Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als am 25. Juni 1953 das Wahlgesetz zu diesem Bundestag — ich will auf seine leidvolle Geschichte nicht weiter eingehen — in der dritten Lesung stand, erklärte mein Freund Dr. Walter Menzel namens der sozialdemokratischen Fraktion:
Wir hoffen, daß der neue Bundestag sich alsbald zu Beginn — und nicht erst in den letzten sechs Monaten — seiner Wahlperiode mit dem künftigen Wahlgesetz befaßt. Wir sind hierzu bereit. Wir werden sogar hierauf drängen.
Damals beherrschte alle Fraktionen die Erkenntnis, daß sich die Misere dieses Gesetzes nicht wiederholen und das künftige Wahlgesetz nicht wieder erst am Schluß der Legislaturperiode verabschiedet werden dürfe, daß die Diskussionen um dieses Gesetz nicht wieder dem Zeitdruck und all den vielfältigen psychologischen und politischen Belastungen und Schwierigkeiten ausgesetzt werden dürften, die es in die bedenkliche Nähe von Wahlgesetzen bringen könnten, die das Bundesverfassungsgericht mit dem Begriff „Maßnahmengesetz" bezeichnet hat.
Der damalige Sprecher der CDU, Herr Abgeordneter Dr. S c h r öder, erklärte im Anschluß an die Ausführungen Dr. Menzels: Die Fraktion der CDU/CSU wird zu Beginn der Legislaturperiode des neuen Bundestages eine neue Vorlage einbringen.
Herr Dr. Schröder ist dann Bundesinnenminister geworden. Er hatte damit eine zusätzliche Möglichkeit, seine Erklärung zu realisieren.
Diese Realisierung durfte um so mehr erwartet werden, als noch nach der Bundestagswahl in der Debatte über die erste Erklärung der neuen Regierung am 28. Oktober 1953 der damalige Fraktionssprecher der CDU/CSU, der jetzige Bundesaußenminister Dr. von Brentano, unter der „Sehrrichtig!"-Zustimmung seiner Fraktion erklärt hatte:
Der letzte Bundestag hat ein Wahlgesetz beschlossen, das nur für diese Wahl Gültigkeit hatte. Wir müssen daher diese gesetzgeberische Aufgabe in Angriff nehmen, und wir sollten es so rasch wie möglich tun.
Nun, seit jenen Erklärungen — ich denke dabei insbesondere an die Erklärung des jetzigen Herrn Bundesinnenministers — sind rund zwei Jahre vergangen. Die Uhr der Legislaturperiode steht auf halb; aber über die Absichten der Regierung herrscht Ruh; von Initiative spürest du — kaum einen Hauch. Liegt der Schlüssel hierzu in jenen vieldeutigen Worten des Herrn Innenminister s Ende April, Anfang Mai der Presse gegenüber: ob die Bundesregierung einen eigenen Wahlgesetzentwurf einbringe, sei eine reine Frage der Regierungs- und Koalitionspolitik!?
Meine Damen und Herren, hier schimmert etwas durch, was, glaube ich, alle Mitglieder in diesem Hause, die das Wahlgesetz nicht als ein Instrument von Parteizwecken ansehen, zu ernstem Nachdenken veranlassen sollte. Die in diesen Worten bekundete Auffassung und Bewertung des Wahlgesetzes steht jedenfalls in krassem Gegensatz zu der Begründung des Sprechers der CDU/CSU, Herrn Dr. von Brentano, für die Forderung, daß die Beratungen des neuen Wahlgesetzes nicht wieder in die zeitliche Gefahrennähe der Neuwahl geraten dürften.
Er sagte damals:
Die Erfahrungen im letzten Bundestag haben uns allen doch gezeigt, daß die Voraussetzungen für eine echte und sachliche Auseinandersetzung nicht oder nur in beschränktem Maße gegeben sind, wenn die Ausrechnung von Erfolgschancen und wahlarithmetische Erwägungen die sachliche Entscheidung behindern.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie haben damals auch bei diesen Ausführungen Ihres Sprechers mit „Sehr richtig" zugestimmt.
— Gilt heute noch! Wenn also dieses heute noch gilt, dann müssen wir uns doch fragen, warum Sie und die Regierung, die Sie tragen, keine Folgerungen hieraus gezogen haben.
Warum ist von Ihnen und Ihrer Regierung in dieser Frage dann ein Verhalten gezeigt worden, das doch nur als Verschleppung gewertet werden kann?
Reine Frage der Koalitionspolitik? — Sie wehren sich mit Recht, daß Ihnen etwas unterstellt wird. Aber ist denn bei dem Begriff „Koalitionspolitik" überhaupt etwas zu unterstellen? Die Wahlrechtsdiskussionen sind in den vergangenen Jahren doch bereits so gründlich geführt und so vertieft worden, daß die grundsätzlichen politischen Entscheidungen in verhältnismäßig kurzer Frist getroffen werden könnten. Die Erörterungen im 1. Bundestag haben die verschiedenen Gesichts-und Standpunkte deutlich genug erkennen lassen. Es war also für die Regierung nicht schwer, wenn sie ernsten Willens war, eine Klärung darüber herbeizuführen, ob im Kabinett die Voraussetzungen für eine Regierungsvorlage hierüber bestanden, und andernfalls dem Parlament durch eine offene und ehrliche Mitteilung hierüber die Initiative für ein eigenes rechtzeitiges Vorgehen frei zu machen. Dies ist bis heute nicht geschehen.
Reine Frage der Koalitionspolitik? Nun, soweit es sich dabei um das „innere Gefüge" der Koalition handelt, um Koalitionsversprechungen, die nicht beachtet worden sind, mag das eine Angelegenheit der einzelnen Partner sein. Aber soweit das Wahlgesetz und der Zeitpunkt einer Vorlage hierüber zum Mittel der Koalitionspolitik gemacht werden, geht dies das ganze Parlament an; denn das Parlament hat die Aufgabe, darüber zu wachen, daß die Verfassung erfüllt wird und daß die Gesetze im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zustande kommen. Die verfassungsmäßige Ordnung wird aber verletzt, wenn das Gesetz, das die Grundfunktion der Demokratie ausdrückt, nämlich das Wahlgesetz, als Koalitionskandare benutzt und damit zugleich in den Augen der Staatsbürger seiner Integrität beraubt wird. Denn es ist ja nicht nur eine miserable Taktik und einer großen demokratischen Fraktion unwürdig, allen feierlichen Er-
klärungen zum Trotz ein solches Gesetz zum Objekt und politischen Druckmittel auf der internen Ebene zu machen. Im außerparlamentarischen Bereich würde sich vielleicht ein Staatsanwalt versucht sehen können, einmal die Tatbestandsmerkmale der Nötigung in seine Erinnerung zu rufen.
Wie außerdem die Passivseite eine solche Lage mit Ihrer Würde und jener Deklaration zu Beginn dieses Bundestages vereinbart, in der von Ihrer politischen Idee als der Idee des Jahrhunderts gesprochen wurde, will ich dahingestellt sein lassen. Das Entscheidende ist aber, daß sich der Staatsbürger, für den das Wahlgesetz das elementare Verbindungsstück zur parlamentarischen Demokratie, die Grundlage für seine eigene Mitwirkung bildet, degradiert fühlen muß, wenn er sieht, daß dieses als politisches Druck- und Machtmittel mißbraucht wird.
— Fragen Sie die Spatzen, die das von den Dächern pfeifen, meine Herren, wenn Sie wissen wollen, wie die Dinge liegen!
Alle Appellationen an Staatsgefühl und Staatsbewußtsein sind leer und nutzlos, wenn der Staatsbürger und Wähler nicht das Vertrauen in die Sauberkeit beim Zustandekommen und bei der Handhabung gerade jenes Gesetzes hat, durch das er zur Mitentscheidung im Staat aufgerufen wird und das seine Mitentscheidung verbürgen soll. Man mag über Prinzipien des Wahlrechts streiten. Wer aber seine Hand dazu gibt, daß die Integrität des Wahlgesetzes in den Augen der Bürger angetastet wird, versündigt sich an dem Gedanken der Demokratie.
Meine Damen und Herren! Aus der ernsten Sorge um diese Entwicklung hat sich meine Fraktion veranlaßt gesehen, selber die Initiative zu ergreifen, und dem Bundestag unter dem 16. März dieses Jahres mit der Drucksache 1272 den Entwurf eines Wahlgesetzes für den nächsten Bundestag vorgelegt. Ich habe nicht die Absicht, mich in diesem Augenblick mit den verschiedenen Wahlrechtsprinzipien, ihrem Wert oder Unwert, ihrer Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit auseinanderzusetzen; das mag den späteren Beratungen vorbehalten bleiben. Unser Standpunkt ergibt sich aus unserer Vorlage. Aber auf einige uns besonders wesentliche Punkte darf ich hinweisen.
Nach Einbringung unseres Entwurfs haben wir vom Herrn Bundesinnenminister dankenswerterweise den sehr verdienstvollen, ausgezeichnet übersichtlichen Bericht der von ihm seinerzeit einberufenen Wahlrechtskommission erhalten. In dem Geleitwort, das der Herr Innenminister hierzu geschrieben hat, lautet der erste Satz: „Der Bestand, die Festigung und das Ansehen der freiheitlichdemokratischen Grundordnung hängen im hohen Maße von einem guten Wahlgesetz ab." Wir freuen uns über diesen Satz, und ich möchte hier dem Herrn Innenminister etwas Gutes unterstellen, nämlich daß er den Begriff „gutes Wahlgesetz" nicht nur im Sinne eines technisch gut funktionierenden Wahlgesetzes gebraucht hat, sondern auch gut als Gegensatz von böse und schlecht. Schlecht ist in der Demokratie undemokratisches Verhalten und schlecht auch ein Gesetz, das in undemokratischer Weise bezwecken würde, der demokratischen Entscheidung der Wähler auszuweichen, ihr zuvorzukommen oder sie abzubiegen. Furcht vor dem Wähler ist ein schlechter Ratgeber bei der Schaffung eines Wahlgesetzes.
Am 29. April führte der Kommentator des Süddeutschen Rundfunks Stuttgart zu diesem Bericht der Wahlrechtskommission sehr zutreffend aus:
Es kommt nicht nur darauf an, daß, sondern auch, wie gewählt wird.
Die Güte der Demokratie hängt von der Art der Wahl ab, ebenso ihre innere Sicherheit und Legitimität. Durch die Art der Wahl wird entschieden, wie sich bei uns Macht bilden soll.
Unter dieser Perspektive erscheint uns das, was in dem Bericht der Wahlrechtskommission unter Ziffer 3 der Schlußfolgerungen ausgeführt ist, in besonderem Maße der Aufmerksamkeit des ganzen Hauses wert zu sein. Es heißt hier — ich darf mit der Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren — wie folgt:
Die Würde und das Ansehen einer freiheitlichen Demokratie erfordern ein möglichst dauerhaftes Wahlgesetz. Ein Wahlgesetz muß parteipolitischen Augenblickskonstellationen entzogen sein.
Wenn es in der deutschen öffentlichen Meinung eine ausgeprägte Ansicht zu den Fragen des Wahlrechts gibt, so ist es das allgemeine Verlangen nach einer solchen beständigen Regelung, die allen politischen Kräften eine faire Chance gibt und Schutz gegen eine einseitige Begünstigung der jeweiligen Mehrheitsparteien bietet.
Meine Damen und Herren, genau dieselben Überlegungen haben meine Fraktion bei ihrem Entwurf geleitet. Auch wir waren und sind der Überzeugung, daß mit dem Wahlgesetz nicht experimentiert werden darf und daß es für die Festigung unserer jungen Demokratie nicht förderlich wäre, wenn man nach so kurzer Frist die Wähler etwa vor ein völlig geändertes Wahlrechtssystem stellte.
Meine Fraktion hat im übrigen auch schon früher den Standpunkt eingenommen, daß die zahlenmäßige Größe des Bundestages eine gewisse Grenze nicht übersteigen sollte. Diese Frage ist in den letzten Wochen und Monaten wieder stärker diskutiert worden. Wir teilen die Auffassung, daß im Interesse der Arbeitsstraffung, der organisatorischen Ökonomie, des Fraktionsbetriebes usw. eine Reduzierung der heutigen Abgeordnetenzahl angebracht ist, und haben daher die Mindestzahl von 420 Abgeordneten vorgeschlagen.
Für uns ist sodann selbstverständlich, daß in dem neuen Gesetz die Frage der Berliner Abgeordneten endlich die Regelung erhält, die meine Freunde schon im vorigen Bundestag gefordert haben. Die Koalition hat hier die Möglichkeit, zu beweisen, was es mit ihren Vorstellungen von Souveränität auf sich hat.
Früher vielleicht noch diskussionsfähige Besorgnisse hinsichtlich des besonderen Status von Berlin haben bei der heutigen allgemeinen Lage keine reale Grundlage mehr außer etwa in dem Mangel an Mut und dem Mangel an gutem Willen bei uns selbst.
Aber bedenken Sie hierbei auch, was gerade die Behandlung dieser Frage für eine beispielhafte Bedeutung für die 18 Millionen Menschen in der sowjetisch besetzten Zone hat! Könnte es wirklich jemand auf sich nehmen, diesen Menschen den Beweis der Ernsthaftigkeit der vielen im Bundestag abgegebenen Deklarationen heute noch in einer Frage schuldig zu bleiben, deren Lösung ausschließlich von der Entschlossenheit und dem Willen desselben Bundestages abhängt?
Ebenso selbstverständlich ist für uns, daß die nationalen Minderheiten von der Sperrklausel, die wir beibehalten wollen, ausgenommen werden und daß damit der Haltung gefolgt wird, die auch die einsichtsvolle Mehrheit ides 1. Bundestages hierzu eingenommen hat. Die wenig ruhmvollen Erfahrungen, die die schleswig-holsteinische Landesregierung mit ihrem abweichenden Experiment gemacht hat, dürften inzwischen auch die früher Uneinsichtigen in dieser Frage belehrt haben.
Ein besonders gravierender Punkt ist für uns dann noch das Verbot der Verbindung von Wahlvorschlägen. Meine Damen und Herren, hier hilft kein Deuteln und kein Drehen, Betrug bleibt Betrug. Wer den Anspruch erhebt, eine besondere politische Idee als selbständige Partei vor dem Wähler und hinterher im Parlament zu vertreten, soll auch die Entscheidung der Wähler offen und ehrlich auf sich nehmen.
Wer sich nicht zutraut, den Weg ins Parlament durch den Vordereingang zu finden, soll nicht versuchen, sich durch die Hinterpforte krummer Manipulationen hineinzuschleichen.
Wir hoffen, daß das demokratische Bewußtsein aller Fraktionen diese Entscheidung inzwischen als einen Prüfstein für die Fairneß erkannt hat, die nicht nur die politischen Konkurrenten, sondern vor allem auch die Wähler von uns erwarten dürfen.
Meine Damen und Herren, der von uns vorgelegte Entwurf enthält keine Befristung des Gesetzes. Angesichts der von mir teilweise bereits zitierten Schlußfolgerungen in dem Bericht der Wahlrechtskommission brauche ich hierzu keine weitere Begründung zu geben. Aber eines möchte ich in diesem Zusammenhang noch anregen. Der Bundestag sollte die Aufnahme einer Bestimmung überlegen dahin, daß künftig Änderungen des Wahlgesetzes immer erst für die übernächste Wahlperiode wirksam werden. Dann würde der jeweils beratende Bundestag nämlich niemals in die Gefahr und in den Verdacht geraten, eigennützig und für eigene Zwecke zu beschließen.
Dann wäre es eine Freude, sachlich, nur über die Sache zu beraten. Dann würden die Parlamentarier aufatmen, und wahrscheinlich würden die Staatsbürger und Wähler draußen sagen: „Sehet, welch ein Parlament!"
Ich beantrage namens meiner Fraktion, unsere Vorlage dem Ausschuß für Angelegenheiten der inneren Verwaltung zu überweisen.