Rede von
Artur
Stegner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(Fraktionslos)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich die Ausführungen des Herrn Kollegen Scharnberg hörte, wurde ich
unwillkürlich an eine Unterhaltung mit einem alten — an Erfahrung alten — Parlamentarier aus dem Reichstag der Weimarer Republik erinnert, der mir einmal sagte: „Die Wahlgesetze sind deswegen so außerordentlich beliebt, weil sie sich beliebig weit vom Boden der Realität entfernen können und der Phantasie freien Spielraum lassen." Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, woher Kollege Scharnberg seine Erfahrungen genommen hat, die für ein relatives Mehrheitswahlrecht in Deutschland sprechen. Meines Wissens haben wir nie ein solches relatives Mehrheitswahlrecht in den Ländern oder im Bund oder in den früheren Reichstagen gehabt, daß man diese Erfahrungen daraus ziehen könnte.
Ich brauche nur mit wenigen Worten die Ausführungen der Kollegen Euler und Menzel zu ergänzen. Herr Scharnberg sagte vollkommen richtig, ein relatives Mehrheitswahlrecht mündet immer in ein Zweiparteiensystem. Diese Tatsache fordert natürlich zu Vergleichen mit den Vereinigten Staaten von Amerika und mit England heraus; das ist ganz klar. Aber wir dürfen eins nicht vergessen: Man kann doch nicht Wahlgesetze aus anderen Ländern zum Vergleich heranziehen, weil man Wahlgesetze nicht isoliert betrachten darf. Ein Wahlgesetz ist vielmehr nur zu verstehen aus der Geschichte des Staatslebens überhaupt, aus der Geschichte und der Wesensart der politischen Parteien und aus der Verfassungswirklichkeit eines jeden Staates heraus.
Nun betrachten Sie doch einmal die USA! Sicher, dort haben wir zwei Parteien. Aber vielleicht haben Sie vergessen, daß wir dort eine völlig andere Parlamentskonstruktion haben. Wir haben das Repräsentantenhaus und den Senat — also ein I Zweikammersystem —, der sukzessive gewählt wird und dadurch an sich schon eine Kontinuität darstellt. Wir haben als vielleicht wichtigste Volkswahl dort die Wahl des Präsidenten, der in seiner Eigenschaft als Staats- und Ministerpräsident vom Volke über Wahlmänner gewählt wird. Meine Damen und Herren, haben Sie denn alle vergessen, wie sich die letzte Regierungsbildung in Amerika abspielte, das Sie heute zum Vergleich mit Deutschland heranziehen? Es wurde dort der Republikaner Eisenhower von der Bevölkerung als Staats- und Regierungschef gewählt, und er mußte mit einer demokratischen Mehrheit regieren, weil die Parlamentswahlen zu einem anderen Zeitpunkt stattfinden. Herr Scharnberg, glauben Sie, daß der Herr Bundeskanzler in Deutschland mit der SPD-Mehrheit regieren würde? Oder glauben Sie, daß Herr Ollenhauer etwa mit einer CDU/CSU-Mehrheit regieren würde? Wie kann man denn ohne Berücksichtigung der Verfassungswirklichkeit und der Entwicklung der Parteien solche Vergleiche ziehen? Man liest das auch immer wieder in den Zeitungen, und wenn ich das hier noch einmal zu später Stunde anführe, dann nur, um diese Torheiten endlich einmal aus der Wahlgesetzdebatte zu eliminieren.
— Herr Lücke, ich bin zur Zeit noch in Washington, und nach Weimar komme ich auch noch, obwohl ich mich da relativ kurz fassen kann, weil die Kollegen dankenswerterweise die Dinge schon erwähnt haben.
Etwas Ähnliches haben Sie auch in England. Dort ist das Zweiparteiensystem nicht — und das
wollen bitte alle die Herren Vergleicher berücksichtigen — die Frucht der relativen Mehrheitswahl, sondern die Frucht des jahrhundertelangen Nebeneinander- und Zusammenlebens der Whigs and Tories. Und daraus ist auch etwas anderes entstanden. In England hat sich das Parlament institutiv in jahrhundertelangen Kämpfen gegen die Regierung so durchgesetzt, daß seine Stellung heute überhaupt nicht mehr erschüttert werden kann. Warum sage ich das? Weil — ich sprach vorhin von den Whigs and Tories — die zahlenmäßigen Unterschiede zwischen den beiden tragenden Parteien in England sehr gering sind. Dort kann aus der historischen Entwicklung heraus in der Tat die Opposition von heute die Regierung von morgen sein. Und da diese Realität respektiert wird, hat dort die Opposition einen institutiven Wert. Das ist gar nicht zu bestreiten. Von solchen Verhältnissen sind wir doch meilenweit entfernt, ja, wir werden sie wahrscheinlich nie erreichen. Also wenn man schon Vergleiche zieht, muß man wenigstens vergleichbare Voraussetzungen dafür haben, und die existieren nun einmal nicht. Deswegen wollen wir die Wahlgesetze nicht so sehr isoliert betrachten, sondern sie hineinstellen in den gesamten staatspolitischen Bereich und auch in die Wesensart der Menschen, für die sie geschaffen werden.
Nun, ich sprach vorhin von den Parteien. Das kann ich ruhig tun, da ich als parteiloser Abgeordneter hier eine etwas größere Freizügigkeit besitze als die Kollegen, die sonst dazu das Wort nehmen können.
— Das können Sie mir nicht verübeln. Also wenn Sie schon das Zweiparteiensystem wollen — und ich gebe zu: man kann das wollen, obwohl es für deutsche Verhältnisse unvorstellbar ist —, dann sorgen Sie bitte dafür, daß wir in Deutschland keine Weltanschauungsparteien haben!
Sowohl in Amerika wie in England sind die Parteien politische Zweckmäßigkeitsparteien, die ihr jeweiliges Wahlprogramm für die nächsten vier Jahre der Parlamentssession im wesentlichen herausstellen und die sich besonders in Amerika manchmal so gering nuancieren, daß man bei den Reden eines Senators, also eines Parlamentsmitglieds des Oberhauses, sehr aufpassen muß, welcher Partei er überhaupt angehört.
— Ja, eben, ich werde Ihnen das gleich erklären, Herr Stücklen. Sie müssen jetzt einmal über Ihren eigenen Schatten springen. Jetzt haben Sie nämlich vergessen, daß wir nicht in Weimar und nicht in Washington sind, sondern in Bonn, und da bin ich jetzt angelangt!
— Das kann ich von hier aus bei dem diffusen Licht leider nicht erkennen, Herr Kollege Greve.
Wir haben in Deutschland im Laufe der parlamentarischen Geschichte, die ja relativ kurz ist —wir können es beklagen, aber es ist eine feststehende Tatsache —, nun einmal die sogenannten Weltanschauungsparteien entwickelt. Wir haben nun einmal in Deutschland diese Betrachtungsweise, und es hat sich beim deutschen Menschen
eingebürgert, daß man die Politik nach christlichen, vielleicht nach christlich-bayerischen
oder anderen Gesichtspunkten sehen kann. Man kann sie nach sozialistischen, man kann sie nach liberalen, man kann sie, wie der Kollege Elbrächter mit Recht, nach konservativen Gesichtspunkten sehen. Es lassen sich unschwer noch ein paar andere politische Gesichtspunkte aufführen
— so modern will ich heute nicht sein; ich will mich mit dem begnügen, was bisher gewesen ist —, und diese Gesichtspunkte sind ja auch von meinem Herrn Vorredner hier vorgetragen worden. Meine Damen und Herren, wenn Sie das Zweiparteiensystem einführen wollen, dann müssen Sie sich in Deutschland auch vorher auf zwei Weltanschauungen einigen; dann können Sie das machen. Oder Sie gehen vom Prinzip der Weltanschauungspartei ab und bilden die politische Zweckmäßigkeitspartei. Dann müssen Sie aber die CSU sofort auflösen, Herr Stücklen.
Das sind doch die Schwierigkeiten, die sich anbieten.
Ich habe vorhin gesagt, man soll diese Dinge nicht isoliert sehen, sondern sie in den Lauf der historischen Entwicklung hineinstellen; man soll die Wesensart der Parteien und die Verfassungswirklichkeit berücksichtigen. Dann, meine Damen und Herren, haben Sie doch die Arbeitsmethode für die Ausschüsse, damit diese zu einem Ziel kommen.
Es ist heute sehr häufig der Parlamentarische Rat hier angeführt worden. Ein Wahlgesetz — und darin werden mir wohl die meisten Damen und Herren dieses Hauses recht geben — ist doch quasi eine Ergänzung der Verfassung, ist eigentlich mit ein Stück der Verfassung; das unterliegt gar keinem Zweifel. Wenn man sich schon zur parlamentarischen Demokratie bekennt, dann muß man auch dem Wahlgesetz diese schwerwiegende Bedeutung zubilligen. Ich . für meine Person wäre gar nicht böse gewesen, wenn die Kollegen des Parlamentarischen Rates für das Wahlgesetz eine qualifizierte Mehrheit im Parlament vorgeschrieben hätten, vielleicht nicht in der für eine Verfassungsänderung notwendigen Höhe, aber immerhin so, daß dadurch auch ein gewisser Minderheitenschutz entstanden wäre. Dieser Gedanke ist von der parlamentarischen Ebene her gar nicht abzuweisen. Es hätten auch noch andere Möglichkeiten bestanden. Ich habe vorhin das Zweikammersystem anderer alter demokratischer Staaten hier heraufbeschworen. Es wäre vielleicht auch nicht falsch gewesen, eine zweite parlamentarische Kammer einzuführen. Dann hätte man sich nämlich für die direkt vom Volk gewählte Kammer vielleicht auf ein modifiziertes Mehrheitswahlrecht verständigen können, wenn die andere Kammer der politisch konstante Faktor gewesen wäre.
Verehrter Herr Kollege Stücklen und verehrter Herr Kollege Scharnberg, ich muß Ihnen hier eins sagen. Sie haben mit beredten Worten versucht, klarzumachen, daß das System der Splitterparteien zwangsläufig aus dem Verhältniswahlrecht kommt. Ich weiß nicht, woher Sie diese Erkenntnis nehmen. Ich kann die Behauptung genau umkehren; ich weiß nicht, ob das mit der Wirklichkeit übereinstimmt, aber ich mache mir einmal den Spaß, das zu sagen. Ich kann dann folgendes behaupten: Das Mehrheitswahlrecht bringt immer nur einen kleinen Teil der Bevölkerung politisch zum Zuge. Es ist hier sowohl von dem Herrn Kollegen Euler wie vom Herrn Kollegen Menzel dargetan worden, daß das Mehrheitswahlrecht in Wirklichkeit ein Minderheitenwahlrecht ist. Nun schön.
— Nein, ich bin ja mit meiner Berechnung noch gar nicht am Ende; deswegen können Sie den Pferdefuß noch gar nicht sehen.
Angenommen, wir beschließen jetzt das Scharnbergsche oder Stücklensche Mehrheitswahlrecht hier für den Bundestag. Dann bin ich persönlich überzeugt, daß ein großer Teil von Abgeordneten, die die Qualifikation zum Bundestagsabgeordneten hätten, kein Mandat zum Bundestag mehr bekommen. Das unterliegt für mich keinem Zweifel. Diese Politiker werden aber deswegen nicht auf die Politik verzichten, sondern sie werden, da wir nun einmal diese merkwürdige Staatskonstruktion haben, in die Landtage gehen, die sich niemals zu einem absoluten Mehrheitswahlrecht entschließen werden, aus Gründen, die auszuführen hier vielleicht zu weit ginge. Sie würden nun den Landtagen ein sehr viel größeres politisches Schwergewicht durch ihre Persönlichkeit geben, als es hier der Bundestag durch den Mangel an diesen Persönlichkeiten hat. So könnte sich hier eine Verschiebung nach den Ländern hin ergeben.
— Ja, meine Damen und Herren, das ist doch denkbar. Jetzt gehe ich aber noch einen Schritt weiter, passen Sie mal auf, ich ziehe ja nur die Parallele zu den Scharnbergschen Verhältniswahlüberlegungen.
— Herr Lücke, passen Sie mal auf, das ist viel besser; hören Sie jetzt bitte genau zu! — Wenn immer nur ein Teil der Bevölkerung politisch zum Zuge kommen könnte, während der andere Teil — diese Furcht klang sehr deutlich aus den Ausführungen des Herrn Kollegen Menzel heraus — z. B. in einen außerparlamentarischen Raum gedrängt würde, dann wäre eine Radikalisierung über das relative Mehrheitswahlrecht zu befürchten. Das ist doch denkbar. Wenn immer nur ein kleiner Teil des Volkes politisch zum Zuge kommt, was soll dann z. B. die Jugend, die sich gegen die Erbhofbauern des relativen Mehrheitswahlrechtes nicht mehr durchsetzen kann,
was sollen diese jungen Leute machen?
— Ich habe eben versucht, Ihnen klarzumachen,
Herr Lücke, daß in Amerika und in England die
Dinge aus Gründen der dortigen Verfassungsrealität anders liegen. Die müssen Sie einmal studieren.
Nun, Herr Kollege Scharnberg, ich hoffe zwar nicht, daß das mit der Radikalisierung so kommt. Da Sie aber die Radikalisierung aus dem Verhältniswahlrecht theoretisch abgeleitet haben, habe ich mir gestattet, die Radikalisierung einmal aus dem einfachen Mehrheitswahlrecht abzuleiten! Das ist ja genauso mein gutes Recht. Und, lieber Herr Schamberg, Sie wissen, ich bin an dem vorigen
Bundestagswahlgesetz nicht ganz unbeteiligt gewesen. Ich war über Ihre Ausführungen nicht erstaunt, denn ich habe sie von vor zwei Jahren noch sehr gut im Gedächtnis.
Aber, sehen Sie, darüber sind wir uns doch einig — selbst auf die Gefahr hin, daß ich vorn Bundesinnenminister keine gute Zensur für meine Ausführungen bekomme; ich kann es ja überleben —: Ich wünsche jedenfalls sehnlich, daß aus den Ausschußarbeiten nicht eine parlamentarische Bastelstunde wird, Herr Scharnberg, etwa mit dem Versuch, zwei heterogene Wahlsysteme, relatives Mehrheitswahlrecht und Verhältniswahlrecht, mit der bekannten Grabentheorie des tiefen und des schmalen Grabens zusammenzukuppeln! Das wäre grauenhaft!
Meine Damen und Herren, die deutsche Tradition ist die des Verhältniswahlrechts. Daran gibt es gar keinen Zweifel.
— Weimar, natürlich. Wir haben diese Tradition in den Landtagen entwickelt, und, Herr Lücke, Sie mögen erstaunt sein — wir waren ja auch schon zusammen im 1. Bundestag —, wir haben eine gewisse Tradition auch schon in den Bundestagen erreicht. Warum Sie also den Blick immer nach Weimar richten, weiß ich nicht. Das, weil Sie Weimar nannten.
Ich war erschrocken — damit will ich schließen, meine Damen und Herren —, als Herr Scharnberg sagte, wir wollen mit dem jetzigen Wahlgesetz etwas Endgültiges schaffen. Ich bete zu Gott, Herr Scharnberg, daß wir nichts Endgültiges schaffen! Denn ich schließe mich hier den Ansichten des Kollegen Menzel und anderer an: Wenn das Bekenntnis zur deutschen Wiedervereinigung nicht ein Lippenbekenntnis ist, wenn der deutsche Bundestag nicht zu verschiedenen Malen über Entschließungsanträge falsch abgestimmt hat, wenn er nicht den Entwurf zu einem gesamtdeutschen Wahlgesetz ausgearbeitet hätte, wenn das alles nicht nur Lippenbekenntnisse sind, und wenn diese Bundesrebublik, wie die Verfassung es sagt, provisorisch ist, dann wollen wir bei Gott ein provisorisches Wahlgesetz machen und weiterhin ein provisorisches Wahlgesetz machen für die freien Wahlen in Gesamtdeutschland und wollen hoffen, daß eine deutsche Nationalversammlung dann ein Wahlgesetz schafft, das der deutschen Tradition gerecht wird, das dem Wesen der deutschen Parteien gerecht wird, das der Verfassungswirklichkeit gerecht wird und das wirklich in der Lage ist, den deutschen Menschen zu einem überzeugten Demokraten zu machen!