Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand ist wohl mit hochgespannten Erwartungen an den Beginn der Genfer Konferenz herangetreten, aber eine starke innere Anteilnahme hat uns wohl alle bewegt. die wir von Deutschland aus das Auf und Ab des Ringens in Genf beobachten konnten. Zu hochgespannten Erwartungen war schon kein Anlaß mehr, als der von den vier Regierungschefs beschworene Geist von Genf sich bereits wenige Stunden nach dem Abschiedsgruß zu verflüchtigen begann. Die Äußerungen, die Herr Bulganin und sein Begleiter bei dem Besuch in Pankow von sich gaben, ließen erkennen, daß das Ringen der vier Außenminister um die Verwirklichung der Direktiven im Oktober doch zu besonderen Erwartungen nur wenig Anlaß geben würde.
Das Ergebnis liegt nun vor uns, und der eingehende Bericht des Herrn Bundesaußenministers hat
uns noch einmal den ganzen Ablauf der Geschehnisse vor Augen geführt. Ich empfehle jedem, die ausgezeichnete Materialzusammenstellung unseres Auswärtigen Amts einmal wirklich in einer ruhigen Stunde allein für sich zu studieren. Es ist daraus viel zu entnehmen. Ohne ein sorgfältiges Studium alles dessen, was dort von westlicher und von östlicher Seite zum Deutschlandproblem gesagt worden ist, finden wir keine sichere Grundlage eines eigenen Urteils. Abgesehen davon ist es geradezu ein Lehrbuch für dialektische Verdrehungskünste.
Die Arbeitsgrundlage der vier Außenminister war eine Direktive, auf die sich die Regierungschefs geeinigt hatten. Es ist nicht zu verkennen, daß bei der Formulierung dieser Direktive ein Kompromiß zustande gekommen war. Bei dem Ringen urn diesen Kompromiß sind eben Formulierungen hineingekommen, die keineswegs so eindeutig und unmißverständlich waren, daß sie Herrn Molotow nicht die Möglichkeit gaben, stunden- und stundenlang über Tage hinweg Auslegungsstreitigkeiten über die Direktive anzuzetteln, also über die Grundlage der ganzen Arbeit. Es nützte nichts, daß die Außenminister der drei Westmächte immer wieder darauf verwiesen, daß die Regierungschefs sich geeinigt hätten, Deutschland auf der Grundlage freier Wahlen zu vereinigen. Es nützte auch nichts, als der Außenminister Dulles Herrn Molo-tow darauf hinwies, daß Herr Bulganin derjenige war, der in dem Gespräch der vier Regierungschefs gesagt hatte, daß es ein „gewaltiger" Fortschritt sein würde, wenn man Deutschland auf der Grundlage freier Wahlen wiedervereinigen könne. Auf diese Argumente wußte Herr Molotow immer nur eine Entgegnung zu machen: Man verkenne die reale Lage, die sich im Laufe von zehn Jahren auf dem deutschen Gebiet entwickelt habe; es seien zwei selbständige souveräne deutsche Staaten entstanden. An einer Stelle seiner vielen Reden verstieg sich Herr Molotow sogar zu der Behauptung, es sei völlig irreal, anzunehmen, daß man die Sicherheit Europas in Verbindung bringen könne mit einem noch gar nicht existierenden deutschen Staat. Also Negativa über Negativa!
Vielleicht gestattet mir der Herr Präsident, einige Sätze aus einem zusammenfassenden Urteil zu verlesen, das der englische Außenminister an einem der letzten Sitzungstage abgegeben hat. Diese zusammenfassende Darstellung gibt wohl den Eindruck der drei westlichen Außenminister über die grundsätzliche Haltung der Sowjetunion wieder. Es heißt dort: Was hat die Sowjetregierung denn tatsächlich gesagt? Das sagte Herr MacMillan in der Sitzung vom 9. November 1955:
1. Deutschland kann nicht wiedervereinigt werden, ehe nicht die NATO und die Westeuropäische Union beseitigt sind.
Wohlgemerkt: nicht etwa der Austritt Deutschlands aus der NATO und der Westeuropäischen Union, sondern die Beseitigung dieser Sicherheitsvorkehrungen insgesamt!
Die Sowjetregierung ist bereit, das Glück, die Einheit und die Unabhängigkeit des deutschen Volkes als Schachfiguren in ihrem auf Zerschlagung des westlichen Verteidigungssystems gerichteten Spiel zu benutzen.
2. Selbst wenn die NATO und die WEU — so sagte Herr MacMillan —
vernichtet werden sollten, würde die Sowjetregierung immer noch nicht dem deutschen Volke Freiheit und Unabhängigkeit geben. Selbst dann wird für das deutsche Volk keine Wahl bezüglich seiner Zukunft bestehen. Es muß das abscheuliche System annehmen, das Ostdeutschland aufgedrängt wurde, oder widrigenfalls weiterhin geteilt bleiben.
Das ist der Eindruck, den auch die beiden anderen westlichen Außenminister mit ähnlichen Worten — und zwar nach meiner Auffassung zutreffend — wiedergegeben haben, der Eindruck davon, was Sowjetrußland in Wahrheit auf der Genfer Konferenz gesagt, gefordert und verlangt hat.
Wenn wir, um einen eigenen Standpunkt zu finden, nun das Ergebnis von Genf noch etwas genauer betrachten, dann möchte ich von zwei Eindrücken sprechen, die wir bei dem Studium der Reden gewinnen. Der eine Eindruck enthält zweifellos eine Reihe beachtlicher Positiva. Die drei Außenminister der Westmächte sind nicht müde geworden, immer wieder neue Argumente herbeizutragen, um das Unrecht der zehn Jahre währenden Spaltung Deutschlands vor Augen zu stellen und nachzuweisen, daß ohne die Wiederherstellung eines einheitlichen deutschen Staates keine Sicherheit für Europa denkbar ist. Auch meine politischen Freunde stehen nicht an, für diese Haltung der drei Westaußenminister ein Wort des Dankes zu sagen.
Dieser Dank soll in keiner Weise herabgemindert werden, wenn ich mir gestatte, darauf hinzuweisen — was Herr Kiesinger uns vor etwa einer Stunde hier mit sehr gewichtigen Argumenten vortrug —, daß wir uns in der glücklichen Lage befanden, daß unser deutsches Interesse mit dem Interesse der westlichen Alliierten übereinstimmte. Ich meine, diese Feststellung sollten wir im Auge behalten.
Wir sollten des weiteren bedenken, daß die westlichen Alliierten eine doppelte Verpflichtung in der Deutschlandfrage tragen,
einmal die Verantwortung als Besatzungsmächte — deren sie sich auch bewußt sind; das ist auch in Genf zum Ausdruck gekommen —, und zum anderen die vertraglichen Verpflichtungen, die sie gegenüber der Bundesrepublik in den Pariser Verträgen bzw. in der Londoner Schlußakte übernommen haben.
Das sollte man nicht vergessen, wenn man hier ein Wort des Dankes ausspricht; denn wir sollten nicht so leicht glauben, daß diese so sehr positive und für uns begrüßenswerte Haltung uns auch dann erhalten bleiben wird, wenn einmal die Entwicklung dahin gehen sollte, daß das westliche Sicherheitsbedürfnis nicht mehr hundertprozentig mit den Besorgnissen und Wünschen der Bundesrepublik oder gar Gesamtdeutschlands zusammenfällt.
Das ist eine Einschränkung, die an dieser Stelle doch wohl nötig ist.
Herr Bundeskanzler, Sie haben heute ein Wort gesprochen, das ich nicht ganz unwidersprochen
hinnehmen möchte oder das ich wenigstens für aufklärungsbedürftig halte. Sie meinten, daß wir hinsichtlich der öffentlichen Behandlung der Deutschlandfrage zwischen Szylla und Charybdis hindurchzusteuern versuchen müßten. Wir müßten einmal dafür sorgen, daß man die Deutschlandfrage in der internationalen Politik nicht vergißt und nicht in die Schublade legt; aber wir müßten auch verhindern, daß die freie Welt der Behandlung dieser Frage einmal überdrüssig werde. Verehrter Herr Bundeskanzler, hier scheint mir ein Widerspruch vorzuliegen. Der Herr Außenminister und auch Herr Kiesinger wiesen darauf hin — und ich halte das für zutreffend —, daß das Sicherheitsbedürfnis der freien Welt mit den Sicherheitsinteressen und den Wiedervereinigungsinteressen Deutschlands übereinstimme. Ich kann mir deshalb beim besten Willen nicht vorstellen, wann die freie Welt einmal dieser Haltung überdrüssig sein sollte. Ich möchte meinen, das ist doch kaum denkbar. Deshalb halte ich diese These des Herrn Bundeskanzlers nicht für richtig und meine, daß das deutsche Volk in allen seinen Gliederungen, in allen seinen politischen Richtungen, aber auch in allen seinen gesellschaftlichen Zusammenschlüssen die große Verpflichtung hat, von sich aus dafür zu sorgen — auch wenn die Nerven der anderen strapaziert werden sollten —, daß das Gespräch über die Deutschlandfrage niemals zum Verstummen kommt.
Auf den Zeitpunkt, wo die andern dessen einmal überdrüssig werden sollten, können wir getrost warten. Dann muß sich die Weltlage doch sehr stark geändert haben, dann muß das große gemeinsame Interesse nicht mehr vorhanden sein. Für Deutschland wäre es traurig, wenn diese Stunde eines Tages käme.
Völkerrechtliche Verträge scheinen immer dann am haltbarsten zu sein, wenn die Interessenlage der beiden Vertragspartner übereinstimmt. Die eigentliche Bewährung der Loyalität und der Vertragstreue beginnt erst in dem Augenblick, wo die Interessenlage einmal schwierig zu werden beginnt.
Deswegen sollten wir das Wort von der Vertragstreue, von der Loyalität und von dem Danksagen nicht so sehr in einer Zeit verbrauchen, in der die loyale Haltung selbstverständlich ist, weil sie vom eigenen Interesse bestimmt wird, sondern wir sollten uns dieses Wort für eine Zeit aufsparen, wo wir vielleicht einmal von der freien Welt verlangen müssen, daß sie auch unter Einschränkung ihrer eigensten Interessen hier den Vorposten der freien Welt gegen den Osten stützen muß, auch wenn sie einmal echte Opfer zu bringen genötigt sein könnte.
Die zweite Seite des völlig negativen Eindrucks, von dem ich schon sprach, ist, daß zum erstenmal von der Sowjetunion ex officio auf einer Konferenz das Argument für ihren Widerstand gegen die sofortige Wiedervereinigung angeführt wurde, ein Argument, mit dem sie sich nunmehr in innerpolitische deutsche Verhältnisse einmischt. Niemand wird verkennen, was diese neue These für die Lösung der Deutschlandfrage bedeutet. Sie verschiebt die ganze bisherige politische Betrachtung in einem Maße, das wir im Augenblick vielleicht noch gar nicht zu erkennen vermögen; es sind nämlich immer noch Überlegungen darüber im Gange, wie ernst sie nun eigentlich gemeint sei. Ich möchte meinen, wir handeln klug, wenn wir diesen Wunsch und diese Forderung der Sowjetunion sehr, sehr ernst nehmen und uns nicht mit einer gewissen Leichtigkeit über diese Dinge hinwegsetzen und glauben, daß sehr bald eine Stunde schlagen werde, in der die Sowjetunion von ihren großen ideologischen Zielsetzungen abgehen werde.
Auch meine politischen Freunde stellen mit Dankbarkeit fest, daß alle Redner heute im Hause so völlig unmißverständlich die Meinung zum Ausdruck brachten, der auch wir sind, daß die Frage der Gestaltung der freiheitlichen Zukunft Gesamtdeutschlands nie und nimmer ein politisches Handelsobjekt für die Bundesrepublik sein könne.
Das ist eine böse Bilanz, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, um die richtigen Wege zu finden.
Welche Folgerungen sind nun zu ziehen? Ich glaube dem Herrn Bundesaußenminister zustimmen zu sollen, der sagte: Eine Folgerung müssen wir bestimmt ziehen, wir dürfen nicht in Resignation verfallen. Dazu ist manches zu sagen. Ich will mich nicht wiederholen, möchte aber meinen, daß wir eine zweite Folgerung ziehen sollten. Es geht hier nicht darum, wer recht hat, wer recht behält oder wer einmal recht oder unrecht gehabt hat, sondern darum, uns angesichts der bitterbösen Bilanz von Genf endlich in dem ehrlichen Willen zusammenzusetzen, durch gemeinsames Ringen und Suchen die gangbaren Wege für die Wiedervereinigung zu finden.
Deshalb möchte ich gleich an dieser Stelle den Herrn Bundesaußenminister — und ich weiß, daß das der Wunsch aller Fraktionen ist — sehr herzlich bitten, den Auswärtigen Ausschuß endlich einmal zu dem zu machen, was er eigentlich sein soll, nämlich zu dem Gremium, in welchem von den politischen Kräften des Bundestages die wirklichen Probleme ausgetragen und erörtert werden können.
Ein einziges Mal, Herr Bundesaußenminister, seit Ihrem Amtsantritt haben Sie uns die Freude gemacht; das war in der vorletzten Sitzung.
— Das interessiert nicht; das werden die Herren sicherlich sorgfältig nachlesen. Er hat uns einmal die Freude gemacht; ich glaube, es war in der vorletzten Sitzung. Ich weiß, mit welch einem guten Eindruck alle Mitglieder des Ausschusses nach Hause gingen. Ich habe die Ehre, nunmehr zwei Jahre dem Auswärtigen Ausschuß anzugehören. Die Sitzung, von der ich soeben sprach, ist die einzige, in der eine Aussprache stattfand, die man überhaupt als eine politische Aussprache bezeichnen kann.
— Die vorletzte Sitzung, gnädige Frau, jedenfalls bereits unter der Amtsführung des Herrn Bundesaußenministers.
— Entschuldigen Sie mal, wir sprechen hier über Außenpolitik, und ich habe weiter nichts gesagt, als daß ich den Wunsch habe — und Sie können
sicher sein, den werden alle Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses genau so empfinden —, im Auswärtigen Ausschuß mehr, als das in der Vergangenheit der Fall war, zu echten politischen Aussprachen zu kommen. Es sind heute so viele Anregungen — nicht fertige, nicht perfekte Vorschläge, aber Anregungen — aus dem Hause heraus vorgetragen und auch in der öffentlichen Diskussion gegeben worden, daß der Auswärtige Ausschuß genügend Material hätte, mit dem er sich in einer echten, ehrlichen, offenen Aussprache beschäftigen sollte.
Der zukünftige Status Gesamtdeutschlands hat auch heute wieder in der Aussprache eine Rolle gespielt. Ich bin der Auffassung, daß wir hier häufig aneinander vorbeireden. Der Begriff des zukünftigen Status Gesamtdeutschlands hat mindestens drei Seiten. Es kommt darauf an, von welcher Seite man den Komplex ansieht. Wenn man sich nicht darüber verständigt, redet man aneinander vorbei.
Es geht einmal um den völkerrechtlichen Status. Dazu gehören auch die Fragen der endgültigen Grenzziehung. Zum andern handelt es sich um den innerpolitischen Status, der durch den neuen Vorschlag der Sowjetunion interessant geworden ist, und drittens um den militärischen Status.
Der Bundestag hat in den letzten Jahren in Entschließungen mehrfach, und zwar völlig einmütig, gefordert, daß Gesamtdeutschland hinsichtlich seines Status die völlige Entscheidungsfreiheit behält. Meine Damen und Herren, wir sind der Meinung, daß diese These, die sicherlich viel für sich hat, einmal daraufhin überprüft werden muß, ob sie in jeder Hinsicht der Kritik standhält.
Soweit es sich um den völkerrechtlichen Status und die Frage der Grenzziehung handelt, möchten wir zuversichtlich hoffen, daß niemals die Stunde kommt, in der die freie Welt an die Bundesrepublik etwa das Ansinnen stellt, als Bundesrepublik in dieser Frage irgendeine Entscheidung — und sei es auch nur in Teilfragen —, die Gesamtdeutschland vorbehalten ist, vorwegzunehmen. Wir möchten ebenso zuversichtlich hoffen, daß es in keinem frei gewählten deutschen Parlament einmal möglich sein wird, über diese Frage der Entscheidungsfreiheit hinsichtlich des völkerrechtlichen Status Gesamtdeutschlands mit sich reden und handeln zu lassen.
Ich brauche nicht weiter anzudeuten, aus welchem Grunde das gerade mir als Heimatvertriebenem besonders am Herzen liegt.
— Meine lieben Freunde, wir werden das nur zur Kenntnis nehmen können. Vielleicht blendet inzwischen einmal der Fernsehfunk auf, um das „Interesse" des Herrn Bundeskanzlers und der Bundesregierung zu zeigen, wenn der erste Heimatvertriebene am heutigen Tag in dieser Frage das Wort nimmt.
Ich habe meinen Blick immer nach vorne gerichtet,
so daß ich diese Behandlung bisher nicht bemerkt
habe. Aber, meine lieben Freunde, das scheint ein
Test dafür zu sein, was der Herr Bundeskanzler und seine Regierung davon halten, wenn ein Heimatvertriebener aus seinem Herzen heraus zu diesen Dingen in dieser Stunde das Wort nimmt. Wir werden uns das merken müssen.
— „Pfui, pfui" rufen Sie nicht mir zu, sondern denen, deren Verhalten ich in dieser Form leider kritisieren mußte!
— Sie halten das für eine Unterstellung?
— Nun seien Sie mal ganz ruhig! Über Sie, Herr Dr. Rinke, ist in Kreisen der Heimatvertriebenen schon lange das letzte Wort gesprochen.