Rede von
Dr.
Walter
Menzel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es noch einen Zweifel hätte geben können, ob man in den letzten Monaten versucht hat, den Inhalt des Wahlgesetzes mit anderen anstehenden Problemen auszuhandeln, dann hat die Rede des Herrn Kollegen Stücklen den letzten Zweifel beseitigt,
und Herr Kollege Scharnberg hat lediglich in einer etwas mehr verzuckerten Form — statt des Abgesanges für die kleinen Parteien durch Herrn Stücklen — den kleinen Parteien eine seidene Schnur dargereicht.
Schließlich — und das muß nun gesagt werden — muß doch auffallen, daß mit dem Entwurf einiger Abgeordneter der CDU/CSU, der mit seinem reinen Mehrheitswahlrecht die kleinen Regierungsparteien zum Sterben verurteilen würde, gerade in dem Augenblick vorgestoßen wird, in dem man ihre Stimmen braucht, nicht nur für die Soldatengesetze, sondern auch für eine etwaige Verfassungsänderung. Es muß doch seine besonderen Gründe haben, daß man gerade in diesem Augenblick mit einem Gesetz kommt, das gesetzestechnisch auch schon vor einem Jahr hätte eingereicht werden
können, wenn man nicht von vornherein die Absieht gehabt hätte, sich einen besonders geeigneten Zeitpunkt dafür auszusuchen.
Meine Damen und Herren, die Herren Kollegen Stücklen und Scharnberg haben den größten Teil ihrer Argumente aus Vorgängen der Weimarer Zeit geholt. Ich möchte ganz offen folgendes sagen: Wenn sich die bürgerlichen Parteien, die heute so um die Republik von Weimar jammern, damals so für Weimar eingesetzt hätten, wie sie es heute tun, es wäre nie zu Hitler gekommen!
Wer hat denn Hitler zur Macht verholfen? War denn Herr Hugenberg ein Sozialdemokrat?
War denn die Harzburger Front eine Veranstaltung vielleicht der freien Gewerkschaften und der deutschen Sozialdemokratie?
Meinen Sie nicht, daß Herr Hugenberg nicht auch bei einem reinen Mehrheitswahlrecht in einem Wahlkreise, in Pommern, in Mecklenburg oder in Ostpreußen, gewählt worden wäre? Meine Damen und Herren, vergessen wir doch eines nicht: Wenn Sie jetzt immer wieder — mit dem Gesicht zu uns gewandt — sagen, die Sozialdemokratie solle die Zustände der Weimarer Republik nicht mehr heraufbeschwören, dann frage ich Sie: Wer hat denn am 21. März 1933 dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt?
Das scheuen Sie sich der Öffentlichkeit zu sagen, daß die Sozialdemokratie die einzige Partei war, die im Reichstag den Mut hatte, dagegen zu stimmen.
Herr Kollege Stücklen hat die Bücher von Braun und Severing zitiert. Sicherlich ist das eine sehr lehrreiche Lektüre. Aber was Sie daraus lernen könnten — nicht nur für die Fragen des Wahlrechts —, wäre die Erkenntnis, daß diese beiden Männer wirkliche Demokraten waren, die niemals bereit waren, die Mehrheit ihrer Parteien im Parlament zu mißbrauchen. Wenn Sie das lernen würden — und da hätten Sie viel zu lernen nach den Ereignissen der letzten Monate in diesem Bundestag —, dann wäre die Form des Wahlrechts eine sekundäre Frage.
— Herr Kollege Stücklen, sehen Sie, wie vorsichtig man mit Argumenten sein muß. Sie sagten: Mit diesem Wahlgesetz wollen wir das Grundgesetz schützen. Ich glaube Ihnen das — daran ist gar kein Zweifel. Ich begrüße diese Erklärung, weil sie von dem Sprecher einer Partei kommt — der CSU —, die seinerzeit das Grundgesetz abgelehnt hat.
Nun ein Wort zu den Erklärungen des Herrn Bundesinnenministers. Herr Bundesinnenminister, Sie haben in einer — entschuldigen Sie den Ausdruck — etwas schulmeisterlichen Form versucht,
den Entwurf meiner politischen Freunde zu zerpflücken. Ich meine, wenn man diese Attacke reitet, muß man zumindest erst einmal von den Tatsachen ausgehen, wie sie wirklich sind.
Sie sagen, wir lehnten uns zu stark an den Entwurf von 1949 an, einen Entwurf, der damals in aller Eile verabschiedet worden sei. Welcher Irrtum! Nicht weniger als 30 bis 40 Sitzungen des Wahlrechtsausschusses ides Parlamentarischen Rates waren notwendig, um dieses Gesetz zu verabschieden. Diese Sitzungen haben zwei bis drei Monate in Anspruch genommen. Es ist sehr erstaunlich, daß diese Kritik von einer Regierung kommt, man habe das Wahlgesetz seinerzeit zu schnell verabschiedet, die viel wichtigere Gesetze — wie z. B. das Freiwilligengesetz — sogar innerhalb von vierzehn Tagen durchdrücken will.
Auch hier sollte man, glaube ich, die richtigen Größenordnungen sehen.
Sie haben gemeint, Herr Bundesinnenminister — und anscheinend haben wir mit unserem Vorschlag des Listenverbindungsverbots und des Blockbildungsverbots einen sehr neuralgischen, wunden Punkt bei den Regierungsparteien getroffen —,
diese Vorschrift, dieses Verbot sei verfassungswidrig. Das ist erstaunlich; denn auch das derzeitige Wahlgesetz, das für die Wahl zum 2. Bundestag galt, enthält dieses Listenverbindungsverbot, und der Herr Bundesinnenminister als Verfassungsminister hat bisher niemals erklärt, daß das verfassungswidrig sei, und hat auch keinen entsprechenden Schritt unternommen, um diesen Paragraphen als ungesetzlich feststellen zu lassen.
Warum diese späte Erkenntnis in einem Augenblick, wo es einem wahrscheinlich parteipolitisch nicht in den Kram paßt?
Nun, meine Damen und Herren, ich hatte immer angenommen, daß Blockbildungen, daß Wahlvereinbarungen in Wahlkreisen eigentlich ein wahrer Greuel für die Persönlichkeitswahlanhänger sein müßten. Herr Stücklen hat erklärt, er sei darum für die Persönlichkeitswahl und für das Mehrheitswahlrecht in den einzelnen Wahlkreisen, weil nur so der Wähler die Chance habe, von vornherein genau zu wissen, wen er wähle, nicht irgendeine anonyme Parteiliste, sondern den A, den B oder den C. Aber, Herr Stücklen, wenn Sie Wahlvereinbarungen und nachträgliche Blockbildungen zulassen, dann weiß der Wähler ja doch erst recht nicht, wen er wählt.
Sehen Sie, dann hat er vor allem keine richtige Auswahl. Der Wähler muß doch eine Auswahl haben zwischen mehreren, die sich um die politische Vertretung eines Wahlkreises im Parlament bewerben. Jetzt vereinbaren aber, wie wir es auch bei den Landtagswahlen immer wieder erlebt haben, drei, vier bürgerliche Parteien, daß in dem Wahlkreis A die eine Partei den Kandidaten, im Wahlkreis B die andere Partei den Kandidaten stellt und die übrigen auf die Aufstellung eines eigenen Bewerbers verzichten. Das haben wir bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, das haben wir bei den Wahlen zum Bundestag erlebt; das haben wir in Hessen erlebt. Es war immer wieder das alte Spiel, daß man sich gegenseitig die
Bälle zuwarf und dem Wähler gar nicht die Auswahl ließ, ob er — z. B. bei der Landtagswahl — einen Abgeordneten wählen wollte, der seiner kulturpolitischen Auffassung war, vielleicht einen Freien Demokraten; er konnte ihn nicht wählen, weil sich mehrere Parteien auf einen in kulturpolitischen Fragen völlig anders eingestellten Kandidaten der CDU geeinigt hatten.
Also, gerade diese Wahlvereinbarungen sind doch etwas, was man als Anhänger des Persönlichkeitswahlrechts auf das entschiedenste ablehnen müßte.
Das gleiche gilt für die Blockbildungen. Ich habe Herrn Kollegen Scharnberg nicht umsonst durch einen Zwischenruf .die Frage gestellt, ob er sich daran erinnere, daß wir bei dem absoluten Mehrheitswahlrecht der kaiserlichen Reichstagszeit jeweils 12 bis 16 Parteien im Reichstag gehabt haben. Er hat mir erwidert, daß das absolute Mehrheitswahlrecht nicht die Vorteile wie das fache Mehrheitswahlrecht habe. Aber, meine Damen und Herren, wenn jetzt der Herr Kollege Elbrächter für das absolute Mehrheitswahlrecht eintritt, weil er Blockbildungen will, und wenn der Herr Bundesinnenminister seinerseits sagt, er lehne den sozialdemokratischen Entwurf vor allem deswegen ab, weil er Blockbildungen verbiete, dann widerspricht sich doch das alles in Ihrem eigenen Kreise.
Natürlich haben wir uns — lassen Sie mich das zusätzlich zu dem, was in der Diskussion zu sagen war, noch ausführen — bei der Abfassung unseres Wahlgesetzentwurfes sehr sorgfältig überlegt, ob wir bei den bisherigen Wahlrechtsprinzipien der Jahre 1949 und 1953 bleiben sollten. Das heißt, wir haben sehr sorgfältig geprüft, ob das bisherige Wahlrecht einigermaßen den Vorstellungen der Wähler draußen entsprochen hat; hat es vor allem diem Wähler die Sicherheit gegeben, daß mit seiner Wahlstimme nicht herummanipuliert wurde und werden konnte?
Einer der wesentlichsten Einwände, die wir gegen das Mehrheitswahlrecht haben — Herr Kollege Euler hat es schonangedeutet —, war und ist nach wie vor, daß es jahrzehntelang in Frankreich und in England dazu geführt hat, daß die Minderheit der Bevölkerung die Mehrheit der Abgeordneten stellte und damit die Regierung bildete. Ich will Ihnen, um das zu untermauern, einige Zahlen nennen. Einer der Gründe, warum Frankreich von dem jahrzehntelangen Mehrheitswahlrecht ,abgegangen ist und sich erst 1928 entschloß, zum Verhältniswahlrecht überzugehen, war, daß bei den Wahlen von 1914 bei 11,2 Millionen abgegebenen Stimmen 6,4 Millionen — das ist weitaus mehr als die Hälfte — völlig vorlorengingen und nur die restlichen 4,8 Millionen überhaupt zum Zuge kamen; das heißt: das Parlament und die Regierung beruhten auf einer Wählerbasis von nur 36%!
Man hat immer auf Großbritannien, das klassische Land des Mehrheitswahlrechts, hingewiesen, und man verschweigt, daß — von der Wahl im Mai 1955 abgesehen — die Regierungen in England 20 Jahre lang immer nur auf einer Minderheit beruht haben, ganz gleich, ob sie von der Labour Party oder den Konservativen gestellt wurden.
Ich will Ihnen auch hier einige Zahlen sagen. Ich habe mir aus der Statistik zwei Beispiele herausgegriffen. Ich bitte das Hohe Haus um Entschuldigung, wenn ich im Plenum bei der ersten Lesung mit Zahlen aufwarte; aber ich halte das gegenüber immer wiederaufgestellten und allgemeinen Thesen für notwendig. Ich möchte Ihnen ganz konkret und substantiiert erwidern, damit wir uns gegenseitig nicht immer Grundsätze vorhalten, die der Wirklichkeit nicht standhalten.
Bei einer der Wahlen — 1922 — hatte die Labour Party 20 % mehr Stimmen als die Konservativen; aber sie bekam 20 % weniger Sitze im Parlament.
Oder 1924: die Labour Party bekam 10 % mehr Stimmen als die Konservativen, und sie bekam nur die Hälfte der Sitze, die die Konservativen erhielten.
Die Konservativen brauchten 1924 für ein Mandat nur 26 000 Stimmen, die Labour Party aber 45 000 Stimmen, also fast das Doppelte! Ist es da ein Wunder, wenn auch die englische Presse weitgehend von einem Minderheitswahlrecht gesprochen hat?
Zu welchen Unsicherheiten das relative Mehrheitswahlrecht in England führt — hier unterstütze ich das, was Herr 'Kollege Euler gesagt hat —, ergibt sich allein schon aus einer Zahl: wenn 1951 nur 12 000 Wähler — ich weiß nicht, wieviel es insgesamt waren, wahrscheinlich etwa 7 Millionen Wähler — anders gewählt hätten, als sie gewählt haben, hätte man statt der konservativen Regierung, die damals nur wenige Sitze mehr hatte als die Opposition, eine Labour-Regierung bekommen, die 20 Sitze mehr gehabt hätte. Sehen Sie, ein solches Glücksspiel wollen wir nicht mitmachen!
Die viel wichtigere Schlußfolgerung aus diesen Tatsachen aber ist unseres Erachtens folgende. Auf Grund des reinen Mehrheitswahlrechts ist in England und in Amerika allmählich eine Wahlmüdigkeit und Wahlenthaltung der Bevölkerung entstanden, die geradezu erschreckend ist, weil nämlich der Wähler in den Wahlkreisen — dort sind die Wahlkreise im Gegensatz zu der Situation bei uns in der Bundesrepublik in sich und in ihrer sozialen und kulturellen Zusammensetzung viel stabiler und dauerhafter — sich zumeist schon vorher mit großer Wahrscheinlichkeit ausrechnen kann, welcher Kandidat oder der Kandidat welcher Partei gewinnt, so daß er sich dann sagt, daß es doch für ihn gar keinen Sinn habe, noch zur Wahlurne zu gehen. Das hat dazu geführt, daß bei den Gemeindewahlen in England und Amerika eine Wahlbeteiligung von nur 15 bis 20 % und sogar bei den wichtigen Senatswahlen in Amerika günstigstenfalls eine Wahlbeteiligung von nur 55 % zu verzeichnen ist.
Wir dagegen, meine Damen und Herren, haben unter dem Verhältniswahlrecht immer eine Wahlbeteiligung von 75 bis 85 % gehabt. Das sollte man nicht übersehen. Denn ein Wahlrecht, das zur Abstinenz des Wählers führt, das also den Wähler wegbringt von seinem Parlament und damit von seinem Staat, kann unter den deutschen Verhältnissen geradezu ein tödlicher Stoß für unsere Demokratie werden. Wir sollten vielmehr alle Mittel benutzen, den Wähler an den Staat und an das Parlament heranzubringen,
und erst dann an die eigene Partei denken.
Gerade aber das ist eins unserer stärksten Bedenken, daß die Wähler beim Mehrheitswahlrecht uninteressiert an den politischen Vorgängen werden, und so haben wir berechtigte Zweifel, ob zum mindesten für unser Land — ich maße mir nicht an, für Amerika und England ein Urteil abzugeben — das Mehrheitswahlrecht wirklich so ideal wäre.
Meine Damen und Herren, seien wir uns auch klar darüber: das politische Leben auf dem Kontinent ist viel bunter, und der sogenannte vorparlamentarische Raum, der leider nicht nur von politischen Elementen, sondern nicht zuletzt auch von konfessionellen Überlegungen bestimmt wird,
dieser vorparlamentarische Raum, der den Wähler und seine Stimmabgabe so erheblich beeinflußt, ist doch bei uns leider viel stärker als in Britannien und in den USA.
Man hat heute in der Debatte wiederum versucht, das Persänlichkeits- oder Personenwahlrecht dem Verhältniswahlrecht gegenüberzustellen. Nun, dem Kenner der Materie sollte ein solcher Fehler nicht mehr unterlaufen. Denn niemand würde doch behaupten wollen, daß diejenigen Kollegen im Bundestag, die über eine Liste gewählt sind — es soll ganze Fraktionen davon geben —, weniger geeignete Abgeordnete seien als diejenigen Kollegen, die aus den Einzelwahlkreisen hervorgegangen sind.
Man übersieht viel zu viel die Entwicklung des Verhältnisses von Parlament zur Bürokratie in den letzten Jahrzehnten. Es wird an anderer Stelle, vielleicht schon bei der Beratung des Antrages des Herrn Kollegen Bergmeyer zur Verwaltungsreform, der richtige Ort sein, sich über diese Fragen näher zu unterhalten. Hier sei nur folgendes bemerkt. Die ungeheure Zunahme des Aufgabenbereichs der Verwaltung, der Bürokratie schon nach dem ersten und noch mehr nach dem zweiten Weltkrieg hat doch zu einer ungeheuren Machterweiterung und zu einem Hineinwachsen der Bürokratie in das politische Leben geführt. Man kann das bedauern, und wir bedauern es auch; aber es wäre eine Illusion, an dieser Tatsache vorbeizugehen. Denn das Parlament selbst ist doch in zunehmendem Maße immer wieder bereit gewesen, durch Ermächtigungen, z. B. zu Rechtsverordnungen, der Bürokratie neue Zuständigkeiten zuzuschanzen. Ein Parlament wird in diese feinverästelte und überspitzt spezialisierte Verwaltung nur dann hineinleuchten und sie nur dann wirklich kontrollieren, effektiv kontrollieren können, wenn es selbst bereit ist, sich mehr als bisher zu spezialisieren. Wer mit offenen Augen durch das parlamentarische Leben aller Länder geht, wird feststellen — vielleicht ist es den meisten noch nicht bewußt geworden —, daß in der Tat auch die Parlamente viel mehr Spezialisten und „Fachkenner" besitzen als früher. Wir haben uns doch schon, ohne darin etwas „Parlamentsfremdes" zu sehen, hier im Hause daran gewöhnt, in den Ausschußberatungen und im Altestenrat immer wieder von den sogenannten „Sachbearbeitern" der Parteien zu sprechen, ein Ausdruck, der noch vor Jahrzehnten im
parlamentarischen Leben nicht denkbar gewesen wäre.
Sehen Sie, aus diesem Grunde und mit aus diesem Grunde müssen wir Chancen für Männer und Frauen schaffen, die uns, das Parlament, in die Lage versetzen, auf vielen Sondergebieten und Spezialgebieten die Regierung und ihre Bürokratie zu überwachen.
Zum Schluß noch kurz ein Weiteres, meine Damen und Herren. Von einigen Debatterednern ist wieder von der Übermacht der Parteibürokratie gesprochen worden. Ja, ich weiß nicht, für welche Parteien sie gesprochen und erklärt haben, daß die Parteibürokratie solche Macht habe. Bei der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands werden — im kleinsten Ortsverein und im Wahlkreis — die Abgeordneten einer Delegiertenversammlung durch geheime Stimmzettel und Stimmabgaben vorgeschlagen und dann auf der Delegiertenversammlung in geheimer Wahl festgelegt, und zwar sowohl für die Wahlkreise als auch für die Landesliste.
Ich glaube, das ist eine außerordentlich weitgehende geheime und sorgfältige Auslese der nach der Auffassung der Mitglieder der Partei fähigsten Männer und Frauen.
Im Gegensatz hierzu hat die Parteibürokratie nirgends soviel Macht bei der Auswahl der Kandidaten wie in England.
Eine Kommission der Bundestages war während der letzten Unterhauswahlen in England und hat dort feststellen können, daß in den einzelnen Wahlkreisen gar nicht der örtliche Kandidat derjenige war, der angepriesen wurde, sondern daß auch da der „Big Boss", daß Mr. Eden und Mr. Attlee diejenigen waren, die überall an den Wahlplakaten prangten und die in die Wahlkreise gingen. Auch da war der „Personenkult", von dem Sie glauben, er wäre beim Mehrheitswahlrecht nicht möglich, etwas durchaus Übliches.
Herr Kollege Scharnberg hat u. a. auch die Frage gestellt, warum wir für das Verhältniswahlrecht seien. Ich habe Ihnen einiges Negative zum Mehrheitswahlrecht gesagt. Außerdem sind wir der Meinung, daß die Bevölkerung auf eine gewisse Kontinuität des Wahlrechts Wert legt und daß sie nicht bei jeder Wahl vor neue technische Schwierigkeiten und Überlegungen beim Wahlakt selbst gestellt werden darf.
Aber es gibt noch einen weiteren sehr wichtigen Grund, und es fällt auf, daß er heute im Bundestag von keinem Diskussionsredner erwähnt worden ist. Meine Damen und Herren, als wir am Schluß des 1. Bundestages das jetzt gültige Wahlgesetz verabschiedeten, schlossen wir die Beratungen außer mit der Beteuerung, im 2. Bundestag schneller das neue Wahlgesetz zu verabschieden, in der Hoffnung, daß, wie immer das Wahlrecht für den 2. Bundestag aussehen würde, ihm doch nur eine kurze Lebensdauer beschieden sein möge, weil wir hofften, daß die Bundesrepublik und die sowjetisch besetzte Zone bald auf Grund eines gemeinsamen neuen Wahlgesetzes zusammenkommen würden. Diese Hoffnungen haben sich leider nicht erfüllt. Aber es wäre völlig falsch, deshalb den Mut sinken zu lassen.
Daher war das immer brennender werdende Problem der Wiedervereinigung für uns mit einer der Gründe dafür, an den Prinzipien des bisherigen Wahlrechts von 1949 und im großen und ganzen auch von 1953 mit seiner sehr stark zum Proporz neigenden Tendenz festzuhalten. Denn damit nähert sich unser Wahlgesetz zweifellos den Vorstellungen der Deutschen jenseits des Eisernen Vorhangs. Ich verweise auf die einstimmigen Beschlüsse des 1. Bundestages und die Erklärungen der damaligen Bundesregierung vom 27. September 1951 und vom 6. Februar 1952 über das Wahlgesetz für den Fall der Wiedervereinigung, ein Wahlgesetz, das vom reinen Proporz ausgeht.
Ich verstehe nicht, warum Sie das, was Sie für ein neues Gesamtdeutschland für richtig halten, hier ablehnen wollen.
So gesehen — das sei zum Schluß gesagt — ist unser jetzt wiederholter Vorschlag über den Einbau unserer Bundeshauptstadt Berlin in den Wahlgesetzentwurf zugleich auch ein Stück ganz konkrete Wiedervereinigung, über die wir immer nur Erklärungen hören und keine auch noch so bescheidene Tat sehen, selbst da nicht, wo es möglich ist. Wir sprechen so häufig von der Integration der Bundesrepublik in den Westen, aber es wäre besser, wenn wir einmal bei uns Deutschen dort damit anfingen, wo es uns noch erlaubt ist, d. h. bei uns im Lande selbst, nämlich mit der Integration Berlins wenigstens auf diesem bescheidenen Gebiet. Ich glaube, hier könnte jeder Abgeordnete des Bundestages beweisen, wie innerlich ernst für ihn die Einfügung Berlins in die Bundesrepublik ist.