Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Ollenhauer hat sich in der 93. Sitzung dieses Hohen Hauses bei der ersten Beratung des Freiwilligengesetzes mit den damals gerade in Gang befindlichen Luftmanövern, Carte Blanche genannt, befaßt, und er hat daraus die Folgerung gezogen, daß der geplante deutsche Verteidigungsbeitrag in der Ihnen bekannten Stärke keine nennenswerte Sicherheit für das deutsche Volk brächte. Der Abgeordnete Mellies hat dies heute noch einmal in unser aller Gedächtnis zurückgerufen und daran die Frage geknüpft, warum sich der Verteidigungsminister zu dieser Problematik nicht äußere.
Als damals in diesem Hohen Hause über diese Fragen debattiert wurde, waren die Manöver noch im Gange, und es gab lediglich einige Pressemitteilungen; diese aber können keine Basis sein für Äußerungen, die der Verteidigungsminister in diesen Angelegenheiten zu tun gedenkt, sondern er hat die Aufgabe, den Abschluß dieser Manöver abzuwarten und sich die Gewißheiten zu verschaffen, die in kurzer Zeit nach den Manövern über die dort gewonnenen Erkenntnisse zu erzielen sind. Niemand ist heute in der Lage, abschließend über die Erkenntnisse, die aus diesen Manövern zu ziehen sind, zu urteilen, weil hierzu eine längere Zeit gebraucht wird und weil die Ergebnisse einem ernsten Studium durch die Fachleute unterzogen werden müssen. Damit will ich nicht sagen, daß es überhaupt nicht möglich wäre, schon einige Folgerungen zu ziehen. Das will ich tun, soweit mir diese Folgerungen gut begründet zu sein scheinen.
Darf ich zunächst ein paar Worte über den Zweck der NATO-Manöver sagen. Jedes Manöver ist, wenn man es beurteilt, zunächst auch auf seine Anlage hin zu sehen. Der Zweck der NATO-Luftmanöver war, Auswirkungen und Abwehrmaßnahmen zu Beginn eines Überfalls aus der Luft, eines Überfalls, der unter taktischem Luftwaffeneinsatz und unter Verwendung von Atombomben erfolgen würde, zu prüfen. Hierzu wurde der Besitz von taktischen Atombomben auf beiden Seiten der miteinander Kriegführenden vorausgesetzt. Sie wissen übrigens, daß die Anlage der Manöver so war, daß Nord gegen Süd eingesetzt und somit die Bundesrepublik in ihrer ganzen Breite bei der Nord-Süd-
und Süd-Nord-Bewegung im Wirkungsbereich dieses Manövers lag. Die durchgespielten Angriffe richteten sich auf Flugplätze und gegen die Bodenorganisation der Luftwaffe. Der Übungszweck dieser Manöver war, das rechtzeitige blitzartige Ausweichen der fliegenden Verbände auf die Behelfsplätze, die sofortige Bekämpfung der angreifenden Verbände, Einzelmaschinen und ferngelenkten Flugkörper, den umgehenden Start zu umfassenden Vergeltungsmaßnahmen und Vernichtungsangriffen gegen die feindlichen taktischen Luftbasen, die Aufrechterhaltung der Fernmeldeverbindung für Führung und Nachschub, die schnellste und laufende Betankung und Munitionierung der Kampfflugzeuge unter schwierigsten Bedingungen und die Wahl der Nachschubwege und -mittel zu üben. Dazu kamen als Übungszwecke der Schutz der Erdanlagen, der Flugplätze, der Instandsetzungs- und Depoteinrichtungen durch Bau, Tarnung und Erdtruppen, ferner Radarabwehr und -störmaßnahmen, d. h. einerseits eine lückenlose Erfassung feindlicher Einflüge und ihre zeitverzugslose Übermittlung durch ein Luftwarnsystem und andererseits die Abschirmung eigener Fernmeldetätigkeit gegenüber der feindlichen Fernmeldeaufklärung.
Damit haben Sie eine ungefähre Vorstellung von der Größe und der Art dieser Manöveranlage. An ihr waren 11 verschiedene Nationen mit über 3000 Kampfflugzeugen beteiligt. Die Vorbereitung, Anlage und Durchführung einer solchen Übung stellen außerordentliche Ansprüche an die Führung und setzen weitgehende Fortschritte in der integrierten Führungsorganisation voraus. Insofern darf man von diesem Manöver sagen, daß schon die Tatsache der Übung allein militärisch gesehen als ein Erfolg zu buchen ist. Die Qualität und Einsatzfähigkeit von Fliegern und Maschinen wirkten bei nüchterner Betrachtung beruhigend. Die Pflicht einer jeden militärischen Führung ist es, die Lage so realistisch wie möglich zu gestalten; denn nur dann können die politischen Konsequenzen von den Staatsmännern richtig gezogen werden. Die militärischen Konsequenzen — darauf weise ich noch einmal hin — können natürlich erst nach eingehendem Studium der Einzelheiten gezogen werden. Hierbei bitte ich noch insbesondere zu berücksichtigen, daß das Manöver sich nur mit Teilproblemen beschäftigt hat, nämlich dem taktischen Atombombeneinsatz, daß keine Aktionen von Land-, See- und strategischen Luftstreitkräften vorgesehen und geplant waren.
Dennoch können wir aus dem Ablauf der Manöver mit gebotener Vorsicht heute folgende Folgerungen ziehen. Der Atombombenvorrat ist in den letzten Jahren so angewachsen, daß sein Einsatz auch für taktische Ziele möglich ist. Die Kosten für Atombomben sind aber noch so groß, daß ihr
Einsatz auf militärisch lohnende Ziele wie Flugplätze, Großanlagen, z. B. Depots, Truppenmassierungen und ähnliches beschränkt werden muß. Eine weitere Folgerung, die gezogen werden kann: die wichtigste Forderung bleibt die Erringung der alsbaldigen Luftherrschaft zum Schutze, des eigenen Gesamtpotentials und zur Ausschaltung des feindlichen Kriegspotentials, vor allem der Luft- und Raketenabschußbasen des Gegners. Weiter: das Ziel aller zu ergreifenden Maßnahmen muß daher die jederzeitige Einsatzbereitschaft ausreichender militärischer Mittel, Streitkräfte, Warnsysteme, d. h. das Ergreifen aktiver Maßnahmen sein. Eine Beschränkung auf nur passive Maßnahmen reicht nicht aus. Um einmal mit einem Satz nur von diesem Manöver abzuschweifen: auch Schweden und die Schweiz betreiben trotz Neutralität neben passiven vor allem aktive Abwehrvorbereitungen.
Aus den Manövern läßt sich die weitere Folgerung ziehen — und diese scheint mir bedeutsam zu sein —, daß die Erdtruppen trotz nuklearer Waffen, Flugzeugen und Raketen nicht überflüssig geworden sind. Hierzu einige wenige Ausführungen. Der Führungs- und Versorgungsapparat moderner Luftstreitkräfte ist so kompliziert und umfangreich, daß er ohne ausreichenden Schutz auf der Erde überhaupt nicht arbeiten kann. Dies gilt in besonderem Maße für unsere geographische Situation in Mitteleuropa. Der Einsatz von Erdtruppen kann dann von besonderer Bedeutung werden, wenn die Luftschlacht beide Seiten entscheidend geschwächt hat. Bei Annahme des Gleichgewichts der Atomwaffenaufrüstung und eines möglichen Gleichgewichts in der Luftrüstung zwischen West und Ost besteht ja auch die Möglichkeit, daß beide Seiten aus Risikogründen auf den Einsatz von Atomwaffen verzichten. Würde man auf Erdtruppen verzichten, so würde man in diesem Fall völlig wehrlos sein.
Drittens eine Erkenntnis, die man immer wieder aus der Kriegsgeschichte ins Gedächtnis zurückrufen muß: eine- wirkliche Beendigung einer kriegerischen Auseinandersetzung ist nur durch Landstreitkräfte möglich, und zwar durch die endgültige Besetzung der entscheidenden Punkte eines Landes zur Sicherung des militärischen Erfolges. Das Übergewicht der sowjetischen Landstreitkräfte und ihrer konventionellen Waffen ist erdrückend. Ich will Sie, weil wir darüber schon häufiger gesprochen haben, heute morgen nicht mit dem Zahlenmaterial behelligen. Solange aber nicht ausreichende Streitkräfte im mitteleuropäischen Raum aufgestellt sind, bleibt eben dieses Übergewicht der sowjetischen Landstreitkräfte und ihrer konventionellen Waffen schlechthin erdrückend.
Noch immer ist Mitteleuropa trotz westlicher Atomüberlegenheit in Gefahr, von sowjetischen Panzern überrollt zu werden. Die Aufstellung deutscher Streitkräfte wird diesen Mangel beheben und damit die Kriegsgefahr entscheidend verringern helfen. Die Erfahrungen, die man in Amerika in der Wüste von Nevada gemacht hat, haben gezeigt, daß weit auseinandergezogene kampfstarke Erdtruppen der Vernichtung durch Atomwaffeneinsatz entgehen können, wenn sie durch entsprechende Gliederung und Ausbildung den Bedingungen des Atomkrieges angepaßt werden. Ich bedaure, daß gerade über diese Manöver und über ihre Auswirkungen, die Lehren und Folgerungen, die daraus zu ziehen sind, in dieser Breite anläßlich
der Debatte in der ersten Lesung des Freiwilligengesetzes in unserer Presse nicht berichtet worden ist.
— Es geht nicht um die Wüste, Herr Kollege Wehner, sondern darum, daß die Manöver, die in dieser Wüste geführt worden sind, gezeigt haben, wie es trotz des Einsatzes von Atomwaffen möglich war, die Panzerverbände bereits zehn Minuten später durch dieses Gebiet hindurchbrausen zu lassen. Darauf kommt es an, wenn wir uns hier über die Frage unterhalten, ob etwa deutsche gepanzerte Verbände irgendeinen Verteidigungswert hätten.
Unsere militärischen Überlegungen hinsichtlich der Gliederung, Ausrüstung und Stationierung der Streitkräfte tragen diesen Grundsätzen Rechnung. Sie sind mit den Erfahrungen unserer Vertragspartner eingehend abgestimmt. Ich darf Ihnen an dieser Stelle noch einmal einen Satz sagen: Wenn Deutschland zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch keinen einzigen Soldaten hat, so haben wir dennoch schon seit langem die Möglichkeit, intensiv mitzuberaten, intensiv an diesen Überlegungen beteiligt zu sein, und man hat uns auch in die Erfahrungen und Versuche Einblick gewährt, die von anderen NATO-Nationen gemacht werden. Ich kann hier erklären, daß die deutschen militärischen Planungen diesen modernsten Erkenntnissen in vollem Umfang Rechnung tragen.
Dann noch eins! Die tatsächlichen Verhältnisse in allen militärisch bedeutenden Ländern stehen in einem deutlichen Gegensatz — ich muß das hier einmal aussprechen — zu mitunter recht pseudostrategischen und voreiligen Polemiken in der Presse. Es wird unsere Aufgabe sein, den Aufbau unserer Streitkräfte an die dynamische Entwicklung durch Wendigkeit in der Planung, rechtzeitiges Auswerten der Erfahrungen aus aller Welt und durch engen Kontakt mit unseren Vertragspartnern anzupassen und damit modern und wirksam zu erhalten.
Lassen Sie mich abschließend noch mit aller Eindringlichkeit auf folgende Erfahrung hinweisen. Der Aufbau moderner Streitkräfte sowie die Organisation sonstiger militärischer und ziviler Abwehrmaßnahmen sind im nationalen Rahmen allein unmöglich. Der westeuropäische Raum ist dazu zu eng. Die notwendigen materiellen und finanziellen Anstrengungen überschreiten die Möglichkeiten eines einzelnen Landes. Der Aufbau einer wirksamen Verteidigung ist nur durch die gemeinsame Anstrengung mehrerer Völker möglich. Die deutschen Streitkräfte können daher nach Organisation, Ausstattung und Führung immer nur im Rahmen der Gesamtstreitkräfte der NATO betrachtet werden. Die deutschen Divisionen sollen und werden die Kriegsgefahr in Mitteleuropa verhindern helfen. Denn im Falle eines Krieges darf ein Überrollen durch die sowjetische Panzerwaffe nicht erfolgen.
Daß der aktive Schutz der Bevölkerung durch die Streitkräfte nur ein Teil der Verteidigungsmaßnahmen ist, ist auch der Bundesregierung geläufig, und daß es dazu auch noch eines anderen Teiles bedarf, nämlich des passiven Schutzes der Bevölkerung, ist selbstverständlich. Aber es ist nicht meine Aufgabe, über den passiven Luftschutz der Bevölkerung vor Ihnen zu sprechen.
Der Verteidigungsminister hat damit über die Manöver „Carte blanche" und den bis zum Augenblick zu ziehenden Lehren und Folgerungen das gesagt, was bei ruhiger Beurteilung bis zum gegenwärtigen Augenblick zu sagen ist. Er ist sich darüber klar, daß man das weitere Studium noch abwarten muß. Es wird ihm selbstverständlich eine Ehre sein, diesem Hohen Hause auch später über den weiteren Fortgang der militärfachlichen Untersuchungen zu berichten. Der Verteidigungsminister ist aber nicht in der Lage, zu solchen schwierigen Problemen jeweils auf Veranlassung durch einen Presseartikel hin, ohne die Dinge in ihrer Gänze überschaut und geprüft zu haben, zu reden.