Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte für die sozialdemokratische Fraktion einige Ausführungen zur ersten Lesung dieses uns sehr wesentlich erscheinenden Gesetzes machen. Die sozialdemokratische Fraktion stimmt diesem Gesetz zu. Sie sieht in dem Vertrag, der mit diesem Gesetz ratifiziert werden soll, einen Fortschritt zu einer umfassenderen wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa, für die sich die Sozialdemokratie stets eingesetzt hat.
Schon im Jahre 1953 haben die sozialdemokratischen Abgeordneten in der Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl durch ihre Initiative einen Beschluß der Versammlung erwirkt, der die Grundsatze und Richtlinien für eine elastische und weitgespannte Politik der Hohen Behörde der Gemeinschaft zur Anbahnung von Assoziationsverhältnissen Großbritanniens und anderer Staaten zur Gemeinschaft aufgestellt hat. Wir sehen in der Assoziation Großbritanniens und — wie wir es anstreben — weiterer Staaten den Beginn einer Überwindung der Gefahr einer Abkapselung der Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die wir stets als eine besondere Schwäche der Konstruktion dieser Gemeinschaft angesehen haben.
Die Gemeinschaft für Kohle und Stahl kann jetzt auf eine mehrjährige Erfahrung zurückblicken, die es — so scheint es uns — möglich macht, Schlußfolgerungen zu ziehen, die ihrerseits wieder der weiteren Entwicklung der Gemeinschaft selbst und der Einwirkung der Tätigkeit dieser Gemeinschaft auf eine zunehmende wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa dienen können.
Wir Sozialdemokraten haben immer positiv zu den Zielen gestanden, die im Art. 2 des Vertrages der Gemeinschaft zusammengefaßt sind, nämlich im Einklang mit der Gesamtwirtschaft der Mitgliedstaaten und auf der Grundlage eines gemeinsamen Marktes zur Ausweitung der Wirtschaft, zur Steigerung der Beschäftigung und zur Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedstaaten beizutragen.
Unsere Einwände und Bedenken richteten sich gegen wesentliche Elemente der Konstruktion der Gemeinschaft und gegen die mit dem Dogma der supranationalen Institution heraufbeschworene Abkapselung dieser Gemeinschaft gegenüber Staaten, die diesem Dogma sich unterzuordnen nicht bereit sind.
Wir waren deshalb erfreut darüber, daß die Gemeinsame Versammlung der Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Sommer des Jahres 1953 unserem Vorschlag folgte und damals beschloß, daß die Ausweitung des gemeinsamen Marktes auf Nichtmitgliedstaaten der Gemeinschaft für Kohle und Stahl das Endziel der Gemeinschaft bleiben muß. Sie ist nicht in sich selbst abgeschlossen, sondern sie strebt danach, ganz Europa auf wirtschaftlichem Gebiet zu vereinigen. Voraussetzung für einen einheitlichen Markt ist jedoch, so hieß es in diesem Beschluß, daß alle Teilnehmerstaaten gleiche Rechte und gleiche Pflichten übernehmen.
Nun kam das Wesentliche, was damals zu einer positiven und konstruktiven Hinwendung auf die Möglichkeit von Zwischenlösungen und Assoziationen führte, nämlich: Als Zwischenlösung kann die Koordinierung zweier getrennter Märkte betrachtet werden, die durch gegenseitige Abkommen eng miteinander verbunden sind. Aus diesen Abkommen, die jeweils für fest begrenzte Gebiete des Kompetenzbereichs der Gemeinschaft — es werden angeführt Märkte, Preise, Investierungen, Produktion, Absprachen und Zusammenschlüsse, Transport usw., d. h. es wird ausdrücklich für möglich gehalten, die Kette zu verlängern — geschlossen werden, werden sich gemeinsame Regeln entwikkeln, die in ihrer Gesamtheit den Rahmen und den Inhalt eines Assoziierungsvertrages auf lange Sicht bilden werden. Schließlich: Sowohl die Errichtung eines gemeinsamen Markts wie die Koordinierung getrennter Märkte können erreicht werden entweder durch die Schaffung einer überstaatlichen oder internationalen Behörde oder durch ein System paralleler Gesetzgebung, d. h. also durch gleichgerichtete Beschlüsse, die gleichzeitig von den für die betreffenden Gebiete jeweils zuständigen Behörden gefaßt werden. Diese Hinwendung zu einer Vielseitigkeit von Möglichkeiten wird und wurde in diesem Beschluß des Sommers 1953 durch den Satz bekräftigt: „Die Vereinheitlichung der europäischen Wirtschaft ist so wünschenswert, daß keine rechtliche Form von vornherein ausgeschaltet werden darf." In diesem Beschluß ist damals auch besonders auf Großbritannien abgehoben worden, aber es ist ausdrücklich gesagt worden, das betreffe natürlich auch andere Staaten.
Mit dieser Richtlinie vom Jahre 1953, die unserer Initiative entsprang, war es möglich, schließlich das Abkommen zu erzielen, durch das das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland und die Gemeinschaft für Kohle und Stahl den institutionellen Rahmen schaffen, in dem, wie es jetzt richtig in der Begründung der Bundesregierung für das Ratifikationsgesetz heißt, ..sich Besprechungen zwischen der Regierung des Vereinigten Königreichs und den Organen der Gemeinschaft über die. das Gebiet von Kohle und Stahl betreffenden Fragen gemeinsamen Interesses entwickeln können."
Wir wünschen diesem Unternehmen Erfolg besonders im gemeinsamen Interesse all der arbeitendenden Menschen und ihrer Familien, deren
Wohlergehen von der Entwicklung von Kohle und Stahl abhängig ist. Wir wollen aber diese Gelegenheit dazu benützen, um jetzt, wenige Wochen nachdem in Messina die Außenminister der sechs Mitgliedstaaten der Gemeinschaft für Kohle und Stahl zusammengewesen sind, einiges in diesem Zusammenhang zu deren Beschlüssen und zu den Möglichkeiten auszuführen, sie zur Grundlage einer umfassenderen wirtschaftlichen Zusammenarbeit Europas zu machen. In Messina haben die Außenminister Beschlüsse gefaßt, durch die, wenn man sie genau prüft, die schrittweise Verwirklichung eines gemeinsamen europäischen Marktes erreicht werden soll. Dabei ist nicht an ein Vorgehen nach einem starren Schema gedacht. Die Beschlüsse lassen Raum für verschiedene Formen der Zusammenarbeit und für die Koordination von Institutionen und Kooperationsformen verschiedener Art. In der Gemeinsamen Versammlung der Gemeinschaft hat man sich damit eingehend befaßt, vor allen Dingen mit den Möglichkeiten, die auch von der Gemeinschaft her gesehen in diesen Beschlüssen liegen, die aber nur dann in ihnen liegen, wenn man den Willen zu fortschreitender wirtschaftlicher Zusammenarbeit hat. Wir meinen, daß die Gemeinschaft dazu ihren Beitrag leisten muß.
Die sozialistische Gruppe in der Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl hat darauf hingewiesen, d aß eine Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft ihrer Auf f as-sung nach ihren Sinn erst durch die Einbettung in eine synchronisierte Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten erhalten kann, die, so meinen wir, allein eine aktive Konjunktur- und Strukturpolitik ermöglicht. Die entscheidenden Möglichkeiten einer über den engeren Rahmen von Kohle und Stahl hinausgehenden Wirtschaftspolitik liegen unseres Erachtens auf den Gebieten der langfristigen Konjunktur- und Strukturpolitik, ferner der Investitionspolitik und schließlich der Beschäftigungspolitik. In den Beschlüssen von Messina ist mit den Hinweisen auf die Harmonisierung der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik der Teilnehmerstaaten sowie auf die ausreichende Koordinierung der Währungspolitik die Möglichkeit eines Weges angedeutet, der zum Ziele führen kann, wenn — so muß ich wieder betonen — der Wille zu einer aktiven gemeinsamen Wirtschaftspolitik wirksam ist.
Es ist die Frage, ob dieser Wille zu einer solchen aktiven gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik in Europa wirklich vorhanden ist.
Ich kann nicht anders, als in diesem Zusammenhang die Vermutung auszusprechen, daß offensichtlich manche Kreise, die vor wenigen Jahren noch von europafreudigem Tatendrang überschäumten, nun an eine Umwertung europäischer Werte gegangen sind.
Die Frage, die uns etwas drückt, ist, ob das darauf zurückzuführen sein sollte, daß sie damals eigentlich und in erster Linie die militärische Seite meinten, wenn sie Europa sagten, und ob nun, nachdem diese Seite auf eine andere Weise gelöst worden ist, ihr Bedarf an europäischer Gemeinschaft sozusagen gelöscht ist.
In ,der Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl habe ich kürzlich darauf hingewiesen, welche Versäumnisse der Organe der Gemeinschaft hinsichtlich der konsequenten Anwendung der Bestimmungen des Vertrages zu beklagenswerten Mißverhältnissen geführt haben. Wenn ich heute und im Zusammenhang mit dem uns vorliegenden Ratifikationsgesetz daran erinnern will, so deshalb, weil ich der Überzeugung bin, daß erstens das Abkommen über die Beziehungen Großbritanniens und der Gemeinschaft für Kohle und Stahl erst dann seinen Sinn bekommt, wenn die Gemeinschaft das ihrige tut, um in ihrem eigenen Bereich eine aktive Wirtschaftspolitik zu treiben, und daß zweitens die Regierungen — und dazugehört auch die Bundesregierung — der sechs Länder durch den Ministerrat die Verpflichtung erfüllen müßten, die Gemeinschaft in vollem Maße zu einer solchen Wirtschaftspolitik zu befähigen. Das ist bis jetzt keineswegs der Fall.
Wenn ich vom Bundestagspodium aus dazu noch einmal einiges sage, so geschieht es auch deshalb, weil die Anliegen der Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom Ministerrat und auch von der Konferenz der Außenminister der sechs Mitgliedstaaten bisher offenbar nur ganz nebenbei zur Kenntnis genommen worden sind. Ich will mich dazu jeder weiteren Bemerkung enthalten. Aber worum es dabei sachlich geht, das möchte ich doch bei dieser Gelegenheit hier in Erinnerung rufen. Die Konjunktur- und Strukturpolitik hätte durch die Aufstellung der — wie es in der Fachsprache dort heißt — „allgemeinen Ziele" schon ihre gesamte Richtung erhalten müssen, und darüber hinaus müßten der Kohle- und der Stahlpolitik ihre weiteren Richtpunkte gesetzt werden. Alle Bemühungen, eine klarere Vorstellung über die wirtschaftspolitische Linie der Politik der Hohen Behörde zu gewinnen, sind aber bisher in recht allgemeinen Überlegungen steckengeblieben. Ich gehe sicher nicht fehl, wenn ich annehme, daß die Haltung des Ministerrates wesentlich zu dieser Zurückhaltung der Hohen Behörde geführt und beigetragen hat.
Von einer stärkeren Initiative — und das ist das nächste, worauf ich hinweisen muß — auf diesem Gebiet hätten Impulse für eine strukturelle Anpassung der Stahl- und Kohlewirtschaft an die veränderten Bedingungen des Gemeinsamen Marktes, besonders auch stärkere Impulse für eine weitergehende wirtschaftliche Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten ausgehen können. Endlich hätten auch im Rahmen einer solchen bewußt konstruktiven Politik preis- und wettbewerbspolitische Maßnahmen ihren Sinn erhalten. Hier, so meine ich, liegen Versäumnisse sowohl der Hohen Behörde als auch besonders der Regierungen der Mitgliedstaaten vor.
Die Investitionspolitik erscheint uns als ein entscheidendes Mittel, die strukturelle und konjunkturelle Entwicklung ohne dirigistische Eingriffe zu beeinflussen. Es ist bemerkenswert, daß dieser Gesichtspunkt in dem Messina-Dokument für die Gesamtwirtschaft stark unterstrichen wird. Nichts anderes bedeutet ja doch wohl die in diesem Dokument ,angekündigte Schaffung eines europäischen Investitionsfonds, der die gemeinsame Entwicklung der europäischen wirtschaftlichen Möglichkeiten
und besonders die Entwicklung der weniger begünstigten Gebiete der Teilnehmerstaaten bezweckt. Eine wirkungsvolle wirtschaftliche Zusammenarbeit der europäischen Staaten — und auf die kommt es uns an — hängt davon ab, daß in den Grundstoffindustrien Kohle und Stahl eine konstruktive Investitionspolitik durchgeführt wird. Sie muß in Übereinstimmung mit der Investitionspolitik in ,den übrigen Bereichen der Wirtschaft der Mitgliedsländer entwickelt werden.
Die Beschäftigungspolitik in der Gemeinschaft für Kohle und Stahl, um auch das noch zu sagen, steht in einem engen Zusammenhang mit den von den sechs Regierungen in Aussicht genommenen Maßnahmen. Die Gemeinsame Versammlung hat diesem Problem stets ihre Aufmerksamkeit gewidmet und sich mit den Folgen befaßt, die sich aus der Fortentwicklung und aus der Rationalisierung der Kohle- und Stahlwirtschaft für die Arbeitnehmer dieser Grundstoffindustrien, aber auch für die wirtschaftliche und soziale Lage der betroffenen Gebiete und Länder ergeben. Wir haben uns in der Versammlung für verpflichtet gehalten, und ich halte mich auch hier für verpflichtet, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß die Außenminister in ihrem Dokument nur sehr vage auf die Gemeinschaft für Kohle und Stahl Bezug genommen haben. Ich finde es bedauerlich, daß dort nichts darüber ,angezeigt worden ist, welche Bedeutung einer aktiven Politik der Gemeinschaft auf dem Gebiete der Struktur- und Konjunkturpolitik, der Investitionspolitik und der Beschäftigungspolitik für die Fortentwicklung der europäischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit zukommt,
wobei es sich doch um Aufgaben und Möglichkeiten handelt, die der Vertrag bereits in seiner heutigen Fassung enthält.
Dieses Versäumnis von Messina — so finden wir — steht in einem merkwürdigen Zusammenhang mit der Tatsache, daß sich sowohl in der Gemeinsamen Versammlung als auch in der Hohen Behörde und in der Praxis des Ministerrats Tendenzen zeigten, die Bestimmungen des Vertrages so eng wie möglich auszulegen, damit die Tätigkeit der Gemeinschaft auf den ihr durch den Vertrag zugewiesenen Gebieten zu begrenzen und so die Möglichkeit einer konstruktiven Politik wirtschaftlicher Zusammenarbeit einzuschränken. Wir wünschen, daß die Bundesregierung ihren Einfluß im Ministerrat geltend macht, um in der Gemeinschaft und mit Hilfe der Gemeinschaft das zu tun, was notwendig ist, um durch die Synchronisierung von Wirtschafts- und Handelspolitik die Erhöhung der Produktivität und die Steigerung der Lebenshaltung zu erreichen. Uns scheint auch, daß die Zeit gekommen ist, den bisher auf dem Papier stehengebliebenen Beschluß ides Ministerrats vom Oktober 1953 über eine gemeinsame Konjunkturpolitik in die Wirklichkeit umzusetzen. Die Beschlüsse ,der Außenminister von Messina bieten dazu eine geeignete und genügende Handhabe, wenn man zu einer umfassenderen Wirtschaftlichen Zusammenarbeit vorstoßen will.
Das Abkommen zwischen Großbritannien und der Gemeinschaft für Kohle und Stahl berechtigt uns jedenfalls zu der Hoffnung, daß wir bei den
Anstrengungen um eine intensivere wirtschaftliche Zusammenarbeit auch Großbritannien an unserer Seite haben werden, wenn wir uns nur bemühen, genügend elastische Formen zu finden, zu entwikkeln und — darauf kommt es an — mit Leben zu erfüllen.