Rede von
Margot
Kalinke
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Bei aller Würdigung Ihrer Mahnung und bei Würdigung der Mahnung des Herrn Kollegen Horn glaube ich, daß wir bei einer so wichtigen Sache, die das Schicksal von Millionen deutscher Rentner und Staatsbürger angeht, gern eine Stunde später Mittag essen werden. Ich wäre sehr dankbar, wenn wir diese Diskussion nicht in einer hektischen Erregung unter dem Zeitdruck fortsetzten, unter dem sie im Ausschuß geführt worden ist.
Herr Präsident, am 14. Oktober 1954 — das ist vor einem Jahr — wurde das erste Renten-Mehrbetrags-Gesetz und danach das Kindergeldgesetz im Plenum angenommen. Man konnte damals in der öffentlichen Berichterstattung lesen, daß es „ein Triumph sozialpolitischer Schnellarbeit" gewesen ist. Wir sollten keine solchen Triumphe feiern wollen. Was wir soeben erlebt haben, ist der Beweis dafür, daß es besser ist, sich keinen Anstrengungen hinzugeben, sozialpolitische Triumphe dieser Art zu erreichen, sondern das Ergebnis sachlicher Arbeit möglichst nicht mit Zeitdruck zu beeinflussen.
Auf die Mängel, die sich bei der Behandlung des Gesetzes ergeben haben, hat schon ein Sprecher in der zweiten Lesung hingewiesen. Meine Herren, es wäre wirklich der Sache wert, daß Sie, auch diejenigen, die nicht Mitglieder des Sozialpolitischen Ausschusses sind, sich mit ein wenig mehr Verantwortung um diese Materie bemühten. Wir haben am 20. Oktober in Berlin die erste Lesung gehabt. Damals war 'eindeutig erkennbar, daß eine einheitliche Meinung im Parlament über Inhalt und Ziel des Gesetzes nicht bestand. Ich will hier nicht den chronologischen Ablauf wiederholen, ich will nicht wiederholen, in welcher Weise versucht worden ist, den Ereignissen vorzugreifen — ich muß das mit Bedauern sagen! Sowohl vom Pressedienst der CDU wie vom Pressedienst der SPD ist trotzdem darauf hingewiesen worden, daß jeder bemüht sein werde, seine Gesetzesvorlage noch in dieser Woche durchzusetzen. Es ist sicher ein legitimer Anspruch jeder politischen Partei, zu versuchen, ihre Meinung durchzusetzen und von ihrer Einsicht auch andere zu überzeugen. Aber gerade die jetzige Debatte hat gezeigt, wie gefahrvoll es ist, gemeinsame Anliegen — so nannte es der Kollege der SPD im Sozialpolitischen Ausschuß und hier im Plenum — etwa unter Zeitdruck so zu behandeln, daß dabei der Stil des Parlamentarismus, aber
r auch der Parlamentarismus .als solcher und zuletzt die Demokratie ins Schlittern geraten. Wir sollten wirklich Mut und Respekt haben, auch die Meinung der anderen zumindest anzuhören. Die Beratung und die Abstimmung soeben haben gezeigt, daß in der eigenen Fraktion der antragstellenden Partei offensichtlich unterschiedliche Meinungen bestanden. Sie hat auch gezeigt, daß wir, wenn wir den Antrag im Ausschuß hinsichtlich Form, Inhalt und Zielsetzung sachverständig und ruhig weiterberaten hätten, wahrscheinlich zu einer besseren Lösung gekommen wären, die hinsichtlich der Höhe und der sozialen Wirkung der Leistungen einen anderen sozialpolitischen Effekt gehabt hätte. Das wäre selbst dann noch der Fall gewesen, wenn wir die Gefahr mit hätten in Kauf nehmen müssen, daß wir unseren Rentnern zum Weihnachtsfeste nur ein Versprechen, aber Anfang Januar eine wirkliche, ausreichende Hilfe hätten geben können.
Ich möchte in dieser Stunde besonders an das Gewissen appellieren, doch bei den Problemen der Sozialreform um Gottes willen nicht, etwa aus Halsstarrigkeit — die möchte ich dem Kollegen Horn nicht unterstellen — die Auffassung zu vertreten, daß die Sorge der anderen nicht von mindestens ebenso tiefer Verantwortung und von mindestens ebenso ernsthafter Überlegung getragen wird.
— Doch, das haben Sie damit erklärt, als Sie uns wegen der Optik des Versprechens, eine Weihnachtsfreude am 20. Dezember zu machen, zwingen wollten, Ihren Antrag ohne jede Beratung anzunehmen, und uns gesagt haben, nur diese Lösung allein mache es möglich, den Rentnern am 20. Dezember 1955 etwas zu geben.
— Es ist wörtlich gesagt worden: „Wenn Sie einen Satz oder einen Paragraphen verändern, ist nicht mehr die Möglichkeit gegeben, das Gesetz rechtzeitig zu verabschieden."
Sie haben jetzt mit den Stimmen Ihrer eigenen Freunde einen sehr wesentlichen Paragraphen geändert. Ich habe die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben, daß die Möglichkeit gegeben sein wird, den Rentnern eine ausreichendere und bessere Lösung als die Lösung zu geben, die wir heute diskutieren.
Ich möchte nur noch auf einige Probleme des Renten-Mehrbetrags-Gesetzes eingehen, die nach meiner Auffassung im Ausschuß Sorge aller Mitglieder waren und die von dem Herrn Bundesminister für Arbeit genau so besorgt betrachtet werden sollten, zunächst auf das Problem der Präjudizierung der Sozialreform, von der wir erwarten, daß sie eben mehr als nur vage Versprechungen bringt. Ich möchte Ihnen die Punkte aufzählen, die in diesem scheinbar so harmlosen Gesetz die Reform präjudizieren. Ich sehe in einem Zweiten Renten-Mehrbetrags-Gesetz eine Präjudizierung in Richtung auf den Vorläufer einer Indexrente. Ich sehe eine Präjudizierung der Rentenformel und der Rentenhöhe. Ich sehe eine Vorwegnahme in bezug auf die Bestimmungen über die Solidarhaftung der Versicherten. Ich sehe eine Vorwegnahme bezüglich der Beteiligung des Staates und schließlich eine Vorwegnahme in bezug auf die
Verfügung über Reserve- und Kassenbestände der Sozialversicherungsträger einschließlich der Rücklagenbildung. Ich sehe zuletzt sogar eine Vorwegnahme in bezug auf eine so große und so eminent wichtige Entscheidung wie die über die Umlage, über das Umlagesystem oder die Kapitaldeckung schlechthin.
Alle diejenigen, die ein zweites Renten-Mehrbetragsgesetz befürworten, haben leider wie beim SVAG oder beim Ersten Renten-Mehrbetrags-Gesetz auch in diesem Gesetz den Grundsatz, daß in der Sozialversicherung gleiche Beiträge auch zu gleichen Leistungen führen müssen, verletzt. Der Kollege von der Sozialdemokratischen Partei hat schon in der zweiten Lesung mit Beispielen darauf hingewiesen. Sie schaffen ein Gesetz, das Sie als Aufwertungsgesetz bezeichnen, in dem Sie verschiedene Versicherte hinsichtlich der Aufwertung unterschiedlich behandeln.
Auch der Antrag der Sozialdemokratischen Partei auf Berücksichtigung der Waisenrenten ist nach der Auffassung meiner politischen Freunde sozialpolitisch voll berechtigt und sollte nicht abgelehnt werden.
Wir sind der Meinung, daß auch die Frage der Deckung der Kosten dieses Gesetzes — wennschon sie hier gar nicht behandelt worden ist — nicht ohne Bedeutung ist und daß man nicht so sprechen sollte, als handle es sich hier nur um Kosten, die angesichts der vollen Kassen der Sozialversicherungsträger und des Bundes geringfügig seien, und als handle es sich nur um Millionen für ein Jahr. Meine Herren und Damen, es handelt sich um Milliardenbeträge, weil die Rentenerhöhungen, die die Rentner jetzt bekommen, bis ans Lebensende der Rentner gegeben werden müssen. Das wollen Sie doch sicherlich nicht verhindern! Damit präjudizieren Sie natürlich entscheidend eine Neuordnung, die wir gern anders und besser sehen möchten, ohne dabei zu erreichen, daß unser gemeinsames Anliegen verwirklicht wird, daß nämlich der Not der alten Rentner wirklich und ausreichend gesteuert wird.
Es wird leider oft in einem falschen Zusammenhang davon gesprochen, daß die Renten an die Kaufkraft angepaßt werden sollen; und es wird immer wieder versucht, Kaufkraftschwund und das Ergebnis von Lohnerhöhungen gleichzeitig bei den Rentnern entsprechend auszugleichen, mit dem Argument, daß hierfür die Versicherten aufkommen müssen. Die Solidarität in der Sozialversicherung bezog sich ursprünglich auf den Risikoausgleich im Versichertenkreis. Es ist eine entscheidende Präjudizierung der Reform, wenn der Risikoausgleich für die niedrigen Alt-Renten nicht vom Staat oder der größeren Gemeinschaft als Währungsschaden, oder wie immer Sie es bezeichnen wollen, getragen wird und wenn hier von Ihnen die Versicherten in Anspruch genommen werden sollen. Der Tatbestand, daß Sie nun — wahrscheinlich auf Grund unserer in Berlin vorgebrachten Mahnung —, mit Zustimmung des Finanzministers die staatliche Beteiligung wie beim Ersten RentenMehrbetrags-Gesetz einfügen, klärt trotzdem die Fronten nicht. Wir müssen uns entschieden dagegen wehren, daß Kriegsfolgelasten auf die Versicherten abgewälzt werden. Die Mittel für die Mehrbeträge — darüber müssen wir uns im Ausschuß ernsthaft unterhalten — sollten in diesem Falle nicht durch die Solidarhaftung der Versicherten aufgebracht werden. Bei der Begründung des Ersten Renten-Mehrbetrags-Gesetzes hat der Herr
Bundesarbeitsminister auf „die Solidarhaftung zwischen den Versicherten und den Rentnern" hingewiesen. Ich würde ein Versäumnis begehen, wenn ich Sie nicht auch in diesem Zusammenhang davor warnte, daß Sie eine Übung einführen, laufende Renten aus laufenden Beiträgen zu zahlen, und damit auch die Reform schon auf das Umlageverfahren festlegen.
Die Kassenüberschüsse der Rentenversicherungsträger, die so vielen Leuten in die Augen stechen, sind wahrscheinlich bei diesem Gedanken Pate gewesen. Aber es ist ein Irrtum, die fast zwei Milliarden DM Kassenüberschüsse, die wir in diesem Jahr haben werden, als echte Überschüsse anzusehen. Für jede Mark, die jetzt eingezahlt worden ist, muß später Rechnung gelegt werden, und es muß später dafür geleistet werden! Diese Beträge sind nicht mehr als Gegenwerte für spätere Leistungen! Ich glaube, daß die Mehrzahl der Sozialpolitiker, die solche Anträge stützen, sich die Bilanzen der Rentenversicherungsträger nicht mit aller Verantwortung angesehen haben. Sonst müßten sie wissen, daß sich seit dem Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz das Defizit seit 1951 laufend erhöht hat und daß es sich in Zukunft weiter erhöhen wird. Es wird und muß von Jahr zu Jahr wachsen, wenn Sie Rentenerhöhungen in dieser Form vornehmen.
Ich will wegen der drängenden Zeit nicht auf alle die Fragen eingehen, die sich aus dem Problem der Kapitaldeckung ergeben. Das werden wir bei anderer Gelegenheit tun. Ich muß Ihnen aber sagen, daß es nicht möglich ist, eine Aufstockung der Leistungen für die alten Menschen, die wir dringend wünschen, mit den Mitteln der Versicherung vorzunehmen. Es ist auch deshalb nicht möglich, das Ziel mit den Mitteln der Versicherung allein zu erreichen, weil man nicht kleine Beiträge aufwerten kann, die schon mehrfach aufgewertet sind, und weil gerade diese alten Menschen nicht durch ihre Schuld, sondern durch die Schuld der damaligen Gesetzgebung so wenig und so geringe Beiträge gezahlt haben — ich weiß nicht, ob Sie das alle wissen —, die in der Invalidenversicherung bis 1911 in der höchsten Klasse 36 Pf wöchentlich und 18 Mark jährlich und Mitte 1927 etwa 50 Mark jährlich betrugen. Man kann also hier nicht von einem Aufwertungsgesetz sprechen, sondern man hätte hier andere Wege suchen sollen. Im Ausschuß bestand wohl bei allen politischen Parteien der gute Wille, Wege zu finden, denen besonders zu helfen, die den alten Grundsatz, „in der Zeit zu sparen, um in der Not zu haben", gewahrt haben. Man wollte aber auch den anderen entscheidend helfen, die diese Möglichkeit nicht besessen haben.
Meine Herren und Damen, von der Reform erwarten Sie Vereinfachung und Verbesserung der Leistungen. Im „Bulletin" hat ein maßgeblicher Vertreter des Finanzministeriums in diesen Tagen richtig darauf hingewiesen, daß „man dadurch, daß innerhalb der Rentenversicherung mit dem Versicherungsprinzip prozentuale Aufstockungen vorgenommen würden, den wirklich sozial Bedürftigen nicht in den Genuß einer ausreichenden Hilfe bringen könne." Der Herr Kollege Dannebom hat heute morgen Beispiele genannt, die ich nicht wiederholen will. Aber Sie werden mir zugeben, daß Rentenerhöhungen von einer Mark, zwei Mark oder drei Mark, selbst Rentenerhöhungen von zehn Mark, die ein kleiner Teil der Rentner bekommt,
keineswegs jene sozialpolitische Funktion erfüllen können, die wir als Hilfe für die alten Rentner dringend fordern. Wenn außerdem der sozialpolitische Effekt so aussieht, daß die Rentenmehrbeträge den Rentnern nachher beim Lastenausgleich, bei der öffentlichen Fürsorge, ja sogar bei Leistungen aus dem Beamtengesetz oder dem Besoldungsgesetz — wie es jetzt der Berliner Senat tut — wieder abgezogen werden, ja wenn Pensionszahlungen von Versicherungsträgern, die auf Vereinbarungen mit Gewerkschaften aufgebaut sind, denen, die Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt haben, die Zuschüsse wieder wegnehmen, dann muß ich Ihnen sagen, daß andere Maßnahmen der Überbrückung notwendig sind, um eine vernünftige Reform der sozialen Leistungen herbeizuführen und wirklich bedürftigen Rentnern eine fühlbare Hilfe seitens der größeren Gemeinschaft des Staates zu geben.
Wir waren im Ausschuß bereit, Anregungen dazu zu geben und Ihnen Wege und Möglichkeiten dafür zu zeigen, wie wir eine Übergangslösung, die wir bis zu der baldigen und hoffentlich vernünftigen Reform der Rentenversicherung wünschen, gestalten könnten. Die Reform der Rentenversicherung darf aber nicht allein bleiben, sondern muß eine Reform der Leistungen aus dem Lastenausgleich und der Fürsorge nach sich ziehen, die wir dann gemeinsam mit Ihnen beschließen wollen. Wir können aber keine unzulängliche Gesetzgebung bejahen, die die soziale Unzufriedenheit nur vermehren und den Alten nicht fühlbar helfen wird.
Meine Herren und Damen, wir wissen nicht, wohin uns das Geschick der nächsten Abstimmung führen wird. Ich weiß nicht, ob es Ihnen gelingen wird, die Vorlage wiederherzustellen.
Wir werden der Vorlage der CDU nicht zustimmen.
Wir werden aber, wenn sich die Mehrheit dafür entscheidet, Sorge dafür tragen, daß die Vorauszahlungen ermöglicht werden; dann möge eine vernünftige Diskussion um die Reform der sozialen Leistungen möglich sein.