechterhaltung der Trennung zwischen den Prinzipien Versicherung, Versorgung und Fürsorge entschlossen. Es hat diese politische Entscheidung sicherlich in Kenntnis der vollen Tragweite getroffen, auch wenn heute von einigen Gegnern einer solchen Trennung der Vorwurf erhoben wird, daß es sich um Schubkastendenken handle oder daß es bei dem Problem Versicherung oder Versorgung nicht um Grundsatzfragen, sondern lediglich um Zweckmäßigkeitsfragen gehe. Die Trennung von Versicherung und Versorgung beinhaltet bereits eine Grundsatzentscheidung, die meine politischen Freunde aufrechterhalten möchten.
Was wir der Regierung nicht zum Vorwurf machen, ist, daß sie bis heute ein umfassendes Reformwerk aller sozialen Leistungen nicht vorgelegt hat. Denn wir wissen, daß eine solche Aufgabe die permanente Aufgabe vieler Jahre, niemals die einer Legislaturperiode, viel weniger aber die der Hälfte einer Legislaturperiode sein kann, die bereits unter den Vorzeichen des nahenden Wahlkampfes steht. Was wir aber mit großem Bedauern beklagen und der Regierung vorhalten müssen, ist, daß die einzelnen Kabinettsmitglieder in der Öffentlichkeit in Reden und Erklärungen zu Einzelfragen der Reform Stellung nehmen, während das Kabinett selbst eine einheitliche Konzeption noch nicht bekanntgegeben hat, und daß, soweit es sich um Teilprobleme der Sozialversicherung handelt, auch der zuständige Bundesarbeitsminister dringend notwendige Vorbereitungen noch nicht getroffen hat, während in einzelnen Gesetzesvorlagen schon präjudizierende Entscheidungen, die nur im Zusammenhang mit der Gesamtreform getroffen werden sollten, eingeleitet wurden.
Dafür überraschte uns in diesen Tagen der Herr Vizekanzler mit neuen Erklärungen und Versprechungen. Dem Handwerk versprach er hier in Bonn die befriedigende Regelung der Altersversorgung im Jahre 1956. Allen Deutschen aber versprach er eine gesicherte Rente von 200 DM und damit de facto die allgemeine Staatsbürgerversorgung mit dem Zwang zur Vorsorge für alle, auch wenn darin die Wahlfreiheit beinhaltet ist. Woher diejenigen, die nun nicht mehr 40 Jahre Beiträge zahlen können, die neue Mindestrente von 200 DM erhalten sollen, hat Herr Blücher bisher noch nicht gesagt.
Es geschah bei der Haushaltsdebatte, daß auf den Zusammenhang zwischen der Sozialgesetzgebung und der Steuergesetzgebung deutlich hingewiesen wurde. Denkschriften, wie sie der Finanzminister zur Ehegattenbesteuerung, der Minister für Familienfragen zu Familienproblemen und Referenten des Innenministeriums zu Fragen der Jugendhilfe vorgelegt haben, wären in ihrem Wert bedeutender gewesen, wenn sie vom Kabinett beraten und interministeriell abgestimmt worden wären. Sie hätten auch größeren Wert, wenn dazu Klarheit über die Realisierbarkeit und die entstehenden Kosten, sei es für den Steuerzahler, sei es für den Versicherten, bestünde. Die Vorarbeiten, die hinsichtlich der L-Statistik und repräsentativer Erhebungen getroffen sind, werden von uns in ihrem Wert nicht unterschätzt. Trotzdem hätten wir angesichts der Denkschriften und Forderungen, aber auch angesichts der vollkommen veränderten Sozialstruktur und angesichts des großen Reservoirs an weiblichen Arbeitskräften gern gesehen, wenn auch die Sozialstatistik Klarheit über wichtige Fragen gäbe, die unlängst von Herrn Professor Pfister bei der Tagung der Aktionsgemeinschaft „Soziale Marktwirtschaft" dankenswerterweise aufgeworfen wurden. Ich meine hier Fragen wie die besonders in der Arbeitslosenversicherung fortgeschrittene Sozialisierung des Risikos. In diesen Tagen konnte die Bundesanstalt keine Antwort auf die Frage geben, wieviel Alfu-Empfänger aus der Alu kommen. Ich meine auch Fragen wie die — sie wären sicherlich der Untersuchung wert —, wie groß der Teil der Unterschuß- und Überschuß-versicherten ist, der sich zwischen Pflicht- und Weiterversicherten in der Kranken- wie in der Rentenversicherung ergibt. Es ist notwendig, zu wissen, wie groß das Risiko der Frauen, aber auch wie groß das Risiko der kostenlosen Familienhilfeleistungen innerhalb unserer Sozialversicherung ist und wieweit durch die Ausdehnung der Personenkreise,' durch die laufende Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten die Solidarhaftung überbeansprucht, ja gefährdet ist. Die Zwangsversicherung ist, um mit Professor Pfister zu sprechen, ein Problem allerersten Ranges geworden, weil die Gewinner und Verlierer unterschiedslos durcheinandergeworfen sind. Ohne Kenntnis der Belastung, die sich für die einzelnen Personengruppen in den Zwangsversicherungen, die immer noch die Kernstücke der sozialen Sicherung sind, ergibt, wird es schwer sein, zu Fragen des Personenkreises und der Einengung oder Ausweitung der bisherigen Beitragsverpflichteten und Anspruchsberechtigten Stellung zu nehmen. Die Presse berichtete im August überraschend über Grundsatzentscheidungen des Ministerausschusses. Es ist geradezu peinlich, in diesen Tagen laufend Veröffentlichungen in den Tageszeitungen aus dem interministeriellen Ausschuß oder Beratungsergebnisse des Sozialkabinetts zu lesen, die weder allen Mitgliedern des Kabinetts noch den Fraktionen im Parlament bekannt sind.
Auch der Bundesminister für Arbeit hat viele Reden gehalten und hat, nachdem er seine Grundgedanken als Vorschläge an das Kabinett gegeben und sie dann veröffentlicht hat, leider keine Vorschläge zur Realisierung dieser Grundgedanken dem Parlament unterbreitet. Wenn er zu Beginn dieses Monats vor der Evangelischen Akademie in Hamburg im Zusammenhang mit der Rentenversicherung festgestellt hat, daß für den einzelnen bei weitem noch keine Spitzenleistung erreicht sei
und daß die Rente die Lebensgrundlage des Rentners sichern solle, so erwartet von ihm nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch das Parlament, daß er hinsichtlich seiner Absichten zur Reform der Rentenversicherung klarlegt, wie die von ihm und anderen Ministern gegebenen Versprechungen, die auch mit Forderungen verschiedener Organisationen übereinstimmen, nämlich, daß die Rente 75 % des in Betracht kommenden Arbeitseinkommens ausmachen soll, nun verwirklicht werden sollen. Alle Versprechungen und Erklärungen dieser Art lassen nämlich die eindeutige Antwort auf die Frage vermissen, ob es sich um 75 % eines im Verlaufe des gesamten Arbeitslebens erreichten Arbeits einkommens handeln soll oder ob es sich um 75 % des Durchschnittseinkommens einer bestimmten Anzahl von Jahren handelt oder um das Durchschnittseinkommen der letzten fünf Jahre, wie wir es bei der Versicherungsanstalt Berlin hatten und im österreichischen Rentengesetz haben. In der vergangenen Zeit hat der Herr Arbeitsminister einmal von einem Durchschnittsarbeitsleben mit einer Beitragszahlung von über 40 Jahren gesprochen. Davon sprach auch der Vizekanzler im Zusammenhang mit seiner Volkspension. Diese Erklärungen sind nicht eindeutig, da es bisher unterlassen wurde, dem Begriff „Lebensdurchschnittseinkommen" zu präzisieren.
Schon jetzt würde bei dem geltenden System ohne jede Novellierung bei der Berücksichtigung der Abtrennung der vor der Währungsreform entstandenen Lasten und Verpflichtungen mindestens eine Rente von 60 % gesichert sein, wobei lediglich darauf zu achten wäre, daß die Fehler des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes in bezug auf die Steigerungsbeträge für die Angestellten revidiert
werden. Ich hoffe, daß die heutige Debatte und unser Antrag dazu beitragen werden, zu klären, ob der Bundesminister für Arbeit die bisherige Rentenformel, die sich aus der RVO in Verbindung mit den verschiedenen nach 1949 verabschiedeten Gesetzen ergibt, beizubehalten gedenkt oder ob er gar von der derzeitigen Rentenformel ab- und zur Indexrente überzugehen beabsichtigt, weil in der Diskussion über seine Reden sehr oft damit operiert wird, daß eine auf der Grundlage zurückliegender Beiträge errechnete Rente wegen der sogenannten schleichenden Inflation immer weiter hinter dem geforderten Standardbetrag zurückbleiben müßte.
Es gibt, wenn ich richtig informiert bin, außer Neuseeland, das eine Staatspension hat, keinen europäischen oder außereuropäischen Staat, der Renten gewährt, die auch nur annähernd dem Verlangen nach einer 75% igen Rente, bezogen auf das letzte Arbeitseinkommen oder auf den Durchschnitt der letzten Arbeitseinkommen, entsprechen.
Diese Versprechungen einzelner Minister stehen offenbar im Gegensatz zu der Auffassung des Herrn Bundesministers für Wirtschaft, wie aus Reden und Aufsätzen der letzten Monate erkennbar ist. Er hat erklärt, daß Sicherheit nicht in staatlicher Hilfe liegt, nach der in letzter Zeit trotz Hochkonjunktur so laut geschrien wird, und er hat im Bulletin in einem Bericht über den Weg zur sozialen Sicherung ernste Mahnworte vor dem „Zuviel an Staat" und vor dem Verlust der künftigen wirtschaftlichen und politischen Freiheit ausgesprochen. Wir stimmen seinen Warnungen zu.
Der Innenminister selbst hat bisher geschwiegen; aber aus seinem Amt kam mancher Vorschlag und manche Idee, die sich bisher offiziell lediglich im Körperbehindertengesetz als neuem Modellversuch der Rehabilitation und in dem Plan eines Jugendhilfegesetzes niederschlugen.
Der Bundesfinanzminister hat in seiner Haushaltsrede darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, endlich die Kaufkraft der Rente zu sichern; und im Zusammenhang mit der Forderung seines Minister- und Parteikollegen Storch auf Gewährung einer 75% igen Rente hat er warnend auf die Staatszuschüsse, auf den Mehraufwand usw. aufmerksam gemacht.
Die reale Konstanz der Altersrente scheint auch uns entscheidend wichtig. Noch fehlt aber jeder Kabinettsbeschluß über Ziel, Weg und Leitbild der Reform, noch fehlt jede bindende Erklärung auch des zuständigen Ministers für den Teil der Sozialversicherung und der Sonderversorgungen, die wir als die Kernstücke unserer Versicherung ansehen. Der für den interministeriellen Ausschuß und das Generalsekretariat beim Beirat des Bundesministers für Arbeit ernannte Generalsekretär hat in letzter Zeit mehrfach in der Öffentlichkeit Stellung genommen. Soweit er in seinen Reden behutsam einen Blick hinter die Kulissen tun ließ, hat er versucht, zumindest vom Begriff der Sozialreform weg zu dem Begriff „Reform der sozialen Leistungen" zu kommen. Er hat damit den Vorwurf entkräftet, daß man im Arbeitsministerium nur eine „kleine" Sozialversicherungsreform plane.
Die bisher aus dem Bundesministerium für Arbeit vorgeschlagenen Einzellösungen — ich erinnere nur an die Debatte um das Zweite Renten-Mehrbetrags-Gesetz — haben keine klare Zielsetzung erkennen lassen. Alle Einzellösungen, wie sie seit dem Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz beschlossen wurden, haben zu einer weiteren, fast chaotischen Häufung neuer Verpflichtungen ohne ausreichenden sozialen Erfolg geführt. Sie müssen, wie unlängst ein Journalist schrieb, „wie ein zu hoher Blutdruck auf das Gefäßsystem wirken", ohne daß sie das Problem Nr. 1 der Lösung näherbringen, nämlich den alten Menschen ausreichend zu helfen.
Ich habe bei der Beratung des Sonderzulagengesetzes bereits erklärt, daß die Rentenversicherung dafür nur Teilmöglichkeiten bietet. Meine politischen Freunde haben mit großer Sorge die Entwicklung betrachtet und sind der Auffassung, daß das bisherige System der Pflaster auf nicht heilende Wunden immer nur neue Ansprüche an den Staat produziert und die Strömungen zum totalen Versorgungsstaat gefördert hat, wobei durch immer neue Einkommensübertragungen schließlich nicht das geleistet wurde, was von einer Reform erhofft werden muß, nämlich die soziale Befriedung der Menschen unserer Generation.
Wir glauben daher bei Würdigung aller guten Absichten des Arbeitsministers, daß die Reform der Rentenversicherung das erste Teilstück sein muß. Die Fertigstellung dieses Teilstücks muß durch schnellste Vorbereitung der Gesetzesvorlagen vorangetrieben werden. Es muß erreicht werden, daß sich der Bundestag inmitten der Bewegung, die durch die öffentliche Diskussion entstanden ist, nicht länger passiv verhält, sondern wenigstens im Grundsätzlichen den Rahmen für die künftige Arbeit des Bundesarbeitsministeriums absteckt. Das ist das besondere Anliegen unseres Antrags zur Reform der Rentenversicherung. Es ist selbstverständlich, daß ein solch großes Werk wie die Reform der Rentenversicherung oder die Reform
der Sozialversicherungs-, Versorgungs- und Fürsorgegesetze nicht etwa in einem totalen Stück oder in einem Initiativgesetzentwurf eingereicht werden kann. Es ist ebenso selbstverständlich, daß der Bundestag selbst keinen Initiativgesetzentwurf zur unmittelbaren Verkündung vorlegen kann.
Diese Aufgabe, deren Lösung wir vom zuständigen Ministerium immer wieder versprochen erhalten haben, kann aber nur gelöst werden, wenn dem Ministerium bekannt ist, welche Haltung die Fraktionen zu den einzelnen wesentlichen und in der Regel besonders umstrittenen Fragen einnehmen. Wenn ich heute auf eine Reihe von Anliegen der Fraktion der Deutschen Partei hinweise, die im 1. und 2. Bundestag als Anträge zur Vorbereitung der Reform eingereicht wurden, die dem Bundesminister für Arbeit zugeleitet sind, so bedauere ich, daß sie nicht verwirklicht wurden. Ich meine die Herstellung der Rechtseinheit, die Überprüfung des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes und die Xnderung der zweiten Lohnabzugsverordnung.
Mit unserem heutigen Antrag wollen wir dem Rat eines Bismarck-Wortes aus der Zeit der Sozialversicherungsgesetzgebung folgen:
Wir müssen die Sache an einem Zipfel anfangen. Es gibt keinen Menschen, der imstande wäre, Ihnen einen vollen, fertigen Abschluß aller Reformen, deren wir bedürfen, auf einem Brett auf den Tisch zu legen. Solche Reformen sind die Frucht mühsamer Arbeiten und gegenseitigen Entgegenkommens, des schrittweisen Vorgehens. Aber sie springen nicht wie Minerva aus dem Haupte Jupiters fertig heraus.
Wir stimmen dieser Ansicht zu. Wir wollen mit dem Antrag Drucksache 1822 zur Reform der Rentenversicherung diesen Zipfel packen, um zunächst einen termingebundenen Beschluß des Bundestages zu erreichen.
Wenn wir über diesen Antrag „Reform der Rentenversicherung" und nicht „Neuordnung der sozialen Leistungen" geschrieben haben, dann möchten wir damit ausdrücken, daß wir verantwortungsbewußt genug sind, nicht nur von Wünschen und Leistungen zu sprechen, sondern auch von den finanziellen Voraussetzungen und Belastungen, die geklärt werden müssen, ehe über das Ausmaß und die Art der Leistungen Endgültiges beschlossen werden kann. Wir meinen, daß die Reform der Rentenversicherung als Teilstück nicht einfach in einer Aufstockung der Leistungen auf dem bisherigen System bestehen kann.
Von den 20 Thesen unseres Antrags möchte ich jetzt wegen des Zeitdrucks nur einige begründen. Ich möchte die wesentlichen Punkte, in denen es wahrscheinlich um unterschiedliche Meinungen gehen wird, besonders begründen.
Über die erste These unseres Antrags brauche ich sicherlich nichts zu sagen, weil in diesem Hause Einigkeit darüber bestehen dürfte, daß das Experiment einer Einheitsrentenversicherung nach den vielfältigen Erfahrungen und soziologischen Überlegungen nicht gemacht werden kann. Weil das Bekenntnis der Versicherten bei den Sozialwahlen zur Angestelltenversicherung in so überzeugender Erinnerung ist, brauchen wir über die Erhaltung einer besonderen Angestelltenversicherung, so hoffe ich, ebensowenig wie über die Erhaltung der knappschaftlichen Versicherung zu sprechen.
Mit der zweiten These, die die Höhe der Altersrente betrifft, sind wir aber mitten in der Diskussion, die der Bundesminister für Arbeit eröffnet hat. Auch das scheint mir heute schon Allgemeingut zu sein, daß die Altersrente unter Berücksichtigung aller Beitragsleistungen — ich betone das ausdrücklich für diejenigen, die unsere These mißverstanden haben — so bemessen sein soll, daß sie auch unter Berücksichtigung der Dynamik des modernen Wirtschaftslebens den Rentner vor einem Absinken des Lebensstandards bewahrt, den er in einem stetig verlaufenden Arbeits- und Berufsleben erreicht hat. Mir liegt daran, zu betonen, daß jeder Versicherte das Recht und die moralische Pflicht hat, durch Dauer und Höhe der Beitragsleistung während seines Arbeitslebens den Wert seiner angestrebten Altersrente selbst zu bestimmen und zu erhöhen. Eine gesunde Wirtschafts- und Währungspolitik allein kann der Garant dafür sein, daß diese Rente während des Lebensabends auch konstant bleibt.
Die anfangs von mir schon betonte Fragwürdigkeit der Bemessung einer Altersrente auf 75 % des Leistungslohns, den der Versicherte während des Arbeitslebens durchschnittlich verdient hat, ist mir besonders aus einer Zuschrift an die „Frankfurter Rundschau" deutlich geworden, in der darauf hingewiesen wurde, zu welchen Ungerechtigkeiten eine solche Regelung führen könnte. Der Schreiber hat ausgeführt:
Sie würde weder die verschieden langen Ausbildungszeiten noch unverschuldete Arbeitslosigkeit noch den Wehrdienst berücksichtigen,
der bei vielen Rentenberechtigten unserer Generation weit -mehr als zehn Jahre ausmacht. Das Resultat einer so berechneten Rente nach dem durchschnittlichen Lohn könnte dahin führen, daß ein akademisch vorgebildeter Angestellter, der erst mit 30 Jahren verdient, keine höhere Rente erhalten würde als eine ungeschulte Kraft, die bereits mit vierzehn Jahren ins Arbeitsleben eintritt, und ein Angestellter, der durch Berufsausbildung, Wehrpflicht und Kriegszeit besonders benachteiligt ist, würde dann immer weniger an Rente beziehen als der andere, der eine kürzere Ausbildung und vielleicht das Glück der Nichteinziehung zum Wehrdienst hatte. Wie tragisch sich eine Tabellenrente oder eine Berechnung nach dem Durchschnittseinkommen der letzten fünf Jahre auswirken kann, das hat im Zusammenhang mit den politischen Zeitläuften und Wechselfällen des Lebens gerade das Beispiel der Versicherungsanstalt Berlin gelehrt. Auch diejenigen, denen ein Vergleich mit der Beamtenpension so verlockend vorschwebt, würden bei einer solchen Anwendung zweifelsohne nicht zu dem gewünschten Ziel kommen.
Uns liegt daher besonders daran, daß sich die Bemessung der Rente nach Zahl und Höhe der geleisteten Beiträge richtet. Wir sehen in dieser Regelung auch eine besondere sozialpädagogische Möglichkeit, das Versicherungsprinzip zu verteidigen.
Die Frage des staatlichen Grundbetrages haben wir nicht angesprochen, weil wir glauben, daß die Frage des Staatszuschusses in der Rentenversicherung im Zusammenhang. mit der Invaliditätsrente gelöst werden sollte, so daß die Altersrente als reine Beitragsrente eine besondere Funktion erfüllen könnte. Wir hoffen, daß wir in dieser Frage bei den Ausschußberatungen einen gemeinsamen Weg finden werden, der zu dem Ziele führt, die
arbeitenden Menschen, die lange Jahre Pflichtbeiträge zahlten, bevorzugt gegenüber solchen zu behandeln, die durch kurze Versicherungszeiten und geringe Beitragsleistung mit Hilfe staatlicher Zuschüsse beim heutigen System höhere Leistungen erhalten können.
Sollte bei der Reform eine Entscheidung über einen Staatsbeitrag in der Rentenversicherung fallen, so möchte ich heute schon darauf hinweisen, daß wir diesen Staatsbeitrag dann für alle Renten gleichermaßen fordern müssen und daß wir dann mit besonderem Nachdruck auch auf die Begrenzung der Personenkreise in der Rentenversicherung hinweisen müssen und auf die Gefahren, die der Plan einer Volkspension für alle beinhaltet.
In einer besonderen These haben wir auf die Notwendigkeit der Neuordnung der Witwen- und Waisenrenten hingewiesen. Die Höhe der Waisenrente scheint uns in der jetzigen Regelung nicht ausreichend. Was die Witwenrente angeht, so ist durch die Novelle zum Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz nach unserer Auffassung eine bedauerliche Präjudizierung der Reform erfolgt.
Wir werden auch zu entscheiden haben, ob es nicht richtig ist, den Witwenhaushalt als eine Einheit zu betrachten, wie es in der Knappschaft bis 1924 der Fall war. Da die Mutter die Kinder erzieht und auch für sie sorgt, liegt eine solche Reform mit der Erhöhung des Vomhundertsatzes für die Witwenrente nahe. Es wird auch zu prüfen sein, ob wir den sozialen Erfolg einer unbedingten Witwenrente in allen Rentenversicherungen verteidigen können, ohne daß die Versicherten für diese Ansprüche zusätzliche Beiträge zahlen, wobei es der Steuerpolitik überlassen bleiben soll, die entsprechenden Beitragsverpflichtungen für die Familie durch Steuerermäßigungen anzuerkennen. Eine Aufstockung der Witwenrente und die Einführung einer Pflichtleistung auch für geschiedene Ehefrauen in gleicher Höhe, wie sie der DAG-Plan vorsieht, kann im Hinblick auf die große kulturpolitische Bedeutung einer solchen sozialen Lösung nur mit großer Behutsamkeit angesprochen werden. Wir glauben aber, daß wir auch diesem Gespräch nicht ausweichen dürfen. Es erscheint mir viel problematischer als etwa die so viel diskutierte Frage der Onkelehen, für die bei der Reform der Witwenrente ebenfalls eine Lösung gefunden werden muß. In einem Aufsatz in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ist in der vergangenen Woche auf das Problem der Ehemoral besonders hingewiesen worden. Es ist kein Zweifel, daß zu den Fragen der Rücksichtnahme auf eine veränderte Gesellschaftsordnung auch die Berücksichtigung der sozialen Verhältnisse gehört, die, zwar nicht im Lichte der Öffentlichkeit, aber allen bekannt, Konsequenzen auslösen, vor denen man den Kopf nicht in den Sand stecken kann.
Ich glaube, daß das Problem der Onkelehen keineswegs mit einer ewigen Witwenrente zu lösen ist, und bin der Auffassung, daß der Versuch, den Österreich in seinem Sozialversicherungsgesetz gemacht hat, auf seine Auswirkungen beobachtet werden sollte und auch ein brauchbares Modell für uns sein könnte. Das österreichische Rentengesetz bestimmt, daß die Witwe durch die Eingehung einer neuen Ehe, sofern sie nicht alleiniges oder überwiegendes Verschulden an der Auflösung dieser Ehe trifft oder bei Nichtigerklärung dieser Ehe als schuldig anzusehen ist, keinen Nachteil erleidet und die Rente wieder auflebt. Bei der Prüfung einer solchen Lösung wird von uns gemeinsam auch zu prüfen sein, wieweit eine zu großzügige Entscheidung zugunsten geschiedener Ehefrauen etwa Gefahren beinhaltet, leichtfertigen Scheidungen Vorschub zu leisten und die Unterhaltsverpflichtung eines Mannes auf die Solidarhaftung der Versichertengemeinschaft abzuwälzen. Auch hier wird sehr verantwortungsbewußt zu prüfen sein, wieweit Konflikte zwischen Ehemoral und Rentenmoral vermieden werden können.
Die Forderung, die wir hinsichtlich der Einführung von Beihilfen zur Berufsausbildung erhoben haben, ist bereits in einem Pressedienst einer Partei kritisiert worden. Wir glauben diese Frage ansprechen zu müssen, weil im Zusammenhang mit der Diskussion um die Einführung einer bedingten Witwenrente auch die Fragen der Berufsausbildungsbeihilfen und der Übergangshilfen für Witwen geprüft werden müssen. Soweit es sich um die Berufsausbildung der Waisen handelt, stehen diese Fragen in ursächlichem Zusammenhang. Ich setze voraus, daß diesem Hohen Hause bekannt ist, daß wir in unserer Gesetzgebung inzwischen zehn Gesetze mit zahlreichen Durchführungsverordnungen und Verwaltungsvorschriften haben, die Ansprüche auf Berufsausbildungsbeihilfen beinhalten. Für die Durchführung der Gesetze sind fünf Bundesressorts zuständig. Daneben werden aber Berufsausbildungsbeihilfen auch von Ländern und Gemeinden, von Stiftungen und Organisationen, ja selbst von privater Seite gewährt. Bei den Berufsausbildungsbeihilfen, die auf gesetzlichen Regelungen beruhen, sind die Art und Höhe der Beihilfen, die Förderung der Ausbildungsarten, ja selbst die Voraussetzungen der Antragstellung unterschiedlich.
Es besteht sicher kein Zweifel, daß Berufsausbildungsbeihilfen im Zusammenhang mit Versicherung, Versorgung und Fürsorge in erster Linie als vorbeugende Maßnahmen angesehen werden müssen. Sie sind aber darüber hinaus auch in starkem Maße sozialpädagogisch wichtig und schließlich als Mittel der Produktivitätssteigerung in den kommenden Jahren, insbesondere aber im Zusammenhang mit dem erheblichen Nachwuchsrückgang, dem Facharbeitermangel und dem notwendigen Einsatz der berufstätigen Frauen, von besonderer Bedeutung. Da das Schicksal unserer Witwen weitgehend davon abhängt, ob sie einen sozialen Abstieg oder Aufstieg im Beruf haben, ob ihre Lage mit Hilfe solcher fördernden Maßnahmen wesentlich gebessert werden kann, gehört dies mit zu den wichtigsten Aufgaben der Sozialreform. Sie sind sicherlich bedeutender als der Ruf nach einer totalen Versicherung und Versorgung der deutschen Hausfrauen, die in ihrer Mehrheit erfreulicherweise durch beamten- und sozialversicherungsrechtliche Ansprüche und durch individuelle Vorsorge ihrer Ehemänner, aber auch durch Rechtsansprüche aus der Weiterversicherung vielfältigen Schutz genießen.
In unlösbarem Zusammenhang mit dem Rechtsanspruch auf Familienhilfe in der Rentenversicherung steht der Rechtsanspruch der weiblichen Versicherten auf Hinterbliebenenrente für ihre Angehörigen. Die in der Öffentlichkeit erhobene Forderung einer Gewerkschaft, daß die Hinterbliebenenrente, wenn sie gewährt wird, davon abhängig gemacht werden muß, daß die Angehörigen der weiblichen Versicherten überwiegend unterhalten
werden, ist nur dann vertretbar, wenn das auch für die Angehörigen der männlichen Versicherten gilt und die Gewährung von Witwenrenten davon abhängig gemacht wird, daß die Witwen von dem Ehegatten wirklich überwiegend unterhalten worden sind. Ich glaube nicht, daß wir das tun sollten.
Die seltsamen Entscheidungen, die zum Thema Gleichberechtigung sehr zuungunsten der Frauen getroffen worden sind, werden uns bei der Beratung dieses Teils der Reformgesetze immer vor Augen stehen. Im Interesse der Gleichberechtigung möchte ich nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß unsere Forderung in dieser vierten These selbstverständlich auch für die männlichen Versicherten zutrifft, die unverheiratet bleiben, Rechtsansprüche an die Versicherung haben und Ansprüche auf Eltern- oder Hinterbliebenenrente gleichermaßen erheben können.
In der Öffentlichkeit ist viel von der Altersrente gesprochen worden, während die sehr viel schwierigeren Fragen der Invaliditätsrente und das Finden einer neuen Rentenformel sehr zurückhaltend diskutiert werden. Wir glauben, daß in all den Fällen, in denen eine Vollinvalidität so früh eintritt, daß die Leistungen durch Beiträge nicht genügend gedeckt sind, die subsidiäre Haftung der großen Gemeinschaft der Staatsbürger helfen muß und daß hier der staatliche Zuschuß in der Rentenversicherung einen sozial gerechten Platz findet.
Ich habe in der Einleitung schon darauf hingewiesen, daß bei unseren bisherigen Beiträgen und bei dem bisherigen System die Renten wesentlich höher sein könnten, wenn nicht die ungeheure Belastung durch diejenigen Renten, die aus verhältnismäßig geringen Beitragsleistungen Ansprüche herleiten, die heutige Generation der Beitragszahler zwingen würde, durch ihre Beiträge jene Lasten zu tragen, die durch die Währungsreform und die Kriegsschäden entstanden sind. Die statistischen Grundlagen zur Reform der Rentenversicherung zeigen, daß der versicherungstechnisch notwendige Beitrag für die Gesamtheit der jetzigen und der künftigen Versicherten, wenn sie nur für ihre eigenen Anwartschaften aufzukommen hätten, nicht aber für die Last der anfallenden Aufwendungen für die Altrentner, in der Invalidenversicherung nur 9,04 v. H. und in der Angestelltenversicherung nur 7,47 v. H. betragen würde. Hier zeigt sich das Ausmaß der den Versicherten auferlegten Kriegsfolgelasten. Der Bundesminister der Finanzen hat in der Haushaltsdebatte darauf hingewiesen, daß die Mittel für die Durchführung des Kriegsfolgenschlußgesetzes im Haushalt veranschlagt sind. Leider ist in diesem Gesetzentwurf versäumt worden, im Zuge der Liquidierung des Krieges und seiner Folgen auch die Sozialversicherung als Gläubiger verbriefter und unverbriefter Forderungen gegen das Reich und die Länder zu entschädigen. Die Rentenversicherungen haben durch ihre ihnen vom Staat aufgezwungene Geldanlage in Reichstiteln nicht weniger als 18 Milliarden verloren. Wir hoffen, daß sich der Bundesminister für Arbeit, der so oft vom Sozialversicherungsbeitrag als Eigentum gesprochen hat, gegen dieses der Sozialversicherung zugefügte Unrecht mit allen Mitteln zur Wehr setzen und auch Unterstützung finden wird.
Die Sozialversicherung hat nicht, wie in der Öffentlichkeit unzutreffend behauptet wird, bei der Währungsreform eine Wiedergutmachung erhalten. Der von uns allen sicherlich mit Sorge betrachtete Sog zur Staatspension und zur staatlich garantierten
Sozialversicherungsrente wäre weniger groß, wenn die Forderung des § 23 des Umstellungsgesetzes, wonach die finanzielle Neuordnung der Sozialversicherung den gesetzgebenden Körperschaften ausdrücklich zur Pflicht gemacht worden ist, realisiert worden wäre. Statt dessen hat man durch die Bestimmungen des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes die Versicherten die Kapitalien aufbringen lassen, die notwendig waren, um laufend Renten und Rentenerhöhungen zu finanzieren, und die ohnehin schwer belasteten Versicherten der Nachkriegsgeneration für die Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen zum Lastenträger bestimmt. Die Wiedergutmachung dieser Vermögensverluste mit Hilfe staatlicher Mittel ist eine Forderung, die wir zur Verwirklichung einer ausreichenden Anpassung der alten Ansprüche und Renten für dringend notwendig halten.
Die Deckung der Währungs- und Kriegsschäden durch den Bund braucht nicht durch eine Kapitalübertragung oder Kapitalansammlung großen Stils in den Händen der Sozialversicherungsträger unverzüglich verwirklicht zu werden. Eine gesetzliche Regelung, die eine angemessene Verzinsung und Amortisation garantiert, wäre absolut ausreichend und würde dazu beitragen, die berechtigte Forderung „Eigentum in Arbeiterhand" zu realisieren.
Die Schaffung einer zusätzlichen Sozialrente zur Sozialversicherungsrente für die alten Menschen, deren Beitragsleistungen zu gering waren, ist ein weiterer Weg, der aber nicht im Rahmen der Rentenversicherungsreform beschritten werden kann.
Über die einzelnen Punkte, die wahrscheinlich weniger Probleme beinhalten, möchte ich jetzt zu einem vieldiskutierten Kapitel, dem der Rehabilitierung oder zu deutsch: der Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit der Versicherten, übergehen. Dieses Kapitel ist nicht etwa neu in der deutschen Sozialgesetzgebung. Wir bekennen, daß wir im Gegensatz zu mancher Veröffentlichung das Recht auf dem Gebiet der Unfallversicherung und der Kriegsopferversorgung immer noch für vorbildlich halten. Wir empfinden es auch als ungut, wenn, wie aus einer Veröffentlichung der Rentenversicherungsträger hervorgeht, für die kostenlose Krankenversicherung der Rentner im Jahre 1954 500 Millionen DM ausgegeben wurden, während für das gesamte Heilverfahren der Rentenversicherungsträger zur Verhütung einer frühzeitigen Invalidität nur 360 Millionen DM zur Verfügung standen, die vor allem für die Tuberkulosebekämpfung verwandt wurden.
Die Forderung unserer Tage, die frühzeitige Invalidität durch Abnutzungskrankheiten zu verhindern, wird nur dann erfüllt werden, wenn das Heilverfahren der Rentenversicherungsträger in viel großzügigerer Weise ausgebaut und fortentwickelt wird. Wir gehören nicht zu den Illusionisten, die davon eine ungeheure Verminderung der Rentenlast erwarten. Wir glauben aber, daß bei der Situation unserer lebenden Generation unbedingt der Versuch gemacht werden muß, die guten Erfahrungen der Kriegsopferversorgung und der Unfallversicherung auf unsere Rentenversicherung zu übertragen und zum mindesten für bestimmte Krankheiten systematisch fortzuentwickeln.
Die Länderarbeitsminister haben in einer mehrtägigen Konferenz, die in diesen Tagen stattfand, ihre Sorgen über die drohende Lahmlegung der Sozialgerichtsbarkeit zum Ausdruck gebracht und darauf hingewiesen, daß jetzt schon durch die Belastung der Sozialgerichte Renten-, Versorgungs- und andere Versicherungsfälle bis zu drei Jahren dauern.
Im Zusammenhang mit den Rehabilitierungsplänen möchte ich auch betonen, daß wir die Pläne zur Gewährung von Teilrenten und Stufenrenten für problematisch halten. Sie würde zu einer ungeheuren Zahl von Berufungsverfahren führen, von den großen Schwierigkeiten ganz zu schweigen, die sich für die Ärzte bei dem Ermessensbegriff der Stufeninvalidität ergeben würden.
Auch hier möchte ich nicht versäumen, auf den Tatbestand hinzuweisen, daß von den versicherten Frauen in der Angestelltenversicherung 81,6 % das Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit frühzeitig erhalten haben. Davon waren 62,6 % unter 60 Jahre alt und nur 29,9 % zwischen dem 60. und dem 64. Lebensjahr. Bei den Männern ist die Zahl derjenigen, denen wegen Berufsunfähigkeit ein Ruhegeld gewährt wird, annähernd 50 %. Das heißt also, daß die Hälfte aller Männer und drei Viertel aller Frauen vor Erreichung der Altersgrenze aus dem Beruf ausscheiden. Eine bessere Statistik würde sicherlich sehr aufschlußreich sein, wenn aus ihr hervorginge, wie groß die Zahl der weiterversicherten Ehefrauen und der weiterversicherten Selbständigen bei den Rentenversicherungsträgern ist, die die Zahl der Fälle frühzeitiger Invalidität maßgebend beeinflußt. Sämtliche Kapazitäten unter den Vertrauensärzten haben mir bestätigt, daß es in der Praxis sowohl bei einem Selbständigen als auch bei einer Hausfrau bei dem jetzt geltenden Invaliditätsbegriff kaum möglich ist, die Anerkennung der Invalidität abzulehnen. Selbstverständlich wird nach Überprüfung des Invaliditätsbegriffs dafür Sorge getragen werden müssen, daß dem Rehabilitierungsverfahren nicht erst die 50 % Arbeitsunfähigen zugeführt werden, sondern daß zu den notwendigen Maßnahmen besonders die Herz-, Gefäß-, Kreislauf- und Rheumakranken bevorzugt zu einem Wiederherstellungsverfahren kommen.
Bei diesen Maßnahmen müssen das Heilverfahren, die Berufsfürsorge und die wirtschaftliche Hilfe eine Einheit sein.
Bei der großen Zahl der weiblichen Arbeitskräfte, die seit 1948 laufend gestiegen ist, werden alle diese Maßnahmen nur erfolgreich sein, wenn gleichzeitig der besorgniserregenden Überforderung der Frauen durch eine Überprüfung des gesamten Arbeitsrechtes und Arbeitsschutzes Einhalt geboten wird.
Daß die freiwillige Weiterversicherung beibehalten werden soll, ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil wir eine Zwangsrentenversicherung haben. Bei der Einbeziehung des Anwartschaftsrechts wird darauf geachtet werden müssen, daß die Möglichkeit der freiwilligen Weiterversicherung von einer bestimmten Anzahl und Dauer der Beitragszahlungen abhängig gemacht wird, wobei den Selbständig-Werdenden während ihrer Ausbildungszeit die Möglichkeit der freiwilligen Entscheidung über die Weiterversicherung oder über die Beitragsrückgewähr eröffnet werden sollte. Nur auf diesem Wege besteht für die ehemals berufstätige Ehefrau die Möglichkeit, sich durch eine eigene Altersrente eine zusätzliche Sicherung zu schaffen.
Ein ganz Europa bewegendes Problem ist die Frage der Altersgrenze. Der Direktor des Hygiene-Instituts der Kieler Universität, Professor Dr. Klose, hat eine Heraufsetzung der Altersgrenze in der Sozialversicherung für diejenigen gefordert, die nach dem 65. Lebensjahr noch arbeitsfähig und auch arbeitswillig sind. Er hat dabei auf die gestiegene Lebensdauer in der Bundesrepublik hingewiesen, nach der 10 v. H. aller lebenden Menschen über 65 Jahre alt sind gegenüber nur 5 v. H. im Jahre 1910. Professor Klose kam in seinen viel diskutierten Ausführungen zu dem Schluß, daß die Pensionsgrenze von 65 Jahren willkürlich gezogen sei.
Die öffentliche Diskussion der Heraufsetzung einer Altersgrenze hat in Deutschland besonders bei der gesundheitlich sehr stark strapazierten Kriegs- und Nachkriegsgeneration unseren alten Menschen gegenüber wie ein Schock gewirkt. Uns scheint, daß eine rigorose Maßnahme der Heraufsetzung der Altersgrenze zur Zeit unverantwortlich wäre, solange nicht eindeutiges Material über die Leistungsfähigkeit der alten Menschen vorliegt. Professor Klose hat nachgewiesen, daß von fast 2 Millionen Menschen über 65 Jahre noch 514 000 im vollen Erwerbsleben stehen, während andererseits die Bundesanstalt in Nürnberg nachweist, daß trotz aller Bemühungen noch 55 000 Angestellte schon nach dem 45. Lebensjahr nicht mehr zu vermitteln sind und als minderleistungsfähig angesehen werden.
Mit Rücksicht auf diese Diskrepanz und ohne den Zusammenhang mit der Invaliditätsrente zu übersehen, glauben wir, daß eine Beibehaltung der Altersgrenze von 65 Jahren für Männer zu vertreten ist und daß, um den Gegebenheiten der sozialen Wirklichkeit zu entsprechen, für die aktiven Arbeitnehmer ein Anreiz geschaffen werden muß, über das 65. Lebensjahr hinaus Beiträge zu entrichten, wenn damit die Höhe des Altersruhegeldes entscheidend gesteigert werden kann. Wenn wir mit unserem Antrag nicht von einer für Männer und Frauen gleichbleibenden Altersgrenze ausgegangen sind — und ich persönlich bekenne, daß ich mich in dieser Frage zu denen rechne, die vom Irrtum zur Wahrheit reisten —, so deshalb, weil gerade die Praxis der Gleichberechtigungsdebatte gezeigt hat, daß der Grundsatz der Gleichberechtigung nach der Bonner Kommentierung noch lange keine Gleichheit von Mann und Frau bedeuten darf, sondern nur eine Gleichwertigkeit. Dabei muß es ein besonderes Anliegen sein, darauf hinzuweisen, daß unsere Gesetzgebung gerade im Hinblick auf die Anerkennung der Familienfunktion und der ungeheuren Doppelbelastung der berufstätigen Ehefrauen und Mütter die unterschiedlichen Besonderheiten anerkannt sehen möchte.
Wir glauben auch aus sehr realen Gründen, daß es besser ist, unseren versicherten Frauen bei erfüllten Voraussetzungen die Rente mit 60 Jahren zu gewähren, als die große Zahl der frühzeitigen Invalidisierungsfälle von Jahr zu Jahr ansteigen zu sehen. Die Möglichkeit der Weiterarbeit zum Zwecke des Erwerbs einer höheren Rente wird auch hier erzieherisch und bremsend zugleich wirken.
Möglich ist eine solche Lösung natürlich nur, wenn sie nicht von Weiterversicherten und Selbstversicherten mißbraucht werden kann, die durch geringe Beitragszahlung auf Kosten der übrigen Versicherten Vorteile erlangen können.
Nach Einbringung unseres Antrags ist von einzelnen Abgeordneten des Bundestages am 12. November 1955 eine Kleine Anfrage gestellt worden, wonach die in Direkt-Hypotheken an Versicherte vergebenen Mittel der Rentenversicherungsträger in zu geringem Maß ausgegeben wurden. Es besteht kein Zweifel, daß, soweit Anträge von Versicherten gestellt worden sind, diese auch von den Rentenversicherungsträgern — wenn die Bedingungen erfüllt waren — bearbeitet und positiv entschieden worden sind. Für die Angestelltenversicherung kann ich das mit Gewißheit sagen. Mir scheint aber, daß die Vergabe erststelliger Hypotheken nicht der alleinige Weg ist, um den Versicherten zur Eigentumsbildung zu verhelfen. Sehr viel richtiger wäre die Verwirklichung unserer auch vom Bundesminister für Arbeit erfreulicherweise aufgegriffenen Forderung, aus dem Vermögen der Rentenversicherungsträger entsprechende Darlehen für die Versicherten zum Erwerb eines Grundstücks oder zur Finanzierung der Eigenmittel im Rahmen des Wohnungsbaues zur Verfügung zu stellen. Wir haben diese Forderung 1953 in der Öffentlichkeit mit aller Deutlichkeit erhoben, und wir freuen uns, daß sie im Interesse der Schaffung neuer Impulse zur individuellen Selbstvorsorge in so erfreulichem Maße beitragen wird. Wir sind mit all denen einig, die den Arbeitnehmer von morgen auch als Eigentümer, aber als den Besitzer eines individuellen Eigentums sehen wollen. Die Reform der Rentenversicherung und eine vernünftige Eigentumspolitik gehören daher notwendig zusammen. Wir wollen nicht, daß wie bisher die Schaffung von Eigentum für die große Masse der Erwerbstätigen unerreichbares Ideal ist. Alle Pläne, die zu einem totalen Umlagesystem in der Rentenversicherung oder zu einem Wirtschaften aus dem großen Topf des Sozialprodukts ohne Rücksicht und unter Verzicht auf Kapitalanlagen führen, können das berechtigte Anliegen unserer Zeit, Eigentum in Arbeitnehmerhand zu schaffen, nicht verwirklichen. Eine kollektive Kapitalbildung, die Kapitalgesellschaften durch Staatsmittel und Sozialversicherungsbeiträge festen Besitz und sicheres Einkommen verschafft und kein echtes Privateigentum sichert, kann daher nicht das Ziel der künftigen Anlagenpolitik der Rentenversicherungen sein. Wenn die Beitragsteile, die die Versicherten zwangsläufig sparen müssen, individuell gespart würden, stünden sie der persönlichen Vermögensbildung zur Verfügung. Das auch im größeren Ausmaß als bisher im Rahmen einer vernünftig begrenzten Reservenbildung bei den Rentenversicherungsträgern zu realisieren, scheint meinen Freunden eine Forderung der Stunde. Aus diesen Gründen lehnen wir auch das totale Umlageverfahren ab, weil es nicht nur einen ungedeckten Wechsel auf eine Zukunft ausstellt, von der niemand weiß, ob das Sozialprodukt in der angenommenen Weise über Jahrzehnte hinweg wachsen wird und ob alle Berechnungen und Schätzungen nicht durch eine Entwicklung von morgen, die wir noch nicht voraussehen können, über den Haufen geworfen werden.
Mit unseren Thesen haben wir nur die hauptsächlichsten Probleme der Rentenversicherung ansprechen können. Eine Fülle von Zusatzfragen werden bei Beratung der Gesetzgebung mit gelöst werden müssen. Ich möchte nur auf einige hinweisen. Bei der zunehmenden Zahl zwischenstaatlicher Verträge in den europäischen Ländern scheint es mir auf die Dauer nicht vertretbar, daß für Beiträge, die in Deutschland entrichtet worden sind, Rentenzahlungen gesperrt werden, wenn die Rentenberechtigten ins Ausland verzogen sind. Seitdem in zwischenstaatlichen Verträgen auch Ausländern Rechtsansprüche in Deutschland garantiert werden, für die sie sehr oft unter ganz anderen Voraussetzungen in ihrem Mutterland Ansprüche erworben haben, halten wir es für unvereinbar mit dem Grundsatz des gleichen Anspruchs aller Versicherten und dem Grundsatz von Treu und Glauben, daß Gesetze eine Zahlung von Beiträgen zulassen, aber die Gewährung der Gegenleistung nicht ermöglichen. Der Staat kann nur Zuschläge, die als staatliche Fürsorgeleistung innerhalb der Rechtsansprüche gegeben werden, kürzen. Unmöglich ist es aber, daß deutsche Versicherungsträger noch zu einer Beitragsleistung für ins Ausland gezogene Versicherte auffordern, während sie andererseits den erworbenen Anspruch nicht realisieren.
Daß wir in unserer Diskussion heute von dem bestehenden Recht ausgegangen sind und keine Forderung nach Ausdehnung der Personenkreise erhoben haben, entspricht unserer eindeutigen Haltung. Trotzdem möchte ich meine grundsätzlichen Ausführungen nicht schließen, ohne unsere ausdrückliche Warnung vor jeder direkten oder indirekten Ausweitung auszusprechen. Diejenigen, die bei der Mehrheitsabstimmung im Beirat des Herrn Bundesministers für Arbeit sich für die totale Versicherungspflicht für alle in abhängiger Stellung Befindlichen ausgesprochen haben — ohne Rücksicht auf die eigene Wirtschaftskraft derjenigen, die sehr wohl in der Lage sind, das Risiko auch des Alters durch individuellen Versicherungsschutz zu sichern —, werden nicht verhindern können, daß sie, wenn sie auf ihrem Standpunkt der Ausdehnung unserer Rentenversicherung auf alle beharren, dazu beitragen, daß die Ausdehnung des Versicherungszwanges auf alle, also auch auf die freien Berufe, nach den Gedankengängen des Sozialkabinetts, wenn sie richtig berichtet wurden, und des Herrn Vizekanzlers Blücher der nächste Schritt sein würde. Die Vorschläge des Herrn Vizekanzlers könnten also nur ein Umweg dazu sein.
Die falsche Behandlung der Sozialversicherung bei der Währungsreform und die unsoziale Verpflichtung der Versicherten zur Tragung der aus der Vergangenheit entstandenen Last haben den Sog in die Sozialversicherung sehr zum Schaden der Pflichtversicherten vermehrt. Es muß darauf hingewiesen werden, in welch eindeutiger Weise auch die leitenden Angestellten sich gegen die Versicherungspflicht wehren. Es ist nach unserer Auffassung mit einer demokratischen Ordnung nicht zu vereinbaren, Methoden des Zwanges da anzuwenden, wo eine soziale Ursache nicht gegeben ist und nicht bewiesen werden kann. Die Behauptung, daß eine Ausdehnung statt Einengung der Versicherungspflicht notwendig sei, weil sonst aus den Reihen der bisher versicherungsfreien Angestellten Anwärter auf spätere Fürsorgeansprüche entstehen könnten, ist mehr als fadenscheinig.
Wie sehr die gleichen Fragen, die wir heute diskutieren, durch Jahrzehnte umstritten waren und wie unter dem Eindruck der Folgen eines Krieges immer eine Ausdehnung des Versicherungszwanges gefordert wird, zeigt die Literatur aus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Ich möchte in der Auseinandersetzung mit der auch damals ausgesprochenen fast wortwörtlich gleichen Forderung nach totaler Staatsfürsorge auf die im 1. Band der „Sozialversicherung" 1926 von Universitätsprofessor Dr.
Schmittmann gemachten Ausführungen hinweisen, die ich mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren möchte. Damals wandte sich Professor Dr. Schmittmann im Kampf für das Versicherungsprinzip gegen die Argumente für die totale Staatsfürsorge, und er sagte — vor 30 Jahren —:
Das Versorgungsprinzip hingegen setzt an Stelle des selbstverantwortlichen Menschen den verantwortungslosen, der dem Staat alle Sorge für die Zukunft überläßt. Diese Gesinnung ist leider schon allzu tief in das deutsche Volk eingedrungen; fast alle wollen aus der Staatskrippe essen; dies ist der tiefste und eigentliche Grund der deutschen Verelendung. Die Staatsfürsorge führt zur Schematisierung und Erstarrung: Sie will den Zentralismus der Versicherungsträger und die Vereinheitlichung der Versicherungsfälle; sie will nicht erkennen, daß diese im einzelnen auf ganz verschiedenen und wesentlich andersartigen Risiken beruhen und die Berufsgefahren bei ihnen verschieden sind, daß die vorübergehende Krankheit andere Maßnahmen verlangt als die lang andauernde Erwerbsunfähigkeit, der Betriebsunfall anders zu werten ist als die aus anderen Gründen entstehende Erwerbsunfähigkeit. Das Versicherungsprinzip hingegen individualisiert und differenziert; bei ihm richten sich die Leistungen nach der Höhe der Beiträge — Anpassung an die verschiedenen Beitragsklassen —, die Höhe der Beiträge hängt ab von der Höhe des Lohnes, der Versicherte, der es durch Fleiß und Geschick zu einem höheren Lohn bringt, erhält auch höhere Leistungen.
Zu diesen Ausführungen können wir uns auch heute noch bekennen. Sie finden in der modernen
Auseinandersetzung um die Probleme des Wohlfahrtsstaats ihre Bestätigung in den Warnungen, die Professor Dr. Röpke im Sommer dieses Jahres in einer Artikelserie in der „Neuen Zürcher Zeitung" ausgesprochen hat.