Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jedermann weiß, daß im Zeitalter des Atomkrieges weder diese 6000 Freiwilligen noch die 12 Divisionen, die wir nach den Pariser Verträgen aufstellen sollen, irgendeinen nennenswerten Beitrag für die Sicherheit der Menschen in der Bundesrepublik darstellen werden oder können.
Das Volk fühlt es, mit jedem Tag mehr . . . , daß man auf diesem Wege der Aufrüstung der Sicherheit der Bundesrepublik nicht gerecht werden kann. Aber die Bundesregierung und die Koalition
— so führte er aus —
bestehen trotzdem auf ihren Divisionen, als wäre seit 1952 nichts in der Welt geschehen.
Ich finde, es ist eine geradezu gespenstische Situation, in der wir uns heute in dieser Debatte befinden.
So weit der Kollege Ollenhauer.
Ähnlich hat sich heute Kollege Mellies ausgedrückt, und damit ist die Frage angeschnitten worden, die seit der Erfindung der Atombombe gestellt werden muß und die mit der weiteren Entwicklung der Massenvernichtungswaffen mit immer größerer Dringlichkeit erhoben worden ist, die Frage, welche Bedeutung konventionelle Streitkräfte im Atomzeitalter überhaupt noch haben.
Im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetz handelt es sich darum, ob die Einberufung von 6000 Freiwilligen zur Vorbereitung des Aufbaues der deutschen Streitkräfte im Rahmen der Pariser Verträge überhaupt einen realen Sinn hat. Es geht uns ja nicht darum, einen Schattenbeitrag zu liefern, der vor der technischen Wirklichkeit nicht mehr bestehen kann. Es geht hier auch nicht allein um militärtechnische Gesichtspunkte, wie sie heute vorgetragen worden sind. Es geht auch um die politischen Gesichtspunkte dieses Problems. Es geht uns nicht darum, die Sicherheit der anderen Vertragspartner zu erhöhen und für uns nur ein gesteigertes Risiko in Kauf zu nehmen. Es geht uns in erster Linie darum, durch den deutschen Beitrag zur NATO die Sicherheit für alle beteiligten Staaten zu erhöhen. Die Erfüllung der Pariser Verträge ist für uns kein Selbstzweck; sie entspricht einer klaren politischen Konzeption, die dem deutschen Volke Frieden, Freiheit und nach Maß aller Kräfte die nationale Einheit ermöglichen soll.
Ich erlaube mir, im Zusammenhang mit diesem Problem einige grundsätzliche politische Gedanken zu erwähnen. Ich tue es nicht deshalb, weil der Herr Kollege Ollenhauer in der gleichen Rede erklärt hat, daß schon viele von unten nach oben gestiegen und in den Höhen des ewigen Schweigens verschwunden seien.
— Ich sage, ich tue es nicht deswegen; ich hätte es auch so getan, Herr Kollege Ollenhauer. Nur wenn wir das Problem unserer Sicherheit, die nach unserer Auffassung erst durch die Pariser Verträge identisch mit der Sicherheit der freien Welt geworden ist, jenseits der Grenzen aller Parteipolitik, frei von Wunschvorstellungen besprechen, werden wir zu realistischen Ergebnissen gelangen. Die Bedenken der Opposition werden dabei um so ernsthafter geprüft werden, je weniger sie mit diesen Bedenken bei den Regierungsparteien den Eindruck erweckt, daß es ihr nur darum gehe, die Erfüllung der Pariser Verträge zu verzögern oder zu verhindern.
Unsere Debatte erhielte allerdings eine gespenstische Irrealität, wenn wir nur die innenpolitische Seite des Aufbaus der deutschen Streitkräfte behandeln wollten, so notwendig ohne Zweifel diese Arbeit für die Zukunft der Demokratie ist, so weitgehend hier auch unsere Übereinstimmung ist und so notwendig das Ganze für ein mißtrauensfreies Verhältnis zwischen Streitkräften und Parlament und für eine Kontrolle der bewaffneten Macht im Staate ist.
Ich darf auf die Fragen, die Kollege Blachstein gestellt hat, mit einigen politischen Ausführungen antworten. Er sprach von der Berechtigung des Krieges. Ich glaube, wir sind uns wohl alle darin einig, daß der Krieg heute keine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln mehr sein kann, wie es seinerzeit Clausewitz formuliert hat. Für ihn und für seine Zeit mußte der Krieg trotz aller Schrecken und Scheußlichkeiten noch in einer Begrenzung erscheinen, die nach der Sprache der Waffen auch noch die Sprache der Konferenzen, d. h. politische Lösungen ermöglichte. Für das 19. Jahrhundert war der Krieg ein Ausnahmezustand, dessen an sich sehr traurige Folgen doch bald wieder überwunden werden konnten, um einem vernünftigen Gespräch der Staatsmänner nicht mehr im Wege zu stehen. Es wurde anders im 20. Jahrhundert. Der erste und der zweite Weltkrieg waren die mit steigender Brutalität geführten Auseinandersetzungen zwischen zwei Mächtegruppen, in denen alle Kraftquellen der Völker und alle verfügbaren Mittel der Technik in den Dienst der Vernichtung gestellt wurden. Die Tatsache, daß im zweiten Weltkrieg die Gaswaffe nicht mehr angewendet wurde, spielt in diesem Zusammenhang keine wesentliche Rolle und darf nicht zu der automatischen Schlußfolgerung führen, daß aus dem gleichen Grunde die Verwendung von Atomwaffen heute nicht in Betracht käme; denn in den letzten Tagen des zweiten Weltkrieges, als je eine Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki geworfen wurde, hat eine völlig neue Epoche begonnen.
In der Zwischenzeit ist die Entwicklung der Massenvernichtungswaffen so weit fortgeschritten, daß nicht nur Städte vernichtend getroffen, sondern auch ganze Landstriche verwüstet werden
können, wenn eine einzige Bombe auf sie fällt. Die Technik hat begonnen, der Kontrolle der Menschen zu entgleiten. Mit der Produktion dieser Massenvernichtungswaffen in größeren Zahlen, wie sie jetzt möglich geworden ist, ist ohne Zweifel das apokalyptische Gespenst der Selbstvernichtung der Menschheit am Angsthorizont der menschlichen Kreatur aufgetaucht. Ohne Zweifel haben die Amerikaner einen qualitativen und quantitativen Vorsprung auf diesem Gebiete. Ohne Zweifel versuchen die Sowjets alles, um diesen Vorsprung einzuholen. Dabei kann eines Tages die Lage eintreten, daß ein quantitativer Unterschied nicht mehr von Bedeutung ist, wenn nämlich beide über so viel Massenvernichtungswaffen verfügen, daß sie kontinentale Verwüstungen in ausreichendem Umfang anrichten können, falls es ihnen gelingt, diese Waffen in das Land des Gegners zu tragen. Nach einer Auseinandersetzung mit solchen Mitteln — darin stimmen wir durchaus mit dem Vorredner überein — gibt es keine politische Lösung mehr, d. h. der seinerzeit aufgestellte Grundsatz vom totalen Kriege hat sich dann selbst überlebt. Die Technik ist über den Sinn eines jeden Krieges, der mit totalen Mitteln geführt würde, hinausgewachsen. Die alten militärischen Begriffe haben weitgehend ihren Wert verloren, die alten Ideale ihren Glanz eingebüßt. Es gibt keine schimmernde Wehr mehr, die begeisterungsfähige Herzen höher schlagen ließ. Es gibt nur mehr das todernste Problem der Sicherheit unseres Volkes an der Nahtstelle zweier Weltmächte, die beide über Massenvernichtungswaffen verfügen.
Daraus ergibt sich für uns die oberste politische Aufgabe, und diese oberste politische Aufgabe ist die Verhinderung des Krieges. Wir sagen nicht wie Kollege Blachstein: Wir lehnen den Gedanken eines Krieges mit taktischen Atombomben leidenschaftlich ab. Wer garantiert uns denn, daß nicht nach dem Einsatz taktischer Atombomben als nächste Phase der Einsatz strategischer Atomwaffen beginnt? Wer garantiert uns denn, daß nicht nach dem Einsatz konventioneller Waffen in ständig steigendem Grade der Einsatz von ABC-Waffen kommt? Das oberste Ziel, auf das wir heute in diesem Jahrhundert der Risiken, in diesem Jahrhundert der Entscheidungen unsere Politik abstellen müssen, ist, alles, aber auch alles zu tun für 'die Verhinderung eines Krieges!
Kollege Blachstein hat ein rührendes Bild der Welt nach seinen idealistischen Vorstellungen entworfen. Wenn alle Staaten dieser Erde, wenn alle Machthaber dieser Welt, gleichgültig welches Kontinents, gleichgültig welcher Rasse, gleichgültig welcher Weltanschauung, sich ein und demselben moralischen Gesetz verpflichtet fühlten, sich ein und demselben Gewissen unterworfen fühlten, ich darf es noch deutlicher sagen, ein und dieselbe — im großen gesprochen — religiöse Bindung an eine höhere Verantwortung hätten, dann gäbe es dieses Problem der Sicherheit für uns bestimmt nicht, dann würden Konferenzen ausreichen!
Erst nach diesem obersten Ziel ist eine andere Frage von Bedeutung — wir müssen hier klare Prioritäten einhalten —: ob es einen technischen oder politischen Weg gibt, der selbst im Falle eines Zusammenstoßes die Möglichkeit bietet, daß im Gegensatz zu früher und wider die Erfahrungen, die man mit der menschlichen Natur gemacht hat, nicht das Höchstmaß an Vernichtungstechnik angewendet, sondern wegen der selbstmörderischen Sinnlosigkeit eine Auseinandersetzung mit beiderseits freiwillig und auf Gegenseitigkeit begrenzten Mitteln geführt wird.
Nach diesem obersten Ziel und nach dieser zweiten Frage ist eine dritte Frage von Bedeutung: welche aktiven und passiven Sicherheitsmaßnahmen in beiden Fällen den größtmöglichen Schutz bieten. In jedem Falle wird es unsere Pflicht sein, illusionslos und realistisch uns für den Ernstfall einzurichten. Wir können dabei gewiß sein, daß wir, je mehr wir uns auf den Ernstfall einrichten, eine um so größere Chance haben, ihn nicht erleben zu müssen.
Denn unser wirksamster Schutz besteht leider nicht, muß ich sagen, in passiven Maßnahmen, so unentbehrlich diese sind und zur Ergänzung ergriffen werden müssen. Sie könnten die Folgen lindern, sie könnten das Ausmaß der Katastrophe vielleicht vermindern; sie könnten aber nicht die Schrecken ersparen, die eine Serie von Atombombenexplosionen durch Druckwelle, Hitze und radioaktive Verseuchung hervorrufen würde.
— Einen Augenblick, Herr Kollege; ich werde mich
dazu noch sehr deutlich äußern! — Hier darf ich
den Kronzeugen des Kollegen Blachstein zitieren
— er hat es nicht unbedingt verdient, weder daß er von mir, noch daß er von ihm zitiert wurde —, nämlich den letzten englischen Premierminister Churchill, der davon sprach, daß unser wirksamster Schutz in der Abschreckung jedes Angreifers besteht und bestehen wird, solange alle Menschen und die Machthaber auf der Welt nicht ein und demselben Gesetz und ein und demselben Gewissen unterworfen sind.
— Ich habe hier nicht die Aufgabe, Herr Kollege, die Militärs zu verteidigen; dafür ist ein zuständiger Ressortminister da. Ich glaube aber sagen zu dürfen, daß die Militärs, die den Krieg kennengelernt haben, oft eine größere Angst vor ihm hatten und mehr vor ihm zurückgeschreckt sind als manche Politiker, die vom Jubel der Massen umbraust worden sind.
— Es geht uns hier nicht um Finten, Herr Kollege, es geht in diesem Zusammenhang um ernstere Dinge.
Die Berichterstattung über die NATO-Luftmanöver Carte blanche, der Aufruf der sieben Wissenschaftler mit dem Vermächtnis von Albert Einstein und der Aufruf der achtzehn Nobelpreisträger in Lindau von gestern haben ohne Zweifel und mit Recht Unruhe und Besorgnis ausgelöst. Ich möchte nicht im einzelnen — das ist heute morgen durch den Kollegen Blank geschehen — darauf eingehen, daß diese NATO-Luftmanöver einem ganz bestimmten Zweck dienten, daß sie aus technischen Gründen in engen räumlichen Grenzen gehalten werden
mußten, daß sie den Einsatz der strategischen Waffen — deshalb sind alle unsere Schlußfolgerungen noch sehr unvollkommen — aus den weiter zurückliegenden englischen und amerikanischen Basen nicht berücksichtigten, daß sie sich infolge der Begrenzung der Aufgabenstellung nicht mit den Maßnahmen des Bevölkerungsschutzes befaßten, woraus viel Verwirrung entstanden ist. Aber ich möchte sie trotzdem sehr realistische Manöver nennen. Der amerikanische Luftmarschall WykehamBarnes, der nicht weit von hier die Ergebnisse in einer Schlußbesprechung zusammengefaßt hat, sprach ja auch sehr realistisch. Er sprach davon, daß es nicht mehr darum gehe, von Kriegführen oder von Krieggewinnen zu reden, sondern daß man in der Lage sein müsse, einen Krieg zu verhindern. Der Auftrag, den die NATO-Manöver hatten, war der, einen Beitrag zur Verhinderung des Krieges zu leisten, indem sie sein Bild realistisch geboten haben, auch gegenüber denen, für die Krieg oder Frieden reine Zweckmäßigkeitsdinge sind.
Ohne Zweifel ist es richtig, daß heute ein Überraschungsangriff mit Atomwaffen strategische Vorteile bietet, wenn ein Angriff wirklich noch ex improviso, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, erfolgen könnte. Aber ein Angriff auf Europa kann nicht ohne erkennbare Vorbereitungen erfolgen, die für die NATO warnende Vorzeichen wären. Der politische Sinn der NATO-Luftmanöver lag darin, den Sowjets zu zeigen, daß die NATO in der Lage ist, den erhobenen Atomarm abzuschlagen. Damit sollen die auch dann noch möglichen Folgen nicht verharmlost werden. Damit soll nicht gesagt sein, daß es einem Angreifer nicht gelingen würde, schreckliche Verwüstungen anzurichten. Aber er könnte den Krieg nach den Ergebnissen der NATO-Manöver nicht mehr gewinnen, auch nicht in der ersten Phase. Er müßte damit rechnen, daß die strategischen Vergeltungswaffen der Amerikaner — mit ihrem kürzeren Anflugweg nach der Sowjetunion, daher Stützpunktsystem, gegenüber dem sowjetischen Anflugweg, auch über die Polarroute, nach den strategischen Kraftquellen der USA und Kanadas — innerhalb kurzer Zeit die Sowjetunion zur Einstellung ihres Angriffs in Mitteleuropa zwingen würden. Nicht umsonst fordern die Sowjets dauernd die Auflösung der amerikanischen Stützpunkte; denn die Auflösung der amerikanischen Stützpunkte wäre die Voraussetzung dafür, daß sie ohne Selbstmordrisiko einen Angriff auf Europa unternehmen könnten.
Wir treiben mit dieser Betrachtung keine amerikanische Politik, wir zerbrechen uns nicht den Kopf mit den Problemen der USA-Strategen über ihre Sicherheit. Aber wir sind dafür dankbar, daß es ein integrierendes Sicherheitssystem gibt, in dem wir alle im selben Boot sitzen und in dem wir ohne die Aufhebung dieser Basen nicht ohne vernichtende Folgen auch für den Angreifer angegriffen werden können. Das ist leider der dünne Faden, an dem unsere Sicherheit hängt.
Gerade die ungeheure Übersteigerung der Wirkung der Massenvernichtungswaffen auf große Flächen macht die Sowjetunion gegenüber der Wasserstoffbombe — und darin liegt ihr politisches
Moment — nicht minder empfindlich, als Europa mit seinen dichtgedrängten Siedlungen durch die Atombombe ohne jeden Zweifel verwundbar ist. Damit hat der Krieg für den Angreifer einen echten Sinn verloren. Bei den NATO-Luftmanövern kam sehr klar zum Ausdruck, daß die NATO ausschlaggebenden Wert auf eine ständige, ich möchte sagen, auf den Kampf um Sekunden abgestellte Abwehrbereitschaft legt. Damit ist die alte angelsächsische These infolge der technischen Entwicklung abgelegt worden, die immer darin bestanden hatte, erst nach und nach die eigenen Kraftquellen zu mobilisieren, um die letzte Entscheidung zu gewinnen. Für uns ist es heute nicht mehr interessant, ob die Vereinigten Staaten von Amerika die letzte Entscheidung gewinnen würden. Für uns ist es interessant, daß sie die erste Entscheidung durch ihre Abwehrbereitschaft für den Angreifer aussichtslos machen würden.
Damit mag Churchill, den wir heute ja schon mehrfach strapaziert haben und sicher noch strapazieren werden, recht haben, „daß wir durch eine wahrhaft großartige Ironie des Schicksals" — ich zitiere jetzt wörtlich; in meinem Munde würden diese Worte vielleicht zu gefährlich klingen —„jetzt in dieser Sache ein Stadium erreicht haben, da Sicherheit das kräftige Kind der Angst und unser Fortbestand der Zwillingsbruder der Vernichtung sein werden." So weit Churchill.
In diesem Rahmen stellt sich die Frage nach dem Sinn und nach der Zweckmäßigkeit der deutschen Streitkräfte gemäß den Pflichten und den Beschränkungen aus den Pariser Verträgen. Es steht außer Zweifel, daß die Entwicklung der Massenvernichtungswaffen und die Fähigkeit, sie in immer größerer Zahl zu produzieren, auf der einen Seite, die Möglichkeit, sie durch bemannte oder unbemannte Flugzeuge bzw. ferngesteuerte Geschosse in das Land des Gegners zu bringen auf der anderen Seite, nicht nur das Abschreckungsmoment für jeden Angreifer erhöhen, sondern auch eine strategische Revolution hervorgerufen haben. Es steht außer Zweifel, daß die Landstreitkräfte ihre ursprüngliche klassische Bedeutung heute wohl nicht mehr haben, daß sie aus einer absoluten militärischen Größe im Sinne der vergangenen Auseinandersetzungen zu einer relativen Größe geworden sind.
Die deutschen Streitkräfte — und da kommen wir zu dem wesentlichen Punkte — im Rahmen der NATO haben aber gar nicht mehr die Aufgabe, eine für sich alleinstehende strategische Bedeutung im Sinne einer deutschen militärischen Weltmacht zu gewinnen. Die Zeit einer deutschen Militärmacht im Maßstabe einer Weltmacht ist endgültig vorbei. Die zwölf deutschen Divisionen, in Gliederung, Ausrüstung und Ausbildung dem Zeitalter des Atomkrieges angepaßt, sind weder eine Bedrohung für die Sowjetunion, geschweige denn eine Bedrohung für irgendeinen anderen Nachbarn. Sie sind zusammen mit ihren taktischen Luftstreitkräften genau das, was sie sein sollen — und auch nach unserer Auffassung dürfen sie nicht mehr sein —, nämlich eine Ergänzung und Verstärkung der NATO, um den vorher genannten politischen Zweck Nummer eins noch wahrscheinlicher und noch sicherer zu erreichen.
Die NATO ist kein Angriffsinstrument, nicht so sehr wegen ihrer technischen Zusammensetzung als wegen der Gesinnung der Staatsmänner, die den menschen- und erdzerstörenden Blitz in diesem Instrument in ihren Händen haben, wohl aber ein Abschreckungsinstrument mit der Fähigkeit, verheerende Vergeltungsschläge auszuteilen.
Mit Recht hat Churchill in seiner bekannten Rede „Statement of defence" Ende Februar dieses Jahres die Frage gestellt, was wohl Hitler getan hätte, wenn in seinen Händen die Wasserstoffbombe gewesen wäre. Er hat den Sowjets vielleicht keine weniger schlechte Gesinnung unterstellt, aber eine ausreichendere Vernunft, um einzusehen, daß nur mehr ein Wahnsinniger heute von diesem Mittel Gebrauch machen könnte.
Die NATO ist ein Sicherheitssystem auf Gegenseitigkeit mit einer geschickt vorgenommenen Arbeitsteilung. Gerade die NATO-Luftmanöver haben bewiesen, daß Deutschland, Frankreich und die Benelux-Länder schon innerhalb der ersten Stunden einer Auseinandersetzung derselben Bedrohung aus der Luft unterliegen würden. Gemeinsame Bedrohung und gemeinsame Aufgabe werden die politische Zusammenarbeit erleichtern. Die Aufgabe eines deutschen Beitrages kann und soll nicht darin bestehen, eine selbständige strategische Größe darzustellen. Aber der deutsche Beitrag erhöht die Gesamtwirksamkeit der NATO, die Abschreckung für jeden Angreifer, und gibt — und das wird auch die Opposition in seinem Werte nicht bestreiten — der Bundesrepublik Deutschland das Recht der Einflußnahme auf die Planung der NATO auch nach deutschen Interessen.
Auch für uns gilt, was Churchill für England sagte: „Wenn wir keinen eigenen Beitrag leisten" - und das ist doch die glänzende Widerlegung des Kollegen Blachstein, der ebenfalls Churchill für seine Thesen herangezogen hat —, „können wir nicht sicher sein, daß die Mittel der anderen Mächte im Ernstfall so eingesetzt werden, wie wir es für richtig halten."
Es mag in diesem Zusammenhang von Interesse sein, was General Svedlund jüngst im Zusammenhang mit dem schwedischen Verteidigungsproblem, das ganz anders liegt als das deutsche, aber in der Gefährdung vergleichbar ist, ausgeführt hat. Er sagte — in einem bündnisfreien Staate —:
Wenn ein Kleinstaat nicht über Atomwaffen verfügt und keine Allianz mit einem über solche Waffen verfügenden Partner eingeht, dann kann dieser Mangel für einen Angreifer zur Verlockung werden.
Was vielleicht bei der schwedischen Situation und der Neutralität Finnlands noch eine infolge der Verteidigungsbereitschaft Mitteleuropas haltbare Situation ist, würde, angewendet auf Mitteleuropa, für uns sehr bald eine unhaltbare Situation ergeben.
Damit ist von der deutschen Situation aus gesehen ein schwerwiegendes Wort gegen die sozialdemokratischen Vorstellungen von bewaffneter Neutralität gesprochen worden. Ein Nebeneinander von lauter Neutralitätswehrmachten in einem allumfassenden Sicherheitssystem der kommunistischen und nichtkommunistischen Staaten würde finanziell und wirtschaftlich ohne Zweifel drückender sein als die Beiträge zur NATO, würde aber kaum einen Bruchteil der Abschreckungswirkungen erhalten, die eine auf Arbeitsteilung abgestellte, über konventionelle Streitkräfte, taktische und strategische Atomwaffen verfügende Verteidigungsorganisation gerade nach den Erfahrungen von Carte blanche darstellt.
In diesem Zusammenhang kann auch nichts dagegen gesagt werden, daß die Amerikaner mit dem weiteren Ausbau ihrer Luftwaffe ihre auf amerikanischem Boden stehenden Landstreitkräfte in begrenztem Umfang abbauen. Ihre Aufgabe innerhalb der NATO liegt ohne Zweifel, da sie zunächst nur auf dem Luftweg über die Polarroute erreicht werden können, anders, als unsere Aufgaben liegen. Den Sinn erreicht die NATO durch die Arbeitsteilung, indem jeder seinen Beitrag zu leisten und damit die gemeinsame Sicherheit zu erhöhen und das Risiko für den Angreifer zu verstärken hat. Mehr können wir dazu nicht sagen.
Es gibt in unserer Situation — und das ist die Illusion des Vorredners, das ist die Tragik der wohlmeinenden Idealisten bei uns, die sich mit demselben heißen Herzen wie wir um die Erhaltung des Friedens und die Sicherung des Friedens bemühen — keine Sicherheitspolitik ohne Risiko. Das größte Risiko liegt aber für uns in der Versuchung, daß ein Angreifer ungestraft seine Hand auf Europa ausstrecken könnte.
Wenn wir da von Prioritäten sprechen, dann ist festzustellen, daß ein wohlfunktionierendes System europäischer Luftschutzmaßnahmen mit Bunkern und Evakuierungsdienst zwar ermöglichen würde, daß die sowjetischen Panzer ohne Verkehrsunfälle bei uns einfahren, es würde aber nicht dazu beitragen, daß sie sich das vor Erreichen der Grenze noch einmal ernsthaft überlegen würden.
In diesem Zusammenhang hat der Sozialdemokratische Pressedienst vom 29. Juni 1955 eine erstaunliche realistische Darstellung über Carte
blanche gebracht. Es heißt dort als Manöverbericht:
Es erwies sich, daß der westeuropäische Raum
praktisch zu eng für das Manöver war. Das
wird sich im Ernstfalle noch deutlicher zeigen.
Die schleunige Errichtung eines geschlossenen
Luftwarnsystems meldet sich gebieterisch an.
— Alles Gedankengänge, mit denen wir übereinstimmen! —
Die Tiefe Westeuropas
— so heißt es wörtlich in dem Informationsdienst der Opposition —
von der Werra bis zum Atlantik ist unerläßlich, wenn eine Abwehr überhaupt funktionsfähig sein soll.
Ich darf mir bloß die bescheidene Frage erlauben, warum die Opposition aus dieser Darstellung ihrer Militärspezialisten nicht selbst die politischen Konsequenzen zieht.
Im Lichte dieser Erkenntnis ist das Nein zum Beitritt zur NATO und das Nein auch heute noch zur
Ausführung der Pariser Verträge identisch mit einem Nein zur Anerkennung der Verteidigungsfähigkeit Europas und würde die Verewigung dieses Zustandes bedeuten.
Dabei muß man auch manchmal Glück haben mit den eigenen Militärexperten. Der Kollege Blachstein hat sich heute sehr anerkennend für den ungehorsamen Obristen von Bonin ausgesprochen. Es ist nicht meine Aufgabe, hier für oder gegen den ungehorsamen Obristen von Bonin ein lobendes oder ein tadelndes Wort zu sagen. Ich bin sogar der Meinung, daß man seine Vorstellungen in sehr sachlicher Weise diskutieren muß, daß man sich bemühen muß, aus ihnen zu lernen, was für unsere Situation von einem militärischen Fachmann gelernt werden kann,
ohne einen Zweifel daran zu lassen, daß für strategische Konsequenzen nicht allein die Militärs, sondern in erster Linie die Politiker auf der Grundlage des militärischen Rates zuständig sind.
Aber wenn Sie heute dem Herrn von Bonin ein so ideales Zeugnis ausgestellt haben — ich sage ausdrücklich: ich möchte gegen ihn persönlich nichts einwenden —, dann habe ich den Eindruck, daß Sie sich bei ihm ursprünglich in der politischen Einstellung geirrt haben. Denn am Anfang hat Ihr Pressedienst den Herrn von Bonin in Grund und Baden hinein verrissen.
Als Herr von Bonin bei dem Vortrag in München sich bei den Sozialdemokraten als Anhänger ihrer Neutralitätspolitik bekanntgab, ist er auf einmal zum vorbildlichen Strategen für Ihre Vorstellungen emporgestiegen.
Ich war selbst davon überrascht, daß Sie Herrn von Bonin anfänglich so verdonnert haben; denn ich hatte schon das Gefühl, daß aus seinen Thesen etwas für Sie herausspringt. Aber hier überwog noch die ursprüngliche Einstellung. Erst als Herr von Bonin in München gesprochen hatte, hat er so sukzessive die Leiter des sozialdemokratischen Beifalls Sprosse für Sprosse erklommen, ist aber bis jetzt noch nicht in den Höhen des ewigen Schweigens verschwunden.
Ich glaube, es gibt in diesem Hohen Hause keine Meinungsverschiedenheit darüber, daß Gewaltanwendung heute kein Mittel nationaler Politik mehr ist. Der Lindauer Aufruf der 18 Nobelpreisträger entspricht genau so unseren Vorstellungen. Krieg ist heute kein Mittel der Politik, und Gewaltanwendung ist kein Instrument politischer Auseinandersetzungen mehr. Mochte es früher zahlreiche große und, am Ergebnis gemessen, kleine Anlässe für die Anwendung kriegerischer Mittel geben, heute beginnt für uns das Recht zur Gewaltanwendung nur im Falle der nackten Notwehr unserer Nation und sonst in keinem Falle mehr.
Leider besteht aber kein Zweifel, daß unsere Nation aus eigener Kraft für ihre Sicherheit, die ihrerseits Voraussetzung für Wiedervereinigung ist, nicht mehr aufkommen kann. Es wäre für uns — darin, glaube ich, sind wir uns doch einig — schlechthin selbstmörderisch, an die absolute Friedensliebe der Sowjets zu glauben. Die Gewaltpolitik der Sowjets nach dem zweiten Weltkrieg steckt doch uns allen noch tief in den Knochen, und die letzte Phase hat noch nicht dazu geführt, daß wir dieses Gefühl und diese drastische Erinnerung jetzt einfach ablegen konnten, als stünde dahinter nichts mehr als ein friedensbedürftiger Riesenblock.
Friedensliebe und Friedenspropaganda der Sowjets entspringen — das ist der tragische Gegensatz, von dem ich vorher gesprochen habe — nicht absoluten ethischen Wertungen, sondern sind ein Ergebnis der Aussichtslosigkeit eines heißen Krieges, dessen Aussichtslosigkeit durch die NATO begründet worden ist und durch den deutschen Beitrag vollendet werden soll; Thema: Verhütung des Krieges.
Der Widersinn einer Neutralitätspolitik für Deutschland liegt darin, daß die einzelnen europäischen Nationalstaaten heute keine souveränen Faktoren mehr darstellen. Gerade im Lichte der Sicherheitsfrage zeigt sich der Begriff der Souveränität für die einzelnen europäischen Völker in seiner ganzen Fragwürdigkeit und in dem Wandel, den er durch den Fortschritt der Technik hat erleben müssen. Nicht zuletzt 'deshalb haben wir immer auf die Vereinigung Europas hingearbeitet und werden es auch fürderhin tun. Europa ist nach Menschenzahl, Potential und Lage, wenn seine einzelnen Völker aus ihrer Situation die Konsequenzen zu ziehen vermöchten, ein für die eigene Sicherheit gerade noch ausreichendes Territorium am Westrande der eurasiatischen Landmasse. Europa wäre von sich aus zu einem Angriff aus materiellen und psychologischen Gründen unfähig, in der Verteidigung aber ist es durch das Bündnis mit den USA schlechthin unüberwindlich.
Ohne Zweifel ist es die Angst, die den Ausbruch eines dritten Weltkrieges erschwert, die ihn hoffentlich und wahrscheinlich unmöglich macht. Die Angst vor einem sowjetischen Überfall hat bei uns lange Jahre bestanden. Die Angst der Abschrekkung und damit die Verhinderung eines solchen Überfalles ist für die Sowjets erst durch die NATO herbeigeführt worden.
Die NATO ist ein Ergebnis der sowjetischen Politik und nicht die Konferenzliebe der „unschuldig verfolgten" Sowjets ein Ergebnis der Verfolgungsoder Rachsucht der NATO.
Es ist kein Zufall, daß sich im Laufe der letzten Monate die Abrüstungsvorschläge der Sowjetunion und der westlichen Großmächte näher gekommen sind. Es kann als sicher gelten, daß die Fragen der Abrüstung auf der Viererkonferenz eine wesentliche und gemeinsam mit den sonstigen Sicherheitsvorschlägen auch für die Wiedervereinigung Deutschlands erhebliche Rolle spielen werden.
Es spricht für die Regierungspolitik und gegen die Außenpolitik der Opposition, wenn Eisenhower
und Bulganin am Vorabend der Genfer Konferenz ihre Verständigungsbereitschaft betonen. Denken Sie an Ihre Prophezeiungen vor der Ratifizierung der Pariser Verträge!
Es ist nicht erlaubt, aus Carte blanche voreilige Rückschlüsse zu ziehen. Das Ergebnis dieser Manöver muß sorgfältig ausgewertet und den einzelnen NATO-Partnern zugestellt werden. Insofern war die Zurückhaltung des Bundesverteidigungsministers heute das einzig Mögliche angesichts der noch nicht zu Ende geführten Auswertung, die wohl noch eine Reihe von Wochen dauern wird. Auch die beruhigende Wirkung der Abschreckungsstrategie ohne eigene Angriffsabsichten enthebt uns nicht der Pflicht zur Vorbereitung für den Ernstfall, wie alle europäischen Staaten sich mit diesem Problem beschäftigen.
In dem Zusammenhang, meine Damen und Herren von der Opposition: Da Sie damit ja kein moralisches Obligo eingehen würden, hätten wir gerne unsere überzähligen Sitze für die Fahrt in der nächsten Woche nach Paris zur NATO für Ihre Orientierung zur Verfügung gestellt. Es ist bedauerlich, daß Sie nicht daran teilnehmen. Ich glaube, daß der Kollege Erler in diesem Kreise vermißt wird. Ich meine das sehr ehrlich, Herr Kollege Erler.
Kollege Ollenhauer hat in seiner letzten Rede die Schlußfolgerung gezogen, man sollte den ganzen deutschen finanziellen NATO-Beitrag nicht für die Aufstellung von Streitkräften, sondern für Luftschutzmaßnahmen verwenden. Sicher sind Luftschutzmaßnahmen und alles, was damit zusammenhängt, ein Mittel, das Ausmaß einer Katastrophe relativ zu verkleinern. Eine Katastrophe bliebe der Ernstfall trotzdem, und wenn wir 50 % unseres Sozialprodukts in den Luftschutz hineinsteckten. Lediglich Maßnahmen des passiven Luftschutzes würden den Zweck, den wir nach unserem obersten politischen Ziel erreichen wollen, einen Angriff zu verhindern, nicht von sich aus unterstützen.
Kollege Ollenhauer hat sich dabei auf den Militärkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung berufen. Aber dieser Militärkritiker hat nach der Rede des Kollegen Ollenhauer, um falschen Schlüssen vorzubeugen, andere Schlußfolgerungen gezogen, daß nämlich deutsche Divisionen nicht überflüssig geworden seien. So alarmierend sein Artikel war, nachdem ein amerikanischer Oberst ihm auf Befragen erklärt hatte, daß im Rahmen des Manövers Carte blanche der Luftschutz für die Zivilbevölkerung nicht geübt worden sei — das war ja der Ausgangspunkt für diesen alarmierenden Artikel —, so hat Adelbert Weinstein doch in der Ausgabe vom 12. Juli geschrieben, daß er sich niemals gegen die Aufstellung von Divisionen, selbst bei voller Berücksichtigung des Atomkrieges, gewandt habe.
Ich erwähne das hier, weil Herr Weinstein heute wieder genannt worden ist. Es mag durchaus gut sein, daß die Öffentlichkeit, gerade durch solche Artikel alarmiert, zum Nachdenken angeregt wird. Man hat bei uns ohnehin den Eindruck, daß der Hang zum Illusionismus schon weitgehend überhand genommen hat und daß ihn eine kurzsichtige politische Propaganda noch unterstützt hat. Niemand braucht so notwendig wie wir eine klare Vorstellung über den Ernst unserer Gesamtsituation im Falle eines Zusammenstoßes. Nichts schadet uns mehr als der Hang zur militärischen Utopie und zur politischen Illusion. Realistik und Ehrlichkeit werden unbeschadet der Meinungsverschiedenheiten im Detail nur zu einer positiven Beurteilung der Sicherheitspolitik der Bundesregierung führen.
Ich glaube, daß auch unsere sozialdemokratischen Vertreter bei dem Londoner Sozialistenkongreß in diesen Tagen im Zusammenhang mit der Sicherheitsfrage einiges zu hören bekommen haben, auch im Sinne der Abschreckungsstrategie.
Ich lasse mich durch „Die Welt" unterrichten, da ich unmittelbare Informationen von dem Kollegen Ollenhauer nicht beziehe. Aber sicher waren dort auch die norwegischen Sozialisten, die Regierungspartei sind, vertreten. Während sich in Mitteleuropa das NATO-System vervollständigt, verlegen die Norweger ihre Sicherheitsgrenze weit über den Polarkreis hinaus in ein Gebiet, das sie früher nie zu verteidigen beabsichtigten. Das heißt, das System der NATO gewinnt an Kraft, an Inhalt und an Abschreckungswirkung. Das Risiko, daß, gleichgültig, wo zugegriffen wird, der Angriff zurückgeschlagen wird, ist größer geworden, und die Gewähr, daß der Angriff nicht kommt, verdichtet sich für uns mehr und mehr, ich möchte sagen, zu einer Lebenshoffnung. Denn alle passiven Maßnahmen, selbst erfolgreichster Art, werden im Falle eines atomaren Zusammenstoßes auf deutschem Boden nur den prozentualen Umfang der Katastrophe, aber nicht ihr Ausbleiben bestimmen können.
Man muß sich bei allen Wertungen der Carte blanche vom Wunschdenken freihalten. Die Konsequenzen aus Carte blanche zu ziehen, ist nicht allein eine Angelegenheit der militärischen Fachleute, die es oft nicht leicht haben, sich von überkommenen Vorstellungen zu lösen. Aber ebenso liegt das Wunschdenken auf der anderen Seite, wenn man kurzerhand, wie die Opposition, die Abschaffung der konventionellen Streitkräfte für ein selbstverständliches Resultat hält. Natürlich kann man nicht so tun, als ob seit 1952 nichts geschehen wäre. Natürlich gehören Divisionen nach dem Militärprotokoll der EVG großenteils der Vergangenheit an. Man muß die Landstreitkräfte nach Beweglichkeit, Ausrüstung, Bewaffnung und Ausbildung den Notwendigkeiten der atomaren Kriegführung anpassen. Man muß sie in den Stand setzen, für einige Zeit vom Nachschub unabhängig zu sein. Ihre Aufgabe würde nicht mehr darin bestehen, Entscheidungsschlachten zu Lande herbeizuführen. Es gibt nicht mehr Bereitstellungs- und Manövrierräume im alten Sinne des Wortes. Die Veranstalter von Carte blanche haben sich ja zur Aufgabe der Erdtruppen geäußert. Sie haben klar geäußert: sie haben ihnen die Aufgabe zugewiesen, dezentralisierte Basen für eine Anfangszeit zu halten, sowjetische Truppen so lange zu binden, bis der strategische Gegenschlag erfolgt ist. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß heute ein abschließendes Bild noch nicht möglich ist. Bei dem raschen Fortschritt der Technik wird das noch längere Zeit so sein, bei dem stürmischen Wandel der technischen Erfindungen vielleicht immer.
Wir müssen bei der Aufstellung unserer Streitkräfte eine außergewöhnliche Beweglichkeit und Unabhängigkeit von überkommenen Vorstellungen
an den Tag legen. Wir müssen uns auch darauf einstellen, daß die einzelnen Wehrmachtteile — wenn ich mich so ausdrücken darf, ohne daß die Bezeichnung heute schon endgültig festgelegt ist; ich selbst bin ja für „Bundeswehr" —, daß die einzelnen Teile der Streitkräfte verschiedene Schlußfolgerungen ziehen, zum Teil konträrer Art, wie es auch in Amerika der Fall gewesen ist. Wir müssen über die erhöhten Anforderungen Bescheid wissen, die an die militärischen Nachrichtenmittel und an die Selbständigkeit der unteren Führung gestellt werden. Wir müssen aber auch wissen, daß konventionelle Streitkräfte im Zeitalter des Atomkrieges nicht überflüssig geworden sind. Sie sind nach wie vor unentbehrlich, nicht mehr allein strategisch entscheidend wie früher, aber sowohl für die Abschreckung des Angreifers wie für den strategischen Erfolg unentbehrliche Hilfsmittel, auch bei dem Wandel der Verhältnisse.
Ich darf in diesem Zusammenhang noch wenige Argumente erwähnen, die in diesem Zusammenhang erwähnt werden müssen. Alle Abrüstungsgespräche drehen sich um eine Verminderung der Atomwaffen und zielen letzten Endes auf ein Verbot der Atomwaffen ab. So skeptisch man aus den Erfahrungen der Vergangenheit heraus alle Abrüstungsgespräche beurteilen muß, so sehr bleibt die Hoffnung, daß der Faktor Angst zu einer Vernunftlösung führt, die ihrerseits wiederum geeignet ist, den Faktor Angst langsam abzubauen, das heißt: es genügt nicht, sich auf ein mehr oder weniger wirksames Verbot der Atomwaffen zu einigen. Wir müssen doch Realisten sein. Bei der unaufhebbaren Gegenseitigkeit von Abrüstung und Entspannung gilt es, die politischen Vertrauensvoraussetzungen zu schaffen, die einen Einsatz von Atomwaffen ausschließen. Bis dahin ist sicherlich noch ein weiter Weg. Hoffentlich wird in Genf dazu der Anfang gemacht. Die letzten Erklärungen könnten ein gutes Vorzeichen sein. Die Sowjets brauchen vor uns und vor dem Westen keine Angst zu haben. Wohl aber müßten wir vor ihnen Angst haben, wenn nicht politische Solidarität des Westens und Schließung des militärischen Sicherheitssystems durch Beitrag der Bundesrepublik eine Situation geschaffen hätten, die den Anfang einer echten Entspannung bedeuten kann und nicht den Beginn einer neuen Spannung zu bedeuten braucht. Wir müssen hierfür die politischen Voraussetzungen schaffen.
Wir dürfen nicht vergessen, daß der Einsatz der Atomwaffen von der NATO vorgesehen ist, weil die Sowjets nach dem zweiten Weltkriege konventionelle Streitkräfte in ungewöhnlichem Maße beibehalten haben — das spricht doch gegen die Theorie der SPD — und weil sie sie trotz der Entwicklung der Atomwaffen nicht abgebaut haben, im Gegenteil, sie von Stunde zu Stunde vervollkommnen und modernisieren. Das heißt: die Sowjets haben sich sowohl auf atomare wie auf konventionelle oder gemischte Kriegführung vorbereitet. Sie haben den Westen gezwungen, sich bei seiner Unterlegenheit an konventionellen Mitteln stärker auf die Vorbereitung des atomaren Kampfes einzustellen. Jedes Gespräch über Verminderung oder Abschaffung der Atomwaffen setzt voraus, daß zwischen der NATO und dem Sowjetblock keine unerträglichen Unterschiede in konventionellen Kampfmitteln zugunsten der Sowjets weiterhin bestehenbleiben.
Es ist nicht richtig, daß den 500 000 Mann deutscher Streitkräfte auf seiten der NATO ein entsprechendes Äquivalent der Ostseite ohne weiteres gegenübergestellt werden könnte. Der Aufbau deutscher konventioneller Streitkräfte erhöht die Chancen für ein realistisches Abrüstungsgespräch auf dem Gebiete der Atomwaffen. Auch aus psychologischen Gründen können die Großmächte der NATO es sich nicht leisten, dem Drängen der Sowjets auf Abschaffung oder Einschränkung der Atomwaffen nur ein Nein entgegenzusetzen. Sie müssen neben einer wirksamen Kontrolle auch die Voraussetzungen dafür schaffen, daß sie eine Verminderung oder Abschaffung der Atomwaffen im Interesse der Sicherheit ihrer Völker verantworten können. In diesem Zusammenhang erhält der deutsche Beitrag erst seinen eigentlichen, ich gebe gern zu: relativen, aber trotzdem bei der Natur der gegebenen Tatsachen leider unentbehrlichen Sinn.
Der Westen kann sich nicht auf die Abschaffung der Atomwaffen einlassen, solange nicht sein Sicherheitsbedürfnis durch ausreichende konventionelle Streitkräfte gesichert ist. Der Aufbau der deutschen Streitkräfte im Rahmen der Pariser Verträge gibt die Möglichkeit, auf die NATO-Planung Einfluß zu nehmen. Starke konventionelle Streitkräfte der NATO, wie sie gerade durch unseren Beitrag ermöglicht werden, vermindern die Notwendigkeit der Verwendung von Atomwaffen gegen einen nicht mit atomaren Mitteln unternommenen Vorstoß.
Das setzt voraus, daß keine der beiden Seiten ernsthaft den dritten Weltkrieg in letzter Entscheidung sucht. Beim Westen kann das unterstellt werden; bei den Sowjets wächst die Wahrscheinlichkeit für eine solche Haltung gerade infolge der abschreckenden Wirkung, wie sie nicht zuletzt gerade durch Carte blanche erzielt werden sollte und auch wohl erzielt worden ist. Im Falle der Abschaffung konventioneller Streitkräfte besteht die Gefahr, daß bei kleineren Konflikten sofort Atomwaffen verwendet werden und daß bei einem Gegenschlag durch andere Atomwaffen die Katastrophe erwächst.
Hören Sie noch einmal Churchill:
Ich stimme denen nicht zu, die sagen: Laßt uns unsere Verteidigungseinrichtungen wegfegen und unsere Kräfte und Mittel auf nukleare Waffen konzentrieren. Die Politik der Abschreckung kann nicht auf nuklearen Waffen allein aufgebaut sein.
Er fuhr fort:
Wenn die NATO-Mächte keine einsatzbereiten Landstreitkräfte besitzen, um Widerstand zu leisten, dann könnte nichts einmal hier, einmal da vorgetragene Angriffe und Übergriffe der Kommunisten in dieser Zeit des sogenannten Friedens verhindern.
— Alles Churchill, der heute für die gegenteilige These strapaziert worden ist! —
Durch dauernde Infiltrationen könnten die Kommunisten in ständigem Fortschritt die Sicherheit Europas unterminieren. Wenn wir nicht bei örtlichen Angriffen sofort bereit sein wollen, den totalen Atomkrieg auszulösen, dann müssen wir konventionelle Streitkräfte auch weiterhin haben, um solchen Situationen begegnen zu können.
So weit Churchill.
Was für England gilt, gilt für uns in doppeltem Maße. Damit hat Churchill nicht zuletzt auch ein für uns sehr ernst zu nehmendes Wort über den Wert konventioneller Streitkräfte im Kalten Kriege und zur Verhinderung eines Atomkrieges dargelegt.
Der Ausbau der NATO durch die Aufstellung konventioneller deutscher Streitkräfte hat zur Folge, daß die taktische Luftwaffe der NATO verstärkt und in ihrer bei Tag und Nacht prompten Abwehrbereitschaft unterstützt wird. Auch das nimmt den Sowjets die Hoffnung, durch überraschenden Vorstoß oder durch größere Luftlandeaktionen sich in den Besitz der europäischen Flughäfen setzen zu können.
Da die Sowjets — und das ist die für uns entscheidende politische These — im Falle eines Angriffes auf Europa, auch wenn sie aufs Ganze gehen, nicht mehr mit entscheidenden Erfolgen rechnen können, andererseits nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten mit vernichtenden Schlägen der amerikanischen strategischen Luftwaffe rechnen müssen, ist gerade durch die Aufstellung der deutschen NATO-Streitkräfte der Anreiz, von der Überraschungsstrategie in Europa Gebrauch zu machen, wesentlich geringer geworden.
Natürlich müssen auf Grund von Carte blanche Gliederung, Ausbildung, Ausrüstung usw. den Möglichkeiten der atomaren Kriegführung angepaßt werden. Militärische Fachleute und Politiker werden sich damit beschäftigen müssen. Was heute gilt, mag in drei Jahren überholt sein. Wenn aber der Gesamtzweck der NATO erreicht werden soll, der nur in der Verhinderung des Krieges bestehen kann, so entheben uns gerade die Schlußfolgerungen aus Carte blanche nicht der Notwendigkeit, diese 6000 Freiwilligen einzuberufen und auszubilden. Der Bundestag mag der Bundesregierung glauben, daß sie keine Einheiten mit veralteter Gliederung und überholter Ausrüstung aufstellen wird. Es wird vielleicht für manchen auch schwer sein, sich von überkommenen Vorstellungen zu lösen. Wenn wir den dritten Weltkrieg verhindern wollen — nur diesem Ziele kann unser Beitrag dienen —, dann müssen unsere Streitkräfte für diesen Ernstfall vorbereitet und dürfen nicht auf die Erfahrungen des zweiten Weltkrieges abgestellt sein.
Die besondere Lage der Bundesrepublik bringt es mit sich, daß die Bundesrepublik den Aufgaben der Heimatverteidigung und des Bevölkerungsschutzes eine besondere Bedeutung beimessen muß. Dazu werden zur rechten Stunde, auch in Beantwortung der beiden Großen Anfragen der SPD, die zuständigen Ressortminister Stellung nehmen. Eines, glaube ich, ist für uns gemeinsame Erkenntnis: Der Wert der zukünftigen deutschen Streitkräfte wird, was Haltung und Moral der Truppe betrifft, um so größer sein, je mehr die einzelnen Soldaten davon überzeugt sind, daß ihre Tätigkeit der Verhinderung eines Krieges dient und daß im Ernstfall für den Schutz ihrer Angehörigen und ihres Eigentums die bestmöglichen Vorbereitungen getroffen sind.
Ich darf an die Adresse der Opposition sagen: Die Hände in den Schoß zu legen und sich mit passiven Maßnahmen zu begnügen, hieße, aus Angst vor dem Tode nackten Selbstmord zu begehen.
Unser oberstes Ziel heißt Verhinderung eines Krieges durch Zusammenfassung der Verteidigungskräfte der freien Welt zu einem für den Abschrekkungszweck ausreichenden Instrument. Je schrecklicher die Entwicklung der Massenvernichtungswaffen geworden ist, desto mehr besteht Aussicht, daß der totale Krieg als Mittel der Politik ausgeschaltet wird. Die Kobaltbombe klopft auch an die Konferenztüren von Genf.
Wir konnten in unserer politischen und geographischen Situation nicht anders handeln, als wir getan haben, wenn wir nicht durch Kapitulation vor der sowjetischen Macht von vornherein das Schicksal der Sklaverei auf uns herabbeschwören wollten.
Wir können heute nicht anders handeln, als die Pariser Verträge loyal zu erfüllen. Sie sind für uns kein Kompensationsobjekt, sie sind für uns kein Selbstzweck. Die Sowjets wissen, daß die Bundesrepublik Deutschland mit ihren künftigen Streitkräften gegen sie weder Krieg führen will noch kann. Es ist nicht zuletzt für uns der Sinn der Pariser Verträge, daß die Westmächte in Genf um die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit mit Zähigkeit ringen werden. Mag die Periode der Konferenzen lange dauern, es ist gut, daß sie jetzt begonnen hat. Wir sind durch das Ereignis vom 5. Mai — das Inkrafttreten der Pariser Verträge — in einer besseren Position, als wir bei der Utopie der Bündnisfreiheit gewesen wären.
Die Opposition hat immer den Grundsatz vertreten: lieber 10 Jahre verhandeln als einen Tag Krieg führen. Auf der durch die Pariser Verträge und unseren Beitrag gefestigten Gundlage können wir heute mit Ernst und Ruhe sagen: lieber jahrelang verhandeln als einen Tag Krieg führen. Wir haben eine echte Basis für Verhandlungen, und darin sollte uns die Opposition unterstützen.
Auch für uns gilt schließlich das Wort Churchills vor seinem Abgang von der großen politischen Bühne: „In der Zwischenzeit, bis dieses Ziel erreicht ist, nicht wanken, nicht müde werden, nicht verzweifeln." Nicht in Weltuntergangsstimmung und in eschatologische oder chiliastische Gefühle sich hineintreiben lassen! Wenn wir bedenken, daß vor 10 Jahren Potsdam gewesen ist und am Montag Genf beginnt, und den Bogen der 10 Jahre überblicken, dann gibt uns die bisher betriebene Politik die beruhigende Gewißheit, daß der Verlauf der nächsten Jahre uns weitere Ergebnisse dieser Art bringen wird.