Rede von
Dr.
Eugen
Gerstenmaier
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir gedenken zweier teurer Toten,
der Mitglieder des Bundestages Dr. Robert Tillmanns und Dr. Gerhard Lütkens.
Am 12. November 1955 starb in Berlin der Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion und Bundesminister für Sonderaufgaben Dr. Robert Tillmanns im Alter von 59 Jahren.
Minister Dr. Robert Tillmanns wurde am 5. April 1896 in Wuppertal geboren. Nach dem Studium der Staatswissenschaften promovierte er 1921 zum Dr. rer. pol. in Tübingen und widmete sich in den anschließenden Jahren bis 1933 vor allem der Sorge um die Studenten als Geschäftsführer des Deutschen Studentenwerks und der Studienstiftung des Deutschen Volkes. 1930 wurde er Regierungsrat in der preußischen Unterrichtsverwaltung, aus der er 1933 aus politischen Gründen ausschied. Anschließend war er im mitteldeutschen Braunkohlenbergbau tätig.
Nach dem Kriege arbeitete Dr. Tillmanns im Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland. Zusammen mit Jakob Kaiser und Ernst Lemmer gründete er im Sommer 1945 die CDU in Berlin und in der Sowjetzone. 1949 wurde Dr. Tillmanns zum stellvertretenden Vorsitzenden der CDU in Berlin und 1952 zu ihrem ersten Landesvorsitzenden gewählt. 1955 wurde Dr. Tillmanns zum zweiten Vorsitzenden der CDU Deutschlands berufen. Seit sechs Jahren gehörte er als Berliner Abgeordneter der CDU/CSU-Fraktion den beiden Deutschen Bundestagen an. 1953 wurde er zum Bundesminister für besondere Aufgaben ernannt.
Mit Robert Tillmanns verliert der Deutsche Bundestag wiederum einen Mann, der an führender Stelle das Gesicht des neuen deutschen Rechtsstaates mitgeformt, seine Arbeit verantwortlich mitgetragen und seinen Willen zur Wiederherstellung des freien geeinten Vaterlandes unablässig gestärkt hat. In guten und in bösen Tagen hat Robert Tillmanns makellos dem Vaterlande gedient. Als junger Studentenführer ist er in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg vielen ein Vorbild sozialer Redlichkeit und ein Bahnbrecher der Hilfe geworden. Die Diktatur Hitlers konnte Robert Tillmanns wohl sein Amt nehmen, aber sie konnte seinen Mut nicht brechen. Er war und er blieb derselbe entschlossene Kämpfer gegen die Diktatur in der sowjetisch besetzten Zone. Robert Tillmanns gehörte zu den ersten, die ihre ganze Kraft an den Neubau eines freiheitlichen Rechtsstaates im zusammengebrochenen Vaterland setzten. Dem Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland hat er in den Jahren der bittersten Not als einer meiner nächsten Mitarbeiter mit selbstloser Treue gedient. Mit seinem besonnenen Rat und seiner hingebenden Tat ist er vielen in der östlichen Hälfte Deutschlands zum Retter geworden.
In der Nacht vom 16. zum 17. November starb in Bonn. der Abgeordnete der SPD-Fraktion Dr. Gerhard Lütkens im Alter von 62 Jahren.
Dr. Gerhard Lütkens wurde am 5. Januar 1893 in Pinneberg geboren. Er studierte in Heidelberg
und in München Rechts- und Staatswissenschaften. 1913 trat Gerhard Lütkens der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bei. Er nahm teil als einer der ersten und führenden Köpfe an dem un-vergeßlichen Aufbruch der Freideutschen Jugend auf dem Hohen Meißner. Von 1914 bis 1918 nahm er am ersten Weltkrieg teil. 1920 trat er in den auswärtigen Dienst des Reiches ein und wirkte in den Vereinigten Staaten, in Riga, in Italien und auf dem Balkan. 1936 schied Gerhard Lütkens als Konsul in Galatz aus dem auswärtigen Dienst aus. 1937 mußte er Deutschland verlassen und nach England emigrieren, wo er zunächst als freier Schriftsteller und später als Dozent für internationale Politik an der Universität London arbeitete. Dr. Lütkens war Mitglied des 1. Deutschen Bundestages. Er arbeitete hauptsächlich im Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten und im Ausschuß für Angelegenheiten der inneren Verwaltung. Dr. Lütkens gehörte der Beratenden Versammlung des Europarates seit dem Beitritt der Bundesrepublik im Sommer 1950 an. Der Westeuropäischen Union gehörte Dr. Lütkens als Vizepräsident im Vorstand der Versammlung an. Als Mitglied des Politischen Ausschusses wirkte der Verstorbene führend in der Interparlamentarischen Union.
An der Bahre von Robert Tillmanns und Gerhard Lütkens nimmt das deutsche Volk Abschied von zweien seiner getreuesten Söhne, die das Schicksal unseres Volkes und Vaterlandes in unserer Generation männlich getragen haben. Wir nehmen Abschied von zwei aufrechten Verfechtern des freiheitlichen Rechtsstaates. Das Parlament trauert um zwei furchtlose Kämpfer für die Freiheit und Einheit ganz Deutschlands.
Robert Tillmanns und Gerhard Lütkens haben sich um das Vaterland verdient gemacht. —
Sie haben sich zu Ehren der toten Kollegen erhoben. Ich danke Ihnen.
Ich darf dem Hause bekanntgeben, daß als Nachfolger für den verstorbenen Abgeordneten Sassnick der Herr Abgeordnete Prennel in den Bundestag eingetreten ist. Als Nachfolger für den verstorbenen Abgeordneten Griem ist die Abgeordnete Frau Ganswindt in den Bundestag eingetreten. Ich begrüße die beiden neuen Mitglieder des Hauses und wünsche ihnen eine gute Mitarbeit.
Den Glückwunsch zum 60. Geburtstag am 15. November darf ich dem Herrn Abgeordneten Schlick aussprechen.
Die amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 11. November 1955 den nachstehenden Gesetzen zugestimmt bzw. einen Antrag gemäß Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht gestellt:
Gesetz zu dem Übereinkommen Nr. 98 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 1. Juli 1949 über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechtes und des Rechtes zu Kollektivverhandlungen;
Sechstes Gesetz zur Änderung des Zolltarifs ;
Gesetz über das Protokoll vom 1. Februar 1955 betreffend die Verlängerung der Geltungsdauer er Erklärung vom 24. Oktober 1953 über die Regelung der Handelsbeziehungen zwischen Vertragspartnern des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens und Japan;
Gesetz über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den Internationalen Gesundheitsvorschriften vom 25. Mal 1951 ;
Gesetz zur Änderung des Arbeitsgerichtsgesetzes.
Der Herr Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen hat unter dem 12. November 1955 die Kleine Anfrage 197 der Fraktion der SPD betr. Verkehr zwischen der Bundesrepublik und den anderen deutschen Ländern — Drucksache 1774 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 1856 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 11. November 1955 die Kleine Anfrage 199 der Abgeordneten Kühlthau, Caspers, Daum, Huth. Stiller und Gen. betr. rechtzeitige und vermehrte Bereitstellung von Aufbaudarlehen für den Wohnungsbau — Drucksache 1801 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 1858 vervielfältigt.
Nun, meine Damen und Herren, kommen wir zur Tagesordnung. Einziger Punkt:
Dritte Beratung des Entwurfs eines Zweiten Renten-Mehrbetrags-Gesetzes (Drucksachen 1687, 1746, 1780, 1805, 1842, 1849);
Mündlicher Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik (Drucksache 1859). (Erste Beratung: 106. und 107. Sitzung, zweite und dritte Beratung: 112. Sitzung.)
Ich eröffne zunächst noch einmal die allgemeine Beratung dritter Lesung und frage, ob das Wort dazu gewünscht wird.
Das Wort zur Berichterstattung hat der Herr Abgeordnete Stingl.