Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben jetzt den zweiten Bundestag, der aus einem Wahlrecht hervorgegangen ist, das nicht Mehrheitswahlrecht, sondern im Kern Verhältniswahlrecht ist. Dennoch haben wir keine Parteienzersplitterung, und wir haben keine fortschreitende Radikalisierung.
Wir haben keine Unstabilität des Parlaments und der Regierung, wir haben keine verwischte Verantwortung,
und wir haben keine mangelnde Entschlußfähigkeit. Wenn es richtig wäre, was wir immer wieder von den Anhängern des Mehrheitswahlrechts hören, daß das Mehrheitswahlrecht der Bringer alles Guten ist und daß das Verhältniswahlrecht der Übeltäter für alle großen Mißstände in einem Staat, in einer Demokratie ist, dann, meine sehr geehrten
Damen und Herren, hätte sich von diesen verheerenden Auswirkungen des Verhältniswahlrechts in den Jahren seit 1945 einiges zeigen müssen. Denn es sind jetzt immerhin zehn Jahre, daß wir neue deutsche Demokratie praktizieren. Ich darf daran erinnern, daß wir innerhalb dieser zehn Jahre in einer ganzen Anzahl von Ländern nicht etwa vom Verhältniswahlrecht zum Mehrheitswahlrecht gekommen sind, sondern daß der Weg mit Zustimmung der CDU und der CSU in zahlreichen Ländern ein umgekehrter war: von einem Wahlrecht mit einem, wie wir immer wieder hören, stark integrierenden Einschlag, also einem Wahlrecht mit Mehrheitseinschlag zum Verhältniswahlrecht, und das mit Zustimmung der CDU/CSU!
— Ja, leider! Über das „leider" wollen wir uns nachher mal unterhalten. Bleiben wir zunächst einmal dabei, daß die Entwicklung so gelaufen ist und daß von den katastrophalen Folgen dieser Entwicklung des Wahlrechts bisher nichts eingetreten ist, und ich glaube, wohl sagen zu können: auch in den nächsten Jahren — alle Anzeichen gehen dahin — nichts eintreten wird.
Ihre Theorie stimmt ja nicht.
Sie können aus der heutigen Zeit keine Argumente für Ihre Lieblingstheorie bringen, daß das Verhältniswahlrecht zerstörende Wirkungen habe, und müssen deshalb auf die zwanziger Jahre zurückgreifen. Aber dabei passieren Ihnen dann einige, wie ich doch meine, recht grobe Fehler. Zunächst einmal lassen Sie völlig die Erwägung außer acht, meine sehr geehrten Damen und Herren von der CDU, soweit Sie Anhänger des Mehrheitswahlrechts sind, daß unter der Herrschaft des Mehrheitswahlrechts kein Parlament etwa die Sicherheit hat, von schwankenden Mehrheiten frei zu bleiben.
Es hat sich auch in England und in den Vereinigten Staaten unter der Geltung des relativen Mehrheitswahlrechts immer wieder ereignet, daß beide Parteien etwa gleich stark aus der Wahl hervorgingen.
— Na, immerhin etwas öfter, als es Ihnen vielleicht in Erinnerung ist. Sehen Sie sich daraufhin einmal die amerikanische Geschichte seit 1789 und die englische Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte an. Da werden Sie feststellen, daß es dort in den Parlamenten doch öfter Perioden einer fast völligen Ausgeglichenheit der beiden Parteien gegeben hat und daß dies auch in England mehrfach zu vorzeitigen Wahlen geführt hat.
Andererseits werden Sie mir zugeben, daß aus der Verhältniswahl in vielen Fällen Parlamente mit keineswegs schwankenden, sondern völlig sicheren Mehrheitsverhältnissen hervorgehen. Wie eben Herr Kollege Scharnberg auch richtig festgestellt hat, waren während der ersten vier Jahre der Weimarer Demokratie die Mehrheitsverhält-
nisse im Reichstag keineswegs schwankend, sondern völlig stabil.
Aber sie wurden schwankend innerhalb der Legislaturperioden. Das muß man allerdings sehen, und dann muß man fragen: woran lag das, daß ein Parlament, das bei seinem Zusammentritt eine völlig klare Regierungsbildung ermöglichte und für diese Regierungsbildung eine saubere Mehrheitsbildung lieferte, im Laufe seiner Wirkungszeit dahin kam, daß die Regierungsmehrheit verfiel und infolgedessen die Mehrheitsverhältnisse schwankend wurden?
Da darf ich Sie auf die grundlegenden verfassungsrechtlichen Mängel der Weimarer Demokratie aufmerksam machen, und diese Mängel hat man leider im Laufe der Jahre nicht abgestellt, obwohl Reformversuche, vernünftige Reformvorschläge in der damaligen Zeit aus allen demokratischen Parteien gemacht worden sind, auch aus der Sozialdemokratie heraus; denn auch in der Sozialdemokratie hatte man diese institutionellen Mängel sehr wohl erkannt.
Der gröbste Mangel war natürlich, daß die Verfassung ein Mißtrauensvotum ermöglichte, bei dem sich Parteien, die keinerlei Positives gemeinsam hatten, lediglich zu der negativen Zwecksetzung zusammenfinden konnten, durch ein Mißtrauensvotum die Regierung aus den Angeln zu heben. Ungeachtet dessen, daß man hinterher nicht zusammenwirken konnte, um eine neue Regierung zu bilden, konnte man zusammen stimmen, um die gegenwärtig amtierende Regierung zu stürzen. Davon hat man öfters Gebrauch gemacht, davon haben jeweils die verschiedensten Parteien Gebrauch gemacht. Wenn sie glaubten, es sei eine gesetzgeberische oder aber eine Exekutivmaßnahme der jeweiligen Regierung zu riskant, dann hielt man es für richtig, sich aus der Koalition zurückzuziehen und die Regierung zu stürzen. Wir haben mehrfach erlebt, daß Kommunisten und Deutschnationale nicht etwa in der Lage waren, die Regierung zu stürzen, daß sie aber in die Lage gebracht wurden, dies zu tun, dadurch, daß eine Koalitionspartei — auch mitunter die SPD — absprang
und dadurch der Minderheit der beiden radikalen Flügel zur Mehrheit verhalf. Wir haben diesen grundlegenden Mangel der Weimarer Verfassung im Parlamentarischen Rat abgestellt, und es waren ja maßgeblich auch Sozialdemokraten, die dafür Sorge getragen haben, daß das negative Mißtrauensvotum durch das konstruktive Mißtrauensvotum ersetzt wurde. Wir verdanken dieser tiefgreifenden institutionellen Änderung ganz außerordentlich viel für die Stabilität unserer neuen Demokratie, so daß Gott sei Dank diese neue Demokratie nicht mehr dauernd am Rande der Anarchie steht. Wir wollen in Zukunft alles tun, um zu verhindern, daß das eintritt. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie sperren sich gegen die richtige Erkenntnis, wenn Sie meinen, das Verhältniswahlrecht sei damals daran schuld gewesen, und wenn Sie eben nicht sehen, daß die nachteiligen Wirkungen des Verhältniswahlrechts nur eintreten konnten, weil man eine Verfassungsregelung geschaffen hatte, die die jeweiligen Regierungsparteien geradezu zur Flucht aus der Verantwortung einlud.
Das war nicht der einzige schwerwiegende institutionelle Mangel. Es kam der zweite hinzu. So wie man durch das Mißtrauensvotum den Parteien ermöglichte, jederzeit aus der Regierung davonzulaufen, so ermöglichte man ihnen auch, aus dem Parlament davonzulaufen. Die Parlamentsauflösung war in der Weimarer Zeit außerordentlich leicht. Wir haben aus den Erfahrungen der Weimarer Zeit den zweiten verfassungsrechtlichen Schluß gezogen; ebensowenig wie wir das Mißtrauensvotum nach Art der Weimarer Verfassung wieder gebracht haben, ebensowenig haben wir die Vorschriften der Weimarer Verfassung über die Möglichkeiten der leichten Parlamentsauflösung übernommen, wie sie in jener Verfassung enthalten waren. Gott sei Dank zeigt unser Bonner Grundgesetz so gut wie keine Möglichkeit der vorzeitigen Parlamentsauflösung.
Zum dritten. Sie wissen, wie radikalisierend und zerrüttend in der damaligen Zeit sich jene Veranstaltungen auf die Arbeit des Parlaments ausgewirkt haben, die als Volksbegehren, Volksentscheid usw. bezeichnet waren! Volksbegehren und Volksentscheid wurden von der Weimarer Verfassung ebenfalls begünstigt, und aus den schlechten Erfahrungen, die man mit diesen Institutionen gemacht hat, haben sämtliche staatstragenden Kräfte der neuen Demokratie in den Jahren 1948 und 1949 den Schluß gezogen, daß Volksbegehren und Volksentscheid aus dem Bonner Grundgesetz zu verbannen waren. Wir kennen Gott sei Dank kein Volksbegehren mehr, wir kennen keinen Volksentscheid mehr.
Viertens. Zu den leichten Möglichkeiten der Regierungsabsetzung, der Regierungs- und das heißt vorher Koalitionssprengung, ferner der Parlamentsauflösung kam noch eine dritte Möglichkeit für die Parteien und für die Parlamentarier, aus ihrer Verantwortung zu entfliehen. Und das war der Notstandsartikel 48.
Er führte in der Handhabung, die man damals einreißen ließ, zur Selbstausschaltung der Demokratie,
soweit die Demokratie im Parlament verkörpert ist.
Nun nehmen Sie das zusammen, all das, was wir aus dem Bonner Grundgesetz herausgehalten haben, was aber in der Weimarer Verfassung enthalten war: das leichte Mißtrauensvotum, die Parlamentsauflösung, Volksbegehren und Volksentscheid und den Notstandsartikel 48, — ja, da haben Sie die Ursachen, die dem Verhältniswahlrecht, nicht, weil dieses Wahlrecht als solches negative Auswirkungen haben muß, sondern erst durch Hinzutreten dieser Umstände eine negative Wirkung gaben. Heute ist das alles anders, und infolgedessen ist es kein Wunder, daß nunmehr Ihre schöne Milchmädchenrechnung: die Demokratie wird durch die Verhältniswahl kaputtgemacht, nicht mehr stimmt.
Weil diese Ursachen einer verhängnisvollen Entwicklung in der neuen Demokratie abgeschafft sind, können Sie die letzten Jahre seit 1945 nicht mehr als Belegstück für Ihre Theorie heranziehen. Deshalb müssen Sie zurückgehen auf die Jahre vor 1933.
Wir haben aber nicht nur verfassungsrechtliche Mängel beseitigt, die leider der Weimarer Demokratie durch all die Jahre hindurch anhafteten,
ohne daß sie beseitigt wurden, sondern wir haben noch etwas anderes beseitigt. Wir haben beseitigt, daß das Verhältnisprinzip so rein angewandt wird, daß auch dem Wahlrecht dann ein anarchisierender Charakter zuteil werden kann. Wenn man das Verhältnisprinzip bis zur letzten Konsequenz durchführt, d. h. wenn man ihm keine Sperrklausel gibt und wenn man ihm eine Ausgestaltung gibt, die die absolute Anonymität, die absolute Unpersönlichkeit bedeutet, dann werden negative Auswirkungen unvermeidlich. Das ist aber keineswegs notwendigerweise so. Man kann, wie die letzten Jahre bewiesen haben und wie wir das 1949 und 1953 zuwege gebracht haben, erstens ein Verhältniswahlrecht so ausgestalten, daß die Zersplitterung bis hinein zu kleinsten Splittergruppen nicht durch das Wahlrecht gefördert oder ermöglicht wird. Man kann zum zweiten dem Verhältniswahlrecht einen Persönlichkeitscharakter geben, so daß man jedenfalls nicht mehr von Anonymität in dem Sinne sprechen kann, wie das bei dem Verhältniswahlrecht der zwanziger Jahre der Fall war. Wir haben auch da Korrekturen vollzogen. Nachdem nun diese Korrekturen vollzogen worden sind — einmal im Grundgesetz gegenüber dem Verfassungszustand der zwanziger Jahre und zweitens in der Ausgestaltung des Wahlrechts gegenüber der Art des Verhältniswahlsystems, wie wir es in den zwanziger Jahren hatten —, stimmt Ihre Theorie einfach nicht mehr.
Wir können uns heute zur Rechtfertigung unseres Wahlrechtsvorschlags darauf berufen: ein Wahlrecht dieser Art hat funktioniert, es hat staatspolitisch einwandfreie Resultate geliefert, wir haben heute einen Zustand, der frei ist von den Bedenken, Krisen und Gefahren staatspolitischer Entwicklung, wie sie in den zwanziger Jahren vorhanden waren. Deswegen können wir sagen: halten wir an dieser Art bewährten Wahlrechts fest, dies um so mehr, als das Verhältniswahlrecht, Herr Minister Schröder, wenn man seine Gefahren durch Sperrklausel und Persönlichkeitscharakter zu nehmen weiß, immerhin den außerordentlich großen Vorteil der Gerechtigkeit hat. Infolgedessen wird eine Mehrheit, die über Verhältniswahlrecht im Parlament in Erscheinung tritt, auch wirklich von einer Mehrheit des Volkes getragen. Ihr berühmtes Mehrheitswahlrecht ist doch in aller Regel ein Minderheitswahlrecht,
d. h. die Regierung stützt sich in vielen Fällen gar nicht auf die Mehrheit des Volkes, sondern auf eine Minderheit, die durch die Auswirkungen des Wahlrechts dann im Parlament künstlich zu einer Mehrheit gemacht wird.
Nun lassen Sie mich :das entscheidende Wort sagen: Wenn die Entwicklung der letzten Jahre gezeigt hätte, daß man, um staatspolitische Stabilität, um klare Verantwortungsverhältnisse zu erreichen, um Radikalisierung, um Partenzersplitterung zu vermeiden, das Mehrheitswahlrecht bräuchte, welches Stabilität im Parlament um den hohen Preis herstellen soll, daß eine Minderheit des Volkes eventuell zu Trägern der Mehrheit im Parlament wird, dann müßte man es in Erwägung ziehen. Aber es hat sich gezeigt, daß das gar nicht nötig ist, nachdem wir die verfassungrechtlichen Mängel der Weimarer Demokratie behoben und andererseits auch das Wahlrecht auf Verhältniswahlbasis so ausgestaltet haben, daß es frei ist
von den Mängeln, die ihm in den zwanziger Jahren allerdings anhafteten. Nachdem das geschehen ist, müssen wir sagen, hat das Wahlrecht, wie wir es 1949 gemacht haben und das dann nach der Meinung meiner politischen Freunde 1953 um einiges verbessert worden ist, den großen Vorzug für sich, daß es wünschenswerte staatspolitische Resultate mit der Gerechtigkeit verbindet. Erinnern wir uns doch auch beim Wahlsystem daran, daß Gerechtigkeit zur Fundierung einer Demokratie auch in der Ausprägung des Wahlrechts nicht ein schlechtes, sondern ein gutes Prinzip ist. Wir wollen dieses Prinzip der Gerechtigkeit auch in dieser Frage nicht unnötigerweise preisgegeben wissen.