Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit einer Anzahl mei-
*) Umdruck 496.
ner politischen Freunde bin ich der Ansicht, daß die Verabschiedung des Gesetzes nicht vorübergehen darf, ohne daß wir ernste grundsätzliche Bedenken gegen die Verabschiedung in dem jetzigen Zeitpunkt geltend machen.
Wir teilen die Sorgen, die den Bundesrat zu einer ablehnenden Haltung bewogen haben, und halten uns für verpflichtet, diese Sorgen auch in diesem Hause noch einmal zum Ausdruck zu bringen.
Ich spreche hier gewiß zunächst einmal als Berliner, wenn Sie gestatten, als ein Mann, der in dem Abwehrkampf dieser Stadt seit zehn Jahren mit an der Spitze steht und der selbstverständlich manche Vorgänge innerhalb des deutschen Vaterlandes mit etwas anderen Augen sieht, als sie draußen gesehen werden. Wir sehen aber ein, daß man im Schützengraben manches anders sehen muß als — Sie entschuldigen, das soll kein Vorwurf sein — in der Etappe. Sie wollen also bitte verstehen, daß man im Schützengraben und auch umgekehrt die Dinge jeweils mit ein wenig anderen Augen ansieht.
Ich glaube, daß man in Berlin keinen rechten Sinn dafür haben wird, daß in wichtigen Teilen unseres Landes jetzt ein Streit um Neugliederung einzelner Teilgebiete einsetzen wird.
Man plombiert nicht die Zähne, wenn der Patient
mit schwerem Schädelbruch im Krankenhaus liegt!
Dieses Bild bitte ich wirklich in seiner ganzen ernsthaften Bedeutung freundlichst würdigen zu wollen.
Wir verkennen nicht, daß das Grundgesetz uns eine gewisse Frist vorschreibt. Ich nehme diese Forderung durchaus ernst. Ich habe mich aber an dem maßgebenden Kommentar des Grundgesetzes, dem Kommentar von Mangoldt und Leibholz, überzeugt und zitiere daraus wörtlich:
Die im Abs. 6 vorgesehenen Fristen sind keine Präklusivfristen, die eine Neugliederung nach Ablauf der Fristen ausschließen sollen. Die Vorschrift enthält nur eine Mahnung an Bundesregierung und Gesetzgeber zu beschleunigtem Handeln.
Ich glaube also nicht, daß wir uns einer Verletzung der Verfassung schuldig machen, wenn wir der Ansicht sind: im gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Verabschiedung dieses Gesetzes nicht am Platze.
Wir verkennen auch nicht, daß es eine gewisse Mißlichkeit darstellt, wenn die innere Gliederung unseres Landes nach dem Diktat der Sieger erfolgt ist, wie das in großem Umfange tatsächlich geschehen ist. Wir verkennen auch nicht, daß wesentliche Bevölkerungsgruppen innerhalb dieser Landesteile nach einer neuen Ordnung drängen. Aber im großen und ganzen — vielleicht spreche ich auch da ein wenig aus der entfernten Perspektive — hat sich doch diese Neuordnung nicht schlecht bewährt. Sie hat den beispiellosen Aufstieg nach 1949 nicht verhindert und sogar in mancher Hinsicht erleichtert. Deshalb ist es kein Zweifel, daß sich die Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit an diesen Zustand einigermaßen gewöhnt hat, so daß ein unmittelbarer Zwang jedenfalls für uns nicht erkennbar ist.
Der entscheidende Einwand ist jedoch, daß angesichts der tatsächlichen Situation unseres Landes die ganze Initiative auf Grund dieses Gesetzes unzeitgemäß erscheint. Wir haben gerade in der vorigen Woche die sehr ernste Aussprache über das Ergebnis von Genf gehabt, und ich glaube, es gibt keinen unter uns, wo auch immer er stehen mag, der mit leichtem Herzen nach Hause gefahren ist.
Wir haben feststellen müssen, daß unser Land zerrissen und geteilt bleibt, und wir haben uns damit abfinden müssen, daß eine greifbare Aussicht auf eine Besserung dieses fürchterlichen Zustandes weder von der Regierung noch von den Sprechern dieses Hauses hat dargetan werden können.
Unter diesen Umständen erscheint es mir in der Tat unglücklich, daß wir das Interesse, die Aufmerksamkeit, die politische Initiative unserer Bevölkerung auf Dinge lenken, die von dem entscheidenden Ziele doch reichlich weit entfernt liegen.
Nun sehe ich völlig ein — auch von Berlin aus gesehen —: wir können nicht alle immer nur mit gefurchter Stirn und geballten Fäusten herumlaufen. Aber manchmal haben wir — und auch da bitte ich als Berliner sprechen zu dürfen — doch die Sorge, daß man etwas weiter entfernt .vom Eisernen Vorhang sich des ganzen schrecklichen Zustandes unseres Landes nicht recht bewußt ist
und daß die politische Arbeit sich auf die Beseitigung dieses Zustandes leider nicht entsprechend ernst und entschlossen genug einstellt. Deshalb haben wir Sorge, daß sich die Menschen draußen in Westdeutschland und Süddeutschland mit den doch verhältnismäßig kleinen Fragen der Gebietsumgliederung beschäftigen. Alles, was wir im Südweststaat und an anderen Stellen erlebt haben, beweist, daß dann die Leidenschaften sehr hoch gehen werden und daß die Menschen so tun, als wäre eigentlich das ihre einzige Lebensaufgabe. Meine Damen und Herren, denken wir doch einmal daran, wie oft in der deutschen Geschichte 'diese Kleinstaaterei mit all den territorialen Eifersüchteleien die Menschen von der Ohnmacht und der Zerrissenheit des Gesamtlandes abgelenkt hat und daß viel an der unglücklichen Entwicklung der deutschen Geschichte gerade auf diesen Umstand zurückzuführen ist. e
Aus diesen Gründen erscheint es mir ein wenig gefährlich, gerade jetzt, ohne daß wir wirklich gezwungen sind, diese Neugliederungspläne zu erörtern.
Das hat auch gewisse praktische Zusammenhänge. Meine Damen und Herren, der außenpolitische Zustand unseres Landes macht es doch unmöglich, die Neugliederung organisch und nach einem wirklich zusammenhängenden, geplanten System zu vollziehen. Wie wollen Sie etwa den Raum an der Niederelbe neu ordnen, wenn Sie nicht in irgendeiner Form die Landesteile auf der anderen Seite der Elbe mit einbeziehen? Sie können auch den Raum zwischen Hessen und Thüringen nicht ordnen, ohne an die Landesteile auf der anderen Seite zu denken. Wir werden also alle diese Dinge, die wir jetzt vorbereiten, womöglich von neuem durchexerzieren müssen, wenn einmal die Wiedervereinigung kommen sollte, von der wir doch hoffen, daß sie in absehbarer Zeit einmal erreicht werden kann.
Gestatten Sie mir auch noch einen Gesichtspunkt. 1 Es ist in unserer Bevölkerung, gerade auch in Norddeutschland, aber, glaube ich, auch außerhalb, das Gefühl doch stark lebendig, daß der Begriff Preußen nicht einfach mit einem Federstrich der Siegermächte ausgelöscht sein kann.
Ich weiß, daß viele und sehr gute Staatsbürger der Ansicht sind, daß diese Frage nach der Wiedervereinigung aufgerollt werden müßte. Nun bin ich selber, so leidenschaftlich ich an diesen Traditionen hängen mag, der Ansicht, daß nicht die alte Zeit einfach mechanisch wiederhergestellt werden kann. Aber ich würde auch die linke Seite des Hauses bitten, daran zu denken, daß sich mit dem Begriff Preußen keineswegs etwa, wie manche oberflächlichen Leute im Ausland behaupten, nur das konservative Junkertum verbindet. In der Zeit der Weimarer Republik von 1919 bis 1933 ist Preußen unter einer ausgesprochen republikanisch-demokratischen Staatsführung doch auch Träger der deutschen Staatsidee gewesen.
Und ob nicht — Kollege Gülich hat neulich sehr dankenswerterweise auf diese Zusammenhänge hingewiesen — Fragen des Lastenausgleichs und andere Fragen, die im Falle der Wiedervereinigung auftauchen, irgendeine Erörterung dieser Möglichkeiten nahelegen werden, das wird sich jeder selbst sagen müssen. Jedenfalls würde ich Bedenken haben, eine deutsche Neugliederung ernsthaft zu betreiben, wenn gerade diese preußischen Landesteile noch gar nicht in der Lage sind, sich an der Debatte oder gar an der Verwirklichung zu beteiligen.
Endlich, meine Damen und Herren, sehen wir auch den ganz unfertigen Zustand unseres Landes. Gewiß, der Bayer, der Pfälzer, der Waldecker, oder wer sonst jetzt mit Neugliederungsgedanken umgehen mag, fühlt sich auf seinem Heimatboden. Was ist aber mit den zehn Millionen, die in das Gebiet der Bundesrepublik hineingeflüchtet sind, hineingedrängt worden sind?
Was sollen meine drei Millionen schlesischen Landsleute denken, für die es doch ziemlich gleichgültig ist, ob sie sich zu Bayern oder zu Rheinland-Pfalz gehörig fühlen? Die sollen nun in einer Sache mit abstimmen, in der sie innerlich ganz unbeteiligt sind und die sie doch nur als ein höchst fragwürdiges Provisorium auffassen können.
— Trotzdem, Kollege Stücklen, wird selbstverständlich eine gewisse moralische Verpflichtung bei all den Gesetzen bestehen, ja es wird von den Menschen erwartet werden, daß sie sich an der Entwicklung des Gebiets, in dem sie leben, beteiligen. Jedenfalls scheint mir der ganze — auch siedlungsmäßige — Zustand unseres Landes noch zu unfertig, als daß man diesem Land jetzt das große Problem einer Neugliederung zumuten darf, die doch, wenn sie überhaupt Sinn haben soll, nur organisch sein darf, nur endgültig sein darf und alle Gesichtspunkte berücksichtigen muß, die heute gar nicht berücksichtigt werden können.
Aus diesem Grunde sieht sich ein Teil meiner politischen Freunde nicht in der Lage, diesem Ge-
2. Deutscher. Bundestag — 116. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1955 6231
setz zuzustimmen. Ich halte mich für verpflichtet, in ihrem Namen diese Bedenken zum Ausdruck zu bringen.