Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der Freien Demokraten begrüßt eine Aussprache über das hier zur Debatte stehende Thema, weil es nicht angängig ist, daß sich nur einige Experten und Publizisten der Frage der revolutionären Entwicklung auf dem Gebiete der modernen Waffentechnik und ihres Schutzes annehmen. Es ist nötig, daß auch unsere Bevölkerung von dem Ernst der Situation in aller Offenheit durch dieses Haus in Kenntnis gesetzt wird.
Wir sind in ein neues Zeitalter getreten, seitdem am 2. Dezember 1942 unter den Tribünen eines Sportstadions in Chikago der Natur ein Geheimnis entlockt, nämlich die Kernspaltung praktiziert worden ist. Dieses Ereignis oder die Explosion der ersten Atombombe am 16. Juli 1945 in der Wüste von Neu-Mexiko — ein Augenzeuge ist unter uns im Raum Bonn—Godesberg; es ist der amerikanische Botschafter Professor Dr. Conant — hat ein neues Zeitalter der Elektronik und Kernspaltung eingeleitet, das vielleicht genau so eine neue Menschheitsgeschichte eröffnen wird wie seinerzeit nach der Sage Prometheus, als er den Göttern das Feuer raubte und es den Menschen brachte.
In der deutschen Öffentlichkeit pflegen wir allzusehr noch in den technischen Daten des zweiten Weltkrieges zu denken, ohne zu wissen, was in den letzten zehn Jahren in der technischen Entwicklung auch das politische, das wirtschaftliche, ja das kulturelle Denken zu revolutionieren beginnt. Sie alle, meine Damen und Herren, kennen noch die Flak des zweiten Weltkrieges mit ihren Kalibern von wenigen Zentimetern über die bekannte 8,8cm-Kanone und 10,5 cm bis zu den schweren Schiffsgeschützen von 21 cm. Diese Flak des zweiten Weltkrieges wird nicht mehr gebaut, und wo sie noch vorhanden ist, wird sie, wenn man sie nicht nach dem Nahen Osten billig verkaufen kann, verschrottet werden, weil sämtliche Staaten die Abwehr heute auf die elektronengesteuerte Rakete umgestellt haben. New York, Washington, London, Paris und Moskau, sie sind von einem Raketengürtel umgeben, der durch wenige automatische Auslösungen sich selbst steuernde Raketen bis in die Stratosphärenhöhe schickt, wo sie den einfliegenden Bomber oder die einfliegende unbemannte Rakete vernichten sollen. Die Flak wird sich also auf die kleinen Kaliber zur Bekämpfung von Tieffliegerangriffen beschränken.
Auch die Flugzeuge mit ihren Jägergeschwindigkeiten beispielsweise von 900 Stundenkilometern am Ausgang des , Weltkrieges erreichen heute eine Stundengeschwindgkeit von maximal 2400 km, und die Entwicklung ist noch im Gange. Der Mensch
ist diesen Beanspruchungen fast gar nicht gewachsen. Das Problem liegt darin, den Menschen an diese technische Revolutionierung zu gewöhnen. Sie haben von den Manövern „Alert", „Coronet" und „Carte blanche" gelesen. Einige Tausend Flugzeuge haben sich über dem westeuropäischen Raum Kämpfe geliefert. Von den Einflügen und den Atombombenabwürfen hat unsere Bevölkerung, bis auf einige Kondensstreifen, kaum etwas gespürt. Warum? Weil die Maximalhöhen dieser Kämpfe, die noch im zweiten Weltkrieg bei 7000, 8000, 12 000 m lagen, heute durchweg über 15, 20 km liegen, d. h. die Luftkämpfe und Einflüge finden in Höhen statt, wo das Flugzeug dem. menschlichen Auge und Ohr nicht mehr wahrnehmbar ist.
Lassen Sie mich die Daten noch um einige weitere vervollständigen. Sie alle kennen in den Großstädten aus böser Erinnerung den Liberator-Bomber, der in der Fortentwicklung als Verkehrsflugzeug in neuer Form, in der Super Constellation, erschienen ist: vier Motoren, 38 m Flügelspannweite, 81/2 m Rumpfhöhe, 5 Mann Besatzung, Maximalhöhe 7000 m, maximale Reichweite zwischen 6- und 7000 km, Gesamtgewicht 60 t. Der neue Großbomber vom Typ B 54, eine Fortentwicklung des B 29, den sowohl die Sowjets wie auch die Westmächte haben, hat eine Flügelspannweite nicht von 38, sondern von 88 m, nicht 4, sondern 8 Motoren, nicht 5 Mann Besatzung, sondern 22 Mann Besatzung, nicht 7000 m, sondern 20 bis 25 km Maximalhöhen, Reichweiten von etwa 12- bis 20 000 km und die Möglichkeit, nach 12 000 km im Fluge zu tanken.
Diese Entwicklung ist vielleicht auch nicht mehr die neueste. In der technischen Entwicklung pflegt ja das, was wir kennen und was in den Manövern und in den Paraden gezeigt wird, nur das letzte zu sein; während sich das allerletzte bereits in der Serienfabrikation und das allerallerletzte in den Stuben und Laboratorien der Wissenschaftler ge. rade entwickelt wird. Mir scheint, daß nicht nur hier im Hause, sondern auch in der Öffentlichkeit viel zu wenig Kenntnis von der Entwicklung der Raketenwaffen vorhanden ist. Die Raketenwaffen sind uns noch aus dem zweiten Weltkrieg in Form der V 1 und V 2 bekannt. Die V 2 insbesondere versetzte der britischen Insel und der Hauptstadt London einen Schock, weil sie unangekündigt aus Stratosphärenhöhe schneller als der Schall einschlug, ohne daß eine Warnung möglich war. Daß die Invasionsarmeen so rasch an der Normandieküste entlangstürmten, war nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, daß man baldigst in den Besitz der Raketenabschußbasen kommen mußte, um den weiteren Nervenkrieg gegen die Hauptstadt Großbritanniens auszuschließen, wie sich ja überhaupt die Großangriffe der letzten Monate vor der Invasion gegen die Depots und gegen die Raketenabschußbasen der V 1- und V 2-Waffen richteten. V 1 und V 2 nehmen sich zu der neuen Raketenentwicklung aus wie etwa ein Fieseler Storch zu einem modernen Düsenjäger. Sie können es in der „Interavia", jener berühmten Fachzeitschrift der Schweiz, und in den entsprechenden englischen, amerikanischen und sowjetischen Fachzeitschriften nachlesen, und jeder Fachmann wird es Ihnen bestätigen. Nur bei uns weicht man anscheinend dieser grausamen Wahrheit aus.
Man unterscheidet heute drei Arten von Raketen, die auf beiden Seiten, der des Ostblocks wie der des Westblocks, zur Verfügung stehen. Eine Rakete ist insbesondere zur Abwehr einfliegender Bomber und Raketen und als Atomträger gedacht, jene von mir anfangs zitierten Raketengürtel um die Großstädte mit Schußweiten bis zu 150 km, ja vielleicht sogar schon mit Schußweiten bis zu 1000 km. Das heißt: mittels dieser Raketen, könnte bereits jeder Ort der Bundesrepublik von jeder Abschußbase der Sowjetzone aus erreicht werden, und umgekehrt könnte man aus der Bundesrepublik wiederum jeden Ort, jeden Flugplatz und jedes Objekt der Roten Armee drüben in der Zone erreichen.
Der zweite Typ ist die sogenannte mittlere Rakete als Atomkopfträger mit Schußweiten bis 3000 km; das heißt: aus jeder Abschußbase der Sowjetzone ist ganz Westeuropa bis Lissabon erreichbar und aus dem Gebiet der Bundesrepublik jeder Ort des Ostblocks bis Moskau.
Die dritte grausame Fortentwicklung ist dann die sogenannte Transkontinentalrakete mit Schußweiten von 7000 bis 10 000 km und mit Geschwindigkeiten von etwa 7- bis 10 000 km in der Stunde. Das bedeutet von dem Erkennen eines Projektils auf dem Radarschirm an Elbe und Werra bis zum Einschlag in New York eine Warnzeit von etwa 30 bis 35 Minuten und entsprechend umgekehrt von den Abschußbasen des Westens bis zum Einschlag in sibirische Fernziele ebenfalls die Warnzeit von nur einigen Minuten. Nun wissen Sie, meine Damen und Herren, daß die beiden großen Machtblöcke sich nicht nur an Elbe und Werra hier in Deutschland auf Handgranatenwurfweite oder auf Pistolenschußweite gegenüberstehen — hierin liegt ja die ganze Tragik der deutschen Situation, daß Deutschland militärisches Aufmarschgebiet zweier Blöcke geworden ist —, sondern sie stehen sich auch an der Beringstraße gegenüber, wie überhaupt der Nordpol das strategisch interessanteste Gebiet der Gegenwart ist.
Ein Professor Kapitza, ein nach der Sowjetunion eingewanderter Mitteleuropäer, hat in seiner Neujahrsansprache vor zwei Jahren als sogenannter „General Kapitza und Befehlshaber der nuklearen Verbände" erklärt, daß drüben an der Beringstraße die nuklearen Verbände der Sowjetunion in der Lage seien, jeden Ort der Vereinigten Staaten mit Atombomben-Raketen einzudecken. In der neuesten Entwicklung scheint es nach dem Urteil amerikanischer Fachleute so zu sein, daß die Sowjetunion um ein bis zwei Jahre dem Westblock voraus ist — daher die Anstrengungen der Amerikaner mit Professor Oberth und Wernher von Braun und anderen —, ja daß vermutlich die Sowjets in der Lage sind, die Wasserstoffbombe mit einer gegenüber der Atombombe von Hiroshima etwa 20 000fachen Sprengwirkung mittels der Transkontinentalrakete ins Ziel zu bringen. Wer in Amerika war — einige Kollegen verschiedener Ausschüsse sind ja Augen- und Ohrenzeugen —, wird bestätigen können, daß die Vereinigten Staaten dieser Situation in starkem Maße Rechnung tragen durch Luftschutzübungen, durch die Regelung ihres gesamten Verkehrswesens aus der Schau schneller Evakuierung ihrer Städte. Es erfüllt einen geradezu mit einer gewissen Sorge, wenn man sieht, in welchem Mißverhältnis zu der Bedrohung unsere Bemühungen in Deutschland stehen, auf die im einzelnen noch zurückzukommen sein wird.
Die Große Anfrage stellt die Frage, welche Konsequenzen man aus dieser revolutionären Entwicklung auf dem Gebiet der Elektronik und der Kern-
spaltung für die Planung der Streitkräfte zieht. Ich darf mir erlauben, das, was der Herr Bundesminister für Verteidigung hier schon dargelegt hat und was ich nachdrücklich unterstreiche, noch um das zu ergänzen, was in einem solchen Forum diskutiert werden kann, ohne militärische Geheimnisse preiszugeben. Die letzten Konsequenzen dieser neuen technischen Entwicklung können selbstverständlich nicht in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden, sondern sind, wie alle diese Fragen, dem Geheimnisschutz unterworfen.
Die Frage, wie wir uns bei der Erfüllung der Pariser Verträge in der Planung auch an die neuen Gegebenheiten anpassen müssen, ist schon Gegenstand mehrfacher Aussprachen und Konferenzen gewesen. Sie können auch in den verschiedensten militärfachlichen Werken darüber Diskussionen nachlesen: General Fuller, das neueste Buch von Miksche über Atomwaffen und Landstreitkräfte, die Erörterungen der Publizisten wie Liddell Hart, Weinstein u. a. Man soll diese Diskussionen nicht mit einer Handbewegung als das Geschreibsel von Journalisten abtun, sondern man sollte diesen Publizisten das Bemühen unterstellen, auch ihrerseits dazu beizutragen, auf die ungeheure Gefahr, die unserem Zeitalter droht, hinzuweisen.
Selbstverständlich werden wir, Herr Kollege Erler, bei den Planungen unserer Verbände auf die neue Situation dadurch Rücksicht nehmen müssen, daß wir sie noch kleiner machen, als wir es ohnehin schon vorhatten. Die Mammutdivisionen von 15- bis 18 000 Mann gehören der Vergangenheit an, ja selbst die mittleren Divisionen der 12 000-MannStärke. Vermutlich werden wir Divisionen von Ibis 8000 Mann haben, also kleine hochgepanzerte, schnelle, bewegliche Einheiten, die weitestgehend von der Versorgung eines Riesentrosses unabhängig sind und aus sich selbst solange wie möglich existieren können, — jene Frage, die auch der Oberstleutnant a. D. Miksche in seinem Buch sehr anschaulich dargelegt hat.
Wir werden in bezug auf unsere Seestreitkräfte gewisse Konsequenzen ziehen, wobei dieses Thema uns selbst hier nicht sehr viel berührt bei der Kleinheit unseres Beitrages von U-Booten nur bis zu 300 t und leichten Kreuzern bis zu 3000 t. Das berührt mehr die großen Marinemächte. Wenn man liest, daß bei den Bikini-Versuchen Schlachtschiffe in Entfernungen von 600 Metern von der Explosion der über dem Wasser explodierenden Bombe und bei Unterwasserexplosionen bis zu 1000 Meter versenkt wurden und das Wasser über viele Quadratkilometer tagelang radioaktiv war, dann ermißt man auch die Problematik der Marine im Zeitalter der Elektronik und der nuklearen Waffen. Bezüglich der Konsequenzen, die wir für unsere Luftwaffe — selbstverständlich im Einvernehmen mit unseren Partnern — ziehen müssen, braucht hier ebenfalls nicht weiter gesprochen zu werden.
Wir werden also — wenn ich diesen Teil abschließen darf —, Herr Kollege Erler, weitestgehend den neuesten Erfahrungen unserer Partner in Gliederung, Ausrüstung und Bewaffnung und in der Führung der Verbände Rechnung tragen müssen. Das Schlachtfeld würde in einem Weltkrieg mit nuklearen Waffen noch leerer werden, die Divisionen würden noch mehr auf sich selbst gestellt sein, sie würden mit noch größeren Verlusten rechnen müssen als unter den Flächenbombardements des 2. Weltkriegs.
Aber — und das ist die Kernfrage — durch die Revolutionierung der modernen Waffen sind Landstreitkräfte nicht schlechthin überflüssig geworden. Ganz im Gegenteil, auch das Manöver der Carte blanche stellt fest — genau so wie Alert und Coronet —, daß die beiderseitigen Luftwaffen sich so hohe Verluste zugefügt haben, daß am Ende ein Patt erreicht wurde und man dazu überging, die Auseinandersetzung mit den klassischen Waffen fortzusetzen. Das heißt, die letzte Entscheidung hatte doch wieder die Panzer- oder Infanteriedivision. Hier liegt, glaube ich, eine wichtige Aufklärungsaufgabe aller um die deutsche Sicherheit besorgten Kräfte vor. Man muß den Eindruck vermeiden, daß durch die Revolutionierung der atomaren Kriegstechnik die klassische Bewaffnung und der klassische Soldat schlechthin altes Eisen geworden sind und man sich um sie nicht mehr zu bekümmern braucht. Ganz im Gegenteil, je mehr auf den beiden Seiten das Gleichgewicht der atomaren Rüstung erreicht ist — ich denke an das, was Herr Chruschtschow über die Explosion der Wasserstoffbombe mit einigen Millionen Tonnen Trinitrotoluol gesagt hat —, um so mehr wird die Gefahr heraufbeschworen, daß man regional und lokal bedingte Auseinandersetzungen mit den klassischen Waffen führt und sich scheut, zu dem letzten Mittel, der Vernichtung durch atomare Waffen, zu greifen.
Hier liegt meines Erachtens auch ein Beweis durch die Russen selbst vor. Während die Sowjets sich auf der einen Seite rühmen, das Modernste an Wasserstoffexplosionen ausgelöst zu haben — Herr Chruschtschow dementierte, daß er nur eine Million Tonnen, eine Megatonne, gemeint habe, es handele sich um mehrere Millionen Tonnen TNT-Sprengstoff —, sind sie nicht bereit, ihre 175 Panzer- und motorisierte Divisionen abzurüsten. Sie werden sagen: Doch, sie haben ja 600 000 Mann frei gemacht. Auch die Amerikaner haben einige Hunderttausend frei gemacht, auch die Engländer. Meine Damen und Herren, diese Verringerung der klassischen Bewaffnung ist nur zurückzuführen auf die strukturelle Veränderung, die Neugliederung der Landstreitkräfte, d. h. auf die Verringerung der Größe der modernen Division auf die Stärke von 7000 bis 9000 Mann. Die freiwerdenden Kräfte kann man dann der technischen Entwicklung, insbesondere der Luftwaffe oder gar der Rüstungsproduktion zur Verfügung stellen.
Lassen Sie mich nun zu der zweiten Frage Stellung nehmen, zu der Frage: Was tun wir für unsere Bevölkerung auf dem Gebiete der Luftwarnung und was auf dem Gebiete des Luftschutzes? Herr Kollege Erler, es ist schwer, zehn Jahre, nachdem man die deutschen Luftschutzbunker auf alliierten Befehl sprengen mußte oder sie zu Depots, zu Wohnhäusern umbaute, ja, sogar manchmal zu Kirchen, nunmehr der deutschen Bevölkerung wieder die Notwendigkeit neuer Luftschutzbauten klarzumachen.
Die psychologischen Fehler alliierter und auch deutscher Nachkriegsmaßnahmen rächen sich. Man trifft nicht ungestraft von der Geschichte Fehlentscheidungen. Wir glaubten — wir alle —, daß die Entwicklung vielleicht an uns vorbeigehen würde, daß wir in Deutschland eine ruhige Insel inmitten des Meeres der Spannungen darstellen würden. Ganz im Gegenteil, die Weltgeschichte hat, wie Kollege Kiesinger einmal hier sagte, keine Pause für Deutschland eintreten lassen, sondern Deutsch-
land ist mitten hineingestellt in das Spannungsfeld der globalen Auseinandersetzung zwischen Weiß und Rot. Es gilt, sich mit den Gegebenheiten abzufinden und daraus die Konsequenzen zu ziehen.
Der Herr Bundesverteidigungsminister hat keine Antwort auf die Frage gegeben, ob das deutsche Luftwarnsystem bereits an das NATO-Luftwarnsystem angeschlossen ist, d. h. ob wir bereits Kenntnis erhalten von der Überwachung des Luftraums durch die Radarstationen der Westmächte, die an Elbe und Werra stehen und einige Hundert Kilometer, etwa 4- bis 600 km, kontrollierend nach Mitteldeutschland einsehen können, während umgekehrt auf der anderen Seite, am anderen Ufer von Elbe und Werra die Radarstationen der Sowjets stehen, die ihrerseits kontrollierend bis hier zu uns hineinschauen können und mit den Mitteln der modernen Radartechnik — Radio detecting and ranging - genau registrieren können, wieviel Züge aus dem Kölner Hauptbahnhof ein- und ausfahren, wieviel Flugzeuge in Düsseldorf-Lohausen starten und landen — oder in Frankfurt oder in Fürstenfeldbruck — und welche Typen es sind. Ich hoffe, daß wir schon jene Verknüpfung unseres Schicksals mit dem Schicksal unserer Partner erreicht haben, daß auch wir an dieses Radarwarnsystem angeschlossen sind oder ein eigenes Radarwarnsystem für unsere Bevölkerung entwickeln, zumal da wir nicht wie die Vereinigten Staaten den Atlantischen Ozean mit seinen 4000 Kilometern zwischen uns und den anderen haben, es also bei uns nicht um 30, 35 Minuten geht, sondern vielleicht nur um wenige Minuten. Daß es um Minuten geht, hat der General Gruenther in Unterstreichung der Bedeutung des Radarwarnsystems ja unlängst öffentlich gesagt: Es geht um Minuten!
Wie weit ist dieses Luftwarnsystem bereits von der Radarwarnung auch auf die einfache Luftüberwachung, die wir im zweiten Weltkrieg hatten und die sich nicht nur bei uns, auch auf der Britischen Insel bewährt hat, ausgedehnt? Vielleicht wird es nicht nötig sein, hier darüber zu sprechen, sondern im Ausschuß für europäische Sicherheit und dem Ausschuß, dem das Luftschutzwesen obliegt.
Über das Radarsystem insgesamt und die Bedeutung von Radio detecting and ranging zu sprechen, würde hier zu weit führen. Auch hier darf ich auf Schriften hinweisen wie „Interavia", auf die Aufsätze, die insbesondere der beste Radarspezialist, den wir haben, der Staatssekretär im Wirtschafts-
und Verkehrsministerium in Düsseldorf, Professor Dr. Brandt, veröffentlicht hat. Einige Damen und Herren dieses Hauses hatten ja Gelegenheit, vor Jahresfrist diesen Experten in einem außerordentlich eindrucksvollen Lichtbildervortrag zu hören.
Daß Luftschutz trotz der ungeheuren Entwicklung der Zerstörungstechnik der modernen Waffen nicht überflüssig geworden ist, ist auch eine Aufgabe der Aufklärungsaktion unserer öffentlichen Meinung. Denn viele Menschen sagen: Wenn es so ist, daß die Atombombe von Hiroshima und Nagasaki nur 20 000 t TNT-Sprengstoff darstellte, dagegen die moderne Atombombe zehn Jahre danach schon ein Vielfaches und die Wasserstoffbombe gar 12 bis 18 Millionen t Trinitrotoluol in ihrer Sprengkraft in sich birgt, — was hat es dann noch für einen Zweck, in das Häuschen einen Luftschutzkeller einzubauen oder Luftschutzbunker zu errichten?
Das wäre eine ganz gefährliche Antwort, und es wäre nichts schlimmer, als wenn sich in unserer Bevölkerung ein sogenannter Luftschutznihilismus breit machte: „Es hat ja doch keinen Zweck." Wer sagt, es hat keinen Zweck, der hat in einer Gefahr schon verloren; denn die Menschheitsgeschichte beweist, daß in dem Augenblick, da gefährliche Mittel gegen die eine Seite erfunden wurden, die Natur der anderen Seite oft die Gegenmittel zur Verfügung stellte, nicht nur auf dem Gebiet der modernen Arzneimittel, der Biologie und der Biochemie. Aureomycin, Streptomycin sind die Fortentwicklungen des Penicillins; auf die Panzer folgte die Panzerabwehrwaffe, auf die Flugzeuge die Flugzeugabwehr und auf die Rakete die elektronisch gesteuerte Gegenrakete. Es ist nichts im Leben hoffnungslos, es sei denn, man gibt sich selbst auf, und der Mensch pflegt ja in solchen Situationen des Menschen ärgster Feind zu sein, wenn er eine Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit verbreitet. Es gibt Beweise genug, daß Maßnahmen auch gegen die modernen atomaren Waffen Hilfe bringen. Wir haben von Fachleuten in einem Ausschuß dargestellt erhalten, daß, wenn die Atombombe von Hiroshima jetzt auf die Stadt Düsseldorf mit ihren 600 000 Einwohnern geworfen würde, mit 280 000 Toten, mit 190 000 Verletzten und mit 130 000 Unverletzten gerechnet werden müßte. Wenn dagegen jene Luftschutzmaßnahmen ergriffen werden, die jetzt durch das Bundesinnenministerium und durch die Luftschutzorganisationen wieder der Bevölkerung nahegebracht werden, wären die Verlustziffern beim Fallen einer Hiroshima-Atombombe mit der Sprengkraft von 20 000 Tonnen TNT 15 000 Tote und nicht 280 000, 210 000 Verletzte und 375 000 Unverletzte und nicht nur 130 000 Unverletzte. Sie wissen, daß schon die Atombombe, die auf Nagasaki fiel, wesentlich weniger Verluste mit sich brachte als die Atombombe auf Hiroshima mit ihren weit über 100 000 Toten. Das lag zum Teil an der Struktur der Landschaft — der berühmte tote Winkel des Infanteristen spielt auch in der atomaren Kriegstechnik eine Rolle, allerdings in ganz anderen Dimensionen —, zum Teil daran, daß auch Nagasaki schon in der Lage war, gewisse Schutzmaßnahmen zu entwickeln. An diesem Beispiel Düsseldorf — eins von vielen also — ist sehr drastisch nachgewiesen, daß auch im Atomzeitalter die Möglichkeit eines Schutzes gegeben ist, allerdings kaum für die unmittelbar unter dem Sprengkegel liegenden Einrichtungen. Die Totalvernichtungszone aber hat eben nur — das „nur" fällt mir schwer — einen Radius von 1500 Meter.
Auch aus der Kriegsgeschichte läßt sich herleiten, daß es Abwehrmöglichkeiten gibt und die Theorie Gott sei Dank nicht durch die Praxis bestätigt wurde. Ich darf wiederholen, was ich schon in einer Debatte um den Wehrbeitrag dargelegt habe: Der italienische General Douhet hat uns nachgewiesen, daß durch die modernen Bomber mit einer Bombenlast von einigen Tonnen pro Flugzeug der zweite Weltkrieg nur durch die Luftwaffe, und zwar in wenigen Tagen und Wochen, entschieden werden würde. Auch General Douhet hat damals den Luftkrieg überschätzt und die zur Abwehr getroffenen Maßnahmen unterschätzt. Er konnte nicht wissen, was dann später wirklich auf Deutschland gefallen ist, nämlich 2 Millionen Tonnen Sprengstoff. Auf manche Städte sind in 1500 Angriffen 100- bis 200 000 Tonnen gefallen, und trotzdem ist das, was General Douhet sagte, nicht eingetreten, nämlich
das Ausradieren des deutschen menschlichen und materiellen Potentials.
— Es hat gereicht, das gebe ich zu. Aber General Douhet ist widerlegt worden durch den Willen zur Abwehr und zum Selbstschutz. Nicht mehr wollte ich durch dieses Beispiel hier dartun.
Es würde nicht genügen, wenn wir lediglich Luftschutzmaßnahmen in Form des Baues von Bunkern oder der Einrichtung eines Warnsystems durchführten, das bei unseren Entfernungen und bei den unerhörten Geschwindigkeiten ohnehin etwas illusorisch ist; es werden uns hier gerade noch Minuten verbleiben. Sehr wichtig ist auch die Anlage von Depots, insbesondere von Lebensmittel- und Sanitätsdepots, und die Lösung der Frage: besteht die Möglichkeit, bei drohender Kriegsgefahr durch internationale Vereinbarungen sogenannte freie Zonen zu errichten, in die die Bevölkerung evakuiert wird? Evakuierung ist das große Zauberwort des amerikanischen Luftschutzes. Warum baut man wohl an Chikago heran, an der Michigan-Avenue eine achtbahnige Straße mit versenkbaren Bordsteinen? Doch nicht etwa, um den Chikagoer Bürgern am Morgen die Hineinfahrt zu ihrem Dienstort auf sechs Fahrbahnen — zwei Fahrbahnen dienen hier für die Herausfahrt — und am Abend die schnelle Herausfahrt zu ermöglichen, sondern, wie man mir bestätigt hat, um Chikago, das einige Millionen Einwohner und etwa 1 Million Kraftfahrzeuge besitzt, bei der Gefahr drohenden Krieges in wenigen Stunden auf diesen acht Fahrbahnen zu evakuieren. Das Problem der Highways, überhaupt der Regelung des amerikanischen Verkehrs ist in erster Linie eine Luftschutzfrage. Man sollte auch bei uns das Verkehrsproblem in dieser Sicht betrachten, die Möglichkeit einer schnellen Evakuierung unserer Millionenstädte, wenigstens der Frauen und Kinder, zu schaffen.
Sie wissen, meine Damen und Herren, daß es im zweiten Weltkrieg auf beiden Seiten Flugblätter gegeben hat, die gewisse Städte vor dem Bombenabwurf gewarnt haben. Auch im Ruhrgebiet fielen in den letzten Kriegsmonaten Flugblätter, die die Angriffe ankündigten und der Zivilbevölkerung die Chance gaben, sieh in Sicherheit zu bringen. Dieses Beispiel verstärkt in mir die Hoffnung, daß die Möglichkeit gegeben ist, im Rahmen internationaler Abmachungen für die nicht kämpfende Bevölkerung, d. h. für Frauen und Kinder, sogenannte Sicherheits- oder Evakuierungszonen festzulegen. Der sehr rührige Vizepräsident des Deutschen Roten Kreuzes, der Ministerialdirektor im Bundesinnenministerium, Bagatzki, hat diese Anregung vor einem Jahr aufgenommen und bestätigt, daß man über dieses Thema auf den internationalen Konferenzen gesprochen habe, daß aber die Realisierung dieses Wunsches, zumal angesichts des Gegners auf der anderen Seite und wohl auch dessen Einstellung zum Völkerrecht und zur Haager und Genfer Konvention leider schwer zu erreichen sein werde.
Der Bundesminister Dr. Schäfer hat vor wenigen Wochen auf die Problematik der ärztlichen Versorgung in Katastrophenzeiten hingewiesen und sich bemüht, das Augenmerk auf den Mangel an Krankenschwestern und Pflegepersonal schon in Friedenszeiten zu lenken, mit dem Erfolg, daß sein Vorschlag karikiert wurde, unter dem Motto „Mädchen in Uniform". Meine Damen und Herren, der schönste Luftschutzkeller nützt nichts, und auch die Evakuierungsmaßnahmen genügen nicht, wenn nicht in Synchronisation mit diesen Maßnahmen Sanitäts- und Lebensmitteldepots und eine genügende Menge geschulten Hilfs- und Pflegepersonals zur Verfügung stehen. Man sollte also der Frage, wie wir die deutschen Frauen und Mädchen auf freiwilliger Basis als Pflege- und Hilfspersonal in Katastrophenzeiten ausbilden wollen, mehr Beachtung schenken als nur in der Form der Ausnutzung eines solchen Vorschlages für kabarettistische und illustrierte Witzdarstellungen.
Es war kein Geringerer als der Feldmarschall Montgomery, der bei unserer Anwesenheit in Paris die Wichtigkeit der Heimatverteidigung und des Luftschutzes unterstrich. Was nutzt nachher eine gelungene Aktion, wenn der Substanzverlust so groß ist, daß nichts mehr von diesem Volk übriggeblieben ist?
Die uns verbliebene Substanz beiderseits der Elbe so weit wie möglich zu schützen, sollte das Hauptanliegen auch unserer Verteidigungs- und Sicherheitsplanung sein. Man sollte auch den Mut haben, über die Frage der Aufnahmegebiete zu sprechen: Wo darf bei drohender Kriegsgefahr die Hamburger, die Münchener, die Frankfurter Mutter mit ihren Kindern hin? Muß sie an der belgischen, französischen, Schweizer Grenze damit rechnen, abgewehrt zu werden? Oder ist auch im Rahmen der westeuropäischen Verteidigung ein Evakuierungsprogramm in europäischer, ja sogar in atlantischer Sicht geplant? Ich erinnere daran, daß England einen Teil seiner gefährdeten Bevölkerung nach Kanada beförderte. Man sollte also auch bei uns diesem heiklen Problem seine Aufmerksamkeit widmen.
Nach diesen etwas sehr erschütternden, vielleicht sogar schockierenden Darstellungen über das Ausmaß der modernen Vernichtungsentwicklung lassen Sie mich zum Schluß einige tröstliche Dinge sagen. Wir wollen nicht den Teufel an die Wand malen und um Gottes willen nicht unsere Bevölkerung in eine Panikstimmung versetzen; wir wollen ihr aber auch nicht die Illusion geben, daß diese kleine Fettschicht auf. dem sogenannten deutschen Wirtschaftswunder, dem leider kein soziales und schon gar nicht ein geistiges Wunder gefolgt ist, genüge, um die deutsche Bevölkerung in jenem Sicherheitsgefühl zu belassen, das sie heute manchmal hat.
Nur dieser Sorge gelten die Ausführungen. Aber durch diese Entwicklung der modernen Waffen auf beiden Seiten ist auch das eingetreten, was Winston Churchill im Unterhaus wie folgt darlegte: Die Furcht ist heute die Tochter des Friedens geworden. Das heißt, auf beiden Seiten ist man so sehr mit den modernsten Vernichtungswaffen ausgerüstet, daß ein dritter Weltkrieg beide Seiten mit unerhörten Vernichtungswellen überfluten würde, so daß es keine Sieger und keine Besiegten mehr gäbe, sondern einen Akt der Vernichtung der Zivilisation. Vielleicht würde dann nach dem Zeitalter der Elektronik und der Kernphysik wieder ein Steinzeitalter beginnen. Wir sind ohnehin schon auf dem besten Wege, wieder in die Erde zu kriechen,
wenn ich an die Anstrengungen der schwedischen Industrie denke, sich in ihre Felsen hineinzubauen. Der Steinzeitmensch ist bereits auf neuem Wege!
Es wird zweckmäßig sein, die Planungen, die wir auf dem Gebiet der Verteidigung durchführen, so zu synchronisieren, daß es hier nicht zu einem Durcheinander kommt. Ich stimme Herrn Kollegen .Erler völlig zu: Das Schlimmste, was uns passieren könnte, wären eifersüchtige Ressortstreitigkeiten, die dann verhindern, was in der Sache getan werden muß. Ich erinnere: auch in Amerika hat man den ersten Entwicklungen in der Atomphysik nur 6000 Dollar bewilligt, und die Fachleute, angefangen von Professor Einstein, Niels Bohr, Lise Meitner bis zu Herrn Professor Dr. Conant, hatten große Mühe, gerade die Militärs, die allzusehr im Denken der Vergangenheit befangen waren, von der revolutionären Entwicklung zu überzeugen. Am Ende sind dann 2 Milliarden Dollar allein bis zur Explosion der Hiroshima-Bombe ausgegeben worden. Sie sehen: welche riesigen Leistungen! Seien wir unseren Partnern aus der atlantischen Verteidigungsgemeinschaft dankbar, daß sie für uns Forschungs- und Entwicklungsaufgaben übernommen haben, die wir aus eigener Kraft gar nicht lösen können.
Das Tröstliche unserer Situation ist schließlich, daß wir nicht allein auf weiter Flur stehen, sondern daß die Bundesrepublik in ein atlantisches Verteidigungssystem eingebettet ist. Europa und seine Freiheit können nicht aus der Kraft Deutschlands, auch nicht aus der Kraft des restlichen Europa geschützt werden, sondern man braucht die Hilfe des großen atlantischen Bruders, der Vereinigten Staaten. Da wir diese Hilfe besitzen, sollten wir bei aller Sorge um unsere gefahrvolle Situation in der Bundesrepublik auch die Hoffnung hegen, daß am Ende über weitere Konferenzen doch jenes kollektive Sicherheitssystem gefunden wird, das uns aus der Spannung löst, Aufmarschgebiet zweier Militärblöcke geworden zu sein, das Europa aus der Spannung löst und das die Menschheit wieder aufatmen läßt, weil der dritte Weltkrieg nicht stattfindet! Denn über den politischen Parteien sollten Deutschland und der Wille zur deutschen Wiedervereinigung stehen, über Deutschland das europäische Bewußtsein, aber der Friede, meine Damen und Herren, über alles, über alles in der Welt.