Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hieße der politischen Notwendigkeit des Tages nicht gerecht werden, wollte man die Aussprache über den Etat des Ministeriums des Innern vorübergehen lassen, ohne einmal vor aller Öffentlichkeit die Sorgen darzulegen, die bei uns aufkommen, wenn wir die innerpolitische Entwicklung der letzten Jahre beobachten. Es wäre Aufgabe des Herrn Bundesinnenministers gewesen — wir bedauern, daß das nicht geschehen ist—, anläßlich der Haushaltsberatungen in der ersten oder in der zweiten Lesung einmal von sich aus zu sagen, wie die Bundesregierung die Ereignisse beurteilt, auf die ich im einzelnen gleich kommen werde, und wie sie die innenpolitische Lage beurteilt. Denn es wird endlich Zeit, meine Damen und Herren, daß wir nicht nur immer von der Außenpolitik sprechen und glauben, von den Sorgen ablenken zu können, die uns bedrücken, wenn wir die innenpolitische Entwicklung sehen.
— Herr Kollege Stücklen, ich bin der Meinung, daß es in erster Linie Aufgabe des Verfassungs- und Innenministers ist, über die innenpolitische Lage zu berichten.
Wir wissen natürlich, daß es auch im Bereich der Innenpolitik in erster Linie der Herr Bundeskanzler ist, der die Richtlinien der Politik zu bestimmen hat. Aber trotzdem und gerade deshalb wünschten wir, daß der Herr Bundesinnenminister endlich einmal selbst mehr Initiative entwickelte und sich nicht so leicht in das Schlepptau des Kanzlers nehmen ließe. Denn, Herr Bundesinnenminister, wenn einmal in der Innenpolitik etwas schiefgehen sollte, würde Ihnen niemand die Entschuldigung abnehmen, der Kanzler sei stärker gewesen als Sie.
Natürlich kann die Innenpolitik oder, deutlicher gesagt, der Geschäftsbereich des Innenministers nicht isoliert gesehen werden von der allgemeinen Sozial- und Wirtschaftspolitik, ja sogar von der Außenpolitik. Das wurde für die deutsche Öffentlichkeit sehr sichtbar, als der französische Botschafter im Herbst letzten Jahres wegen der Grenzschutzübungen in Süddeutschland formelle Vorstellungen erhob, und es wurde noch sichtbarer bei der Aussprache in diesem Hause anläßlich der Behandlung der Frage der dänischen Minderheiten in Schleswig-Holstein, als der Herr Bundeskanzler den Innenminister zur Beantwortung der Fragen vorschickte.
Der Herr Innenminister entledigte sich dann dieser Aufgabe in einer Art und Weise, von der eine sehr angesehene und dem Kanzler sonst sehr positiv gesinnte Schweizer Zeitung sagte, die Rede des Herrn Innenministers zur Schleswigfrage sei doch ein einziger Affront Dänemarks gewesen.
Wie stark auch sonst die Außenpolitik mißbraucht wird, um in die Innenpolitik einzugreifen, das zeigte sich immer wieder nicht nur bei den Landtagswahlen der letzten Jahre, sondern auch bei den Versuchen des Herrn Bundeskanzlers, Einfluß auf die Bildung der Landesregierungen zu nehmen, damit er im Bundesrat eine Mehrheit für seine Außenpolitik bekomme. Einem überzeugten Föderalisten hätte es eigentlich ein rechtes Greuel sein müssen, zu sehen, wie der Kanzler versuchte, die Länder zum Vorspann seiner Politik zu degradieren: Aber auch hier sah man, wie überall sonst in der deutschen Innenpolitik, daß Grundsätze nur so lange heilig gehalten werden und unantastbar sind, als es einem in den eigenen parteipolitischen Kram paßt.
Diese betrübliche Entwicklung, in die Länderhoheit einzugreifen, geht so weit, daß sich die Bundesregierung nun auch noch in die Kulturpolitik der Länder einmischt. Ich meine die Klage der Bundesregierung gegen das Land Niedersachsen, die sie angestrengt hat mit der Behauptung, das niedersächsische Schulgesetz verstoße gegen das Konkordat von 1933. Wir wollen uns hier, von der politischen Tribüne aus, nicht in das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einmischen. Aber es ist doch geradezu grotesk, daß der jetzige Ministerpräsident von Niedersachsen, Herr Hellwege, als Beklagter diese Klage einige Wochen vorher als Kläger in seiner Eigenschaft als Mitglied der Bundesregierung in Bonn mit beschlossen hat. Kläger und Beklagter werden in einer Person vor dem Gericht in Karlsruhe auftreten. Das ist eine Justizfarce, die sogar Daumiersche Phantasien übertrifft.
Aber, Herr Bundesinnenminister, der Sie verpflichtet sind, für die Wahrung der Verfassung der deutschen Bundesrepublik zu sorgen: Warum klagt die Bundesregierung, wenn Ihnen schon die Klage gegen Niedersachsen unvermeidbar schien, nicht auch wegen des Schulgesetzes in Rheinland-Pfalz? Denn jenes Schulgesetz verbietet, daß Juden oder Staatsbürger, die keiner der beiden Kirchen angehören, Lehrer werden.
Das ist ein Rückschritt, den Preußen sogar 1907 schon überwunden hatte. Im Lande RheinlandPfalz wurde die Schulpolitik um mehr als 50 Jahre zurückgeschraubt.
Anscheinend sind wir in Bonn schon wieder so weit, daß ein von Hitler geschlossener Vertrag mehr beachtet wird als das Grundgesetz, das sich das deutsche Volk 1949 selbst gegeben hat.
Das ist übrigens nicht das einzige Gebiet, auf dem die Verfassungswirklichkeit in zunehmendem Maße mit dem Grundgesetz in Widerspruch gerät. Wenn z. B., Herr Bundesinnenminister, die finanzielle Aushöhlung der Länder und damit zugleich der Gemeinden — denn die Letzten beißen ja immer die Hunde, auch beim Finanzausgleich — weitergeht wie bisher, dann wird der Begriff der Selbstverwaltung bald nur noch eine leere Vokabel und eine arge Selbsttäuschung sein. Als oberster Schirmherr der Selbstverwaltung sollten Sie mehr als bisher auf die Sorgen der Gemeinden achten. Wahrscheinlich ist Ihnen gar nicht klargeworden, welche Gefahren hier liegen. Ich darf Ihnen nur zwei Zahlen nennen. 1913 waren die Gemeinden noch mit 39 % an dem Gesamtaufkommen der Steuern beteiligt, 1950 gerade nur noch mit der Hälfte, d. h. mit 19 %. Wenn diese Aushöhlung der gemeindlichen Finanzkraft so fortschreitet, werden wir eines Tages die Fundamente der Demokratie unterhöhlt haben. Daher bedauern wir es auch, daß unser Antrag, das Grundgesetz dahin zu ändern, daß endlich auch die Gemeinden einen unmittelbaren Anspruch auf die Steuern erhalten, bisher verschleppt worden ist.
Meine Damen und Herren! Seit Monaten wäre eine Erklärung über einige recht unerfreuliche Vorgänge in dem riesigen Beamtenkörper der Bundesrepublik notwendig gewesen. Wenn wir recht unterrichtet sind, schweben bei der Staatsanwaltschaft in Bonn zur Zeit nicht weniger als drei bis vier Dutzend Strafverfahren gegen leitende Beamte der Ministerialbürokratie
wegen Bestechung, Unterschlagung und auch sonstiger nicht gerade erbaulicher Delikte. Sicherlich, meine Damen und Herren, ist kein Behördenchef davor gesichert, daß auch mal ein räudiges Schaf in seiner Beamtenschaft steckt. Das passiert in der Verwaltung ebenso wie in der freien Wirtschaft. Aber das Entscheidende ist doch, wie ein Chef reagiert, wenn er ein solches „räudiges Schaf" entdeckt. Um der übergroßen Zahl der integeren Beamtenschaft willen hätte man viel schneller einen Trennungsstrich ziehen müssen. Das ist leider nur in einigen Fällen geschehen. In vielen Fällen hat man versucht, der Bonner Staatsanwaltschaft Hürde auf Hürde aufzubauen. Man hat versucht, die Unterschleifen zu vertuschen, Aktenvorlagen zu verzögern, Urkunden nicht herauszugeben und andere Schwierigkeiten zu bereiten. Wer Näheres wissen will, frage die Leitung der hiesigen Staatsanwaltschaft, wie ihr überall dort das Leben schwer gemacht wurde, wo es gegen Angehörige der Bundesregierung einzuschreiten gilt. Das geht sogar so weit, daß man dem Staatsanwalt einen Maulkorb umhängte und ihm untersagte, über Einzelfälle zu berichten.
Es wäre weit besser, man kümmerte sich in der Beamtenpolitik mehr als bisher um eine charakterlich zuverlässige Auslese, anstatt immer erst nach dem richtigen Gebetbuch zu fragen.
Meine Damen und Herren! Es gibt noch ein weiteres aktuelles Thema aus der Verwaltung des Herrn Bundesinnenministers. In Verfolg der Pariser Verträge stehen wir vor der Aufstellung einer neuen deutschen Armee. Daher wäre längst eine Feststellung des Herrn Bundesinnenministers notwendig gewesen, die die Frage klärt, was aus dem Bundesgrenzschutz werden soll. Die Grenzbevölkerung ist beunruhigt. Die Beamten sind über ihr künftiges Schicksal besorgt. Die Gewerkschaften und auch der nicht dem DGB angehörende Grenzjägerverband haben den Herrn Bundesinnenminister wiederholt um eine klare Stellungnahme gebeten, ob der Bundesgrenzschutz etwa als Kader der künftigen deutschen Divisionen anzusehen sei. Eine Antwort ist nicht erfolgt.
Eine Klärung dieser Frage wäre innenpolitisch und für die Beamten viel dringlicher gewesen, als der erstaunten Öffentlichkeit im Herbst 1954 durch Grenzschutzmanöver eine Art Indochina- oder Koreakrieg vorzuführen. Der Manöverauftrag lautete dahin: im Raum süddeutscher Industriestädte sei infolge von Streiks der Einsatz von Einheiten des Bundesgrenzschutzes notwendig geworden.
Sah man denn nicht und sieht denn der Herr Bundesinnenminister nicht die Gefahr, die damit verbunden ist? In welche Situation manövrierte er dadurch den Bundesgrenzschutz gegenüber der Arbeiterschaft und gegenüber den Gewerkschaften hinein?
Diese Einstellung des Herrn Bundesinnenministers zum Streik steht ja nicht isoliert. Eine Vereinbarung zwischen den Gewerkschaften und dem Innenminister über die Teilnahme des Bundesgrenzschutzes an dem Technischen Hilfswerk ist seinerzeit bedauerlicherweise daran gescheitert, daß der Herr Bundesinnenminister und die Gewerkschaften sich nicht über die Behandlung etwaiger Streiks durch das Technische Hilfswerk einigen konnten. Hier staatliche Machtmittel anzudrohen, ist der ungeeignetste Schritt, den man sich ausdenken konnte.
Die Männer des Bundesgrenzschutzes selbst waren übrigens wenig erbaut, daß sie so schlecht ausgerüstet in diese Übung gingen und vor militärische Aufgaben gestellt wurden. Hier hätte der Herr Minister um der Beamten willen für eine bessere Kleidung, für besseres Schuhwerk usw. sorgen müssen.
Einen letzten Satz zu diesem Kapitel. Da bisher Presse und auch amtliche Stellen kritische Bemerkungen der Opposition im Bundestag zum Bundesgrenzschutz bisher immer dahin ausgeschlachtet haben, die SPD sei gegen den Grenzschutz überhaupt, darf ich noch einmal sagen: Ohne die Zustimmung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion wäre das Gesetz über den Bundesgrenzschutz nie zustande gekommen, weil eine der großen Regierungsparteien. damals gegen das Gesetz gewesen ist.
Die Zurückhaltung des Herrn Bundesinnenministers, seine Scheu vor einem engeren Kontakt mit
dem Bundestag und seinen Ausschüssen haben dazu geführt, daß wir noch immer nicht wissen, wie sich die Bundesregierung und der Bundesinnenminister die nach der Flucht von John und Schmidt-Wittmack entstandene Lage und die so notwendig gewordenen Reformen des Verfassungsschutzes vorstellen. Damals, als John geflüchtet war, bei der Bundesregierung helle Verzweiflung und Aufregung herrschte, gab es Versprechungen über Versprechungen gegenüber der Öffentlichkeit und gegenüber dem Parlament. Aber keines dieser Versprechen ist gehalten worden. Die Zeugenvernehmungen im John-Ausschuß haben zur Genüge dargelegt, daß in dem Amt zu Köln jeder nach seiner Fasson selig werden konnte. Nachdem inzwischen fast vier Jahre seit Errichtung des Kölner Verfassungsschutzamtes verstrichen sind, gibt es auch heute noch keine klaren Richtlinien über den Aufbau und die Arbeitsmethoden dieser Behörde.
Warum hat das Amt auch noch immer keinen neuen Präsidenten? Es ist doch unerträglich, daß ein so wichtiges Amt, das in der Anonymität arbeiten und so weitgehend in die Rechte des Staatsbürgers eingreifen kann, immer noch keinen ordentlichen Chef hat. ,Der jetzige provisorische Präsident ist zugleich Leiter des Bundeskriminalamts in Wiesbaden. Aber fürchten Sie denn nicht auch, Herr Bundesinnenminister, daß es der Sache abträglich ist, wenn man die politischen Vorgänge, die das Bundesverfassungsschutzamt zu bearbeiten hat, unter kriminalistischen Gesichtspunkten verfolgen läßt, also nach Grundsätzen, die man für Betrüger, Diebe und sonstige Ganoven aufgestellt hat?
Wir fragen die Bundesregierung und den Herrn Bundesinnenminister weiter, welche Vorstellungen bei ihnen über das Verhältnis zwischen Bund und Ländern auf dem Gebiet des Verfassungsschutzes bestehen. Wie soll die Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften und der Polizei sein? Welche Garantie will die Bundesregierung endlich dem betroffenen Staatsbürger geben, daß er rechtliches Gehör erhält und nicht leichtfertig Opfer irgendeines schmierigen Agenten wird? Wo bleibt die vom Bundesinnenminister zugesagte Unterrichtung der Fraktionen oder ihrer Vorsitzenden über die Einzelarbeiten jenes Amtes und über die Verwendung der so hohen, über 8 Millionen DM betragenden Mittel? — Soviel Sorgen, soviel ungelöste und unbeantwortete Fragen, obwohl uns doch allen diese Probleme nach wie vor auf den Nägel brennen oder doch auf den Nägeln brennen sollten.
Im Zusammenhang mit dem Verfassungsschutz ist seinerzeit hier auch die Vulkan-Affäre debattiert worden. Wir begrüßen es, daß diese leidige Angelegenheit wenigstens teilweise durch eine Ehrenerklärung des Herrn Bundesinnenministers ausgeräumt worden ist. Aber — und darum erwähne ich das — hätte man von Anfang an mehr Sinn für politischen Anstand und Gerechtigkeit gehabt, wir wären doch nie in diese leidige Sache hineingeschlittert.
Aber leider ist es ein Kennzeichen unserer Zeit, daß das Gefühl für Recht immer geringer wird und der Staatsbürger lediglich als Untertan betrachtet wird.
Aber nicht nur bei dem „Vulkanfall" ist das mangelnde Fingerspitzengefühl der Bundesregierung
zu kritisieren. Der Prozeß gegen die KPD in Karlsruhe beweist doch eine hilflose Weltfremdheit der Bundesregierung gegenüber den Kampfmethoden der KPD und den Gefahren, die entstehen, wenn man sie in die Illegalität drängt.
Wer mit seiner politischen Arbeit aus dem Ruhrgebiet kommt, weiß doch, daß eine Partei wie die Kommunistische niemals mit Bajonetten oder Polizeiknüppeln besiegt werden kann. Andererseits rutschte sie doch überall da, wo wir ihr innerhalb der Deutschen Bundesrepublik in völliger Freiheit die Möglichkeit gaben, sich der Wählerschaft und der Meinung der Staatsbürger zu stellen, ins Bodenlose. Nehmen Sie die Landtagswahlen, vor allem in Berlin! Glauben Sie nicht, daß wir den Kommunismus besser durch eine vernünftigere Sozialpolitik und eine gerechtere Wirtschaftspolitik bekämpfen könnten,
dadurch, daß der arbeitende Mensch das Gefühl bekommt, daß die Allgemeinheit, d. h. im wesentlichen der Staat und die Selbstverwaltungskörperschaften ihm immer dann helfen werden, wenn er schuldlos in Arbeitslosigkeit, Siechtum oder sonstige Not gerät? Wer den Kommunismus zum Märtyrer macht, hilft ihm!
Sie jagen einer Illusion nach, wenn Sie glauben, daß die Kumpels, die vor dem Hochofen oder unten vor der Kohle tagtäglich angesichts des Todes zusammenarbeiten, einen anderen Kumpel wegen einer kommunistischen Äußerung der Polizei ausliefern würden.
Nur aus dieser völlig falschen Einschätzung der kommunistischen Kräfte und aus dieser primitivsten Art der Bekämpfung des Bolschewismus ist wohl auch das Urteil des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe gegen Angenfort zu verstehen. Angenfort wurde wegen versuchten Hochverrats zu der schärfsten Zuchthausstrafe verurteilt, die das Gesetz überhaupt ermöglicht. Meine Damen und Herren, damit hier keine Unklarheiten aufkommen: Selbstverständlich lehnen auch wir uns genau so wie Sie mit aller Entschiedenheit gegen die Unterminierung der demokratischen Grundordnung dieses Staates auf. Es ist selbstverständlich, daß Angenfort bestraft werden mußte, wenn das Gericht feststellte, daß er sich gegen das Gesetz vergangen hat. Aber entscheidend ist doch — darum schneide ich diese Frage an —, w i e man das Instrument der Justiz und die Bestimmungen über den Hochverrat handhabt.
Ein Staat, der sich gesund und politisch kräftig fühlt, braucht doch nicht zu dem letzten und äußersten Mittel von Zuchthausurteilen zu greifen. Wir sollten nicht den Eindruck erwecken, daß wir uns gegen den Kommunismus und seine Helfer schwach und hilflos fühlen.
Ich sagte, sicherlich mußte Angenfort bestraft werden, wenn er gegen das Strafgesetzbuch verstoßen hat. Aber war dieses Strafmaß notwendig? Ist dieses Strafmaß überhaupt haltbar — und ich bitte den Herrn Bundesjustizminister und den Herrn Bundesinnnenminister, das Urteil nach dieser Seite nachzuprüfen —, wenn man sich aller jener Urteile erinnert, die in Deutschland nach 1945 gegen die Menschenschinder und Kopfjäger der
Hitlersehen KZs verhängt wurden, die man freisprach, weil angeblich die letzte Gewißheit für ihre Missetaten nicht zu erbringen war, oder die man nach einigen Monaten Haft aus dem Gefängnis entließ, weil man sie damit zu entschuldigen glaubte, sie seien das Opfer einer gottlosen Obrigkeit geworden?
Im vorigen Jahr hat der Bundestag eine sehr großzügige Amnestie beschlossen. Auch wir haben ihr damals zugestimmt. Durch diese Amnestie wurden alle jene, die sich vor 1945 an hilflosen und wehrlosen Menschen so mörderisch und viehisch vergangen hatten, begnadigt, wenn nichtmehr als drei Jahre Freiheitsstrafe zu erwarten waren.
Das ist es, was unser Rechtsgefühl auf das tiefste verletzt: daß Menschen vor dem Richterstuhl so verschieden und nicht gleich behandelt werden.
Aber auch sonst liegt in der Innenpolitik manches im argen. Typisch hierfür war — um nur
einige Fälle aus der Fülle der Ereignisse anzuführen — jene Äußerung des Herrn Reusch, die
Gewerkschaften hätten das Mitbestimmungsrecht
erpreßt. Gewiß, der Kanzler hat später Herrn
Reusch zur Ordnung gerufen und hat diese Äußerung mißbilligt. Aber viel zu spät und erst, als er
unter dem Druck der Öffentlichkeit dazu gezwungen wurde! Wir überschätzen die Person des
Herrn Reusch nicht, und es geht hier auch nicht
um seine Person. Aber seine Äußerungen können
nicht isoliert betrachtet werden; sie sind ja auch
nicht vereinzelt geblieben. Politisch entscheidend
ist, daß seine Verleumdung der Arbeiterschaft und
der Gewerkschaften nur ein Meilenstein auf dem
Wege ist, den die allgemeine Innenpolitik nunmehr seit Jahren geht und weiter zu gehen droht.
Kennzeichnend war auch die Äußerung des Herrn Verkehrsministers Seebohm, die mein Kollege Mellies bei der Behandlung des Kanzleretats aufgegriffen hat und auf die ja dann nicht nur der Kanzler, sondern auch Herr Seebohm mit einigen abmildernden, aber uns nicht überzeugenden Worten geantwortet hat, die Bemerkung, daß man die künftigen deutschen Divisionen auch für etwaige innerpolitische Situationen brauchen könne und müsse. Herr Seebohm befand sich dabei in einer für den Eingeweihten nicht erstaunlichen Übereinstimmung mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, Herrn Eisenhower, der die Forderung nach den Truppen in Deutschland u. a. auch damit begründete, sie seien auch gegen staatsfeindliche Elemente in der Bundesrepublik notwendig.
Es war übrigens der gleiche Herr Seebohm, der den Mythos des Sportpalastes wiederauferstehen ließ.
— Ja, Herr Kollege, wenn das ein aufgelegter Schwindel ist,
dann frage ich Sie, und diese Frage wollte ich
ohnehin an den Herrn Kanzler und den Herrn
Bundesinnenminister stellen: Warum ist dann der offene Brief des Zentralrates der Juden in Deutschland über die Sportpalastveranstaltung, in der wieder der Ruf erschallte: Juden raus!, warum ist diese offene Anfrage, was der Herr Kanzler zu diesem Treiben zu sagen habe, bis heute, nach sechs Monaten, noch -nicht beantwortet worden?
Aber nein, man holte sich so eine Art neuen Saalschutz, man holte sich Herrn Seebohm, man holte sich schwarz-weiß-rote Fahnen und eine sehr zackige Marschmusik, die, wie es in dem Bericht hieß, „jedes Herz höher schlagen ließ". Nun, ich sagte schon, der Kanzler schwieg, und er ließ auch die Anfrage der Betroffenen unbeantwortet.
Meine Damen und Herren! .Bei diesem Infiltrieren, bei diesem Eindringen schwarz-weiß-roter restaurativer Elemente bis in die Reihen der Bundesregierung selbst ist es kein Wunder, wenn dann draußen 'im Lande alle jene Verbände wieder auferstehen, die wir längst verschwunden glaubten. Ich brauche nur auf die Stahlhelm-Kundgebungen in Recklinghausen und Goslar hinzuweisen, auf die Stahlhelm-Kundgebung mit 'der unverschämten Erklärung des Herrn Kesselring, der sich in aller Öffentlichkeit rühmte, daß er keine Angst habe, vor der Geschichte einmal zur Rechenschaft gezogen zu werden, daß er zu viele Menschen habe erschießen lassen, sondern daß er eher den Vorwurf fürchte, er habe, um der deutschen Sache unter Hitler zum Siege zu verhelfen, zu wenig Menschen umgebracht.
Der gleiche Kesselring ließ jetzt in Goslar seine Geisterarmeen in grünem Hemd und Reithose, mit militärischer Exaktheit, mit „Frontheil" und „Hurra" 'aufmarschieren. Es war nach den Bildern ein kläglicher Aufmarsch, und man könnte über diesen Klub ewig Gestriger hinweggehen — der Stahlhelm ,gehörte ja auch zu jener Harzburger Front, die die deutsche Einheit mit untergraben hat —, wenn wir nicht von der erstaunlichen Tatsache hören müßten, daß der neue Innenminister von Niedersachsen geglaubt hat, sich den Luxus leisten zu können, nicht etwa eine solche dreiste Demonstration aufzulösen, sondern mit mehr als 1100 Polizeibeamten gegen die aus einem sehr gesunden Abwehrinstinkt heraus handelnde, gegen die Stahlhelm-Kundgebung demonstrierende Menge mit Gummiknüppeln vorzugehen.
Ist es dann ein Wunder, meine Damen und Herren, wenn bei dem Geist, der aus diesen Kundgebungen spricht, Deutschland sich draußen in der Welt auch durch den Fall Schlüter beschämen lassen mußte? Ich will diesen Fall hier nicht wieder aufwärmen; er ist allen zur Genüge bekannt. Ich will Ihnen aber offen eins zugeben: im Grunde bin ich heute recht froh, daß es einen Fall Schlüter gegeben hat; denn was kein Parlament in Deutschland fertiggebracht hätte, das haben die jungen Studenten und die Professoren von Göttingen erreicht!
Dias ist ein gewisser Trost, weil es nämlich beweist,
daß in dieser jungen Generation doch mehr Mut
zum Handeln und nicht nur zum Reden steckt als in der Generation nach 1918.
Ich muß dann noch — es taucht alles wieder auf: wir haben alles schon zweimal in diesem einen Menschenalter erlebt, nicht nur einmal — an die Tagung „vaterländischer" Verbände zum Reichsgründungstag von 1871 im Januar 1955 in Hamburg erinnern. Diese Tagung wurde unter dem Spruchband mit dem Ruf beendet: „Herr, schicke uns einen neuen Helden!"
Weiter darf ich Herrn Strasser zitieren, den jetzigen Herrn Strasser, nicht den damaligen
— ach nein, dafür sorgt schon Ihre Presse, daß er populär wird! —, der erklärt hat, die Juden sollten wieder auswandern, und die Parteien in Bonn seien ein einziger Sauhaufen. Schließlich muß ich auf das Pfingsttreffen der ehemaligen aktiven Nazis in Gadeland hinweisen.
— Eine alte Sache? O nein, das ist ganz frisch; das ist unter dem neuen Innenminister geschehen! Da hat sogar der Innenminister des Landes SchleswigHolstein den traurigen Mut besessen, an dieser Veranstaltung teilzunehmen und sich das Bekenntnis anzuhören, die Nationalsozialisten seien nur deshalb bestraft worden, weil sie in Treue zum deutschen Volke gestanden hätten, und die Bundesrepublik sei alles andere als ein Rechtsstaat.
Wenn all das schon wieder möglich ist, dann sollte selbst eine sonst so restaurative Bundesregierung endlich sehen, daß das Maß nun voll ist.
Meine Damen und Herren, es gäbe noch viele Einzelheiten, weitere Fälle ähnlicher Art aufzuzählen. Wir wollen diese Vorkommnisse nicht dramatisieren und auch gar nicht den Eindruck erwecken, als stünde Deutschland vor der Gefahr eines neuen Faschismus. Nichts wäre falscher als das. Aber diese Hinweise sind — leider — notwendig gewesen als Folge der Tatsache, daß politisch maßgebliche Stellen in der Bundesrepublik, d. h. im Bund und in den Ländern, solchen Vorgängen indirekt durch ihre restaurative Haltung Vorschub leisten und sich in keiner amtlichen Erklärung von diesen Vorgängen distanziert haben.
Zumindest wäre das auch eine der Aufgaben des Innenrninisiters in diesen Tagen gewesen.
All das bekommt eine besondere Bedeutung durch die beabsichtigte Aufstellung einer neuen deutschen Armee. Wir alle wissen doch um die besonderen Gefahren, vor denen wir für und in Deutschland durch die Aufstellung neuer militärischer Organisationen innenpolitisch stehen. Daher warnen wir, erneut einer Verkoppelung von Militär und Restauration, unter der Deutschland in seiner Geschichte so unselig gelitten hat, auch nur die geringste Chance zu geben.
So sollte man auch nicht mit der bisherigen Oberflächlichkeit über die schlechte Stimmung im Volke, insbesondere der Arbeiterschaft, hinweggehen. Wenn dann ein Mann wie der Bundesminister Strauß zu dieser Situation nichts weiter zu sagen hat, als den Gewerkschaften vorzuwerfen, mit ihren Aktionen besorgten sie lediglich die Geschäfte Moskaus, dann darf man sich doch nicht wundern, wenn die Spaltung, die Kluft zwischen den sozialen Schichten , noch tiefer wird.
Wir wollen nicht über jedes Ungemach klagen
— wer in der Politik steht, muß auch Nachteile hinnehmen —; aber insgesamt — und das ist die tiefe Sorge, die uns bewegt — hat sich doch eine innenpolitische Situation entwickelt, die auf die Dauer unerträglich wird. Wir sind doch in Deutschland wieder so weit, daß alle diejenigen, die nicht die Politik des Bundeskanzlers bis ins einzelne und bis ins letzte zu akzeptieren bereit sind, der Helferdienste des Bolschewismus oder gar des Hochverrats bezichtigt werden!
— Ach, sehen Sie sich doch mal Ihre eigenen Erklärungen an!
Herr Dr. Wuermeling ist übrigens ein lebendiges Beispiel dafür, wieweit Unduldsamkeit in der Bundesrepublik gehen kann. Vor einigen Wochen hatte Herr Wuermeling zugesagt, in einer Veranstaltung der Stadt Iserlohn über die Lage der deutschen Familie zu referieren. Einige Stunden vor der Veranstaltung ging ein Telegramm von Herrn Dr. Wuermeling ein, das ich mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten verlesen darf:
Zu meinem Bedauern sehe ich mich genötigt, mein Referat für Samstag abzusagen angesichts der empörenden parteiamtlichen Verlautbarungen der SPD. In der höchstes Verantwortungsbewußtsein aller Deutschen erfordernden Saarfrage muß ich es zur Zeit ablehnen, zusammen mit Vertretern derartiger politischer Kampfparolen zu sprechen.
Meine Damen und Herren, das war doch nur ein Vorwand. Dieses Telegramm war doch weiter nichts als der Ausdruck der puren Angst, sich in der Öffentlichkeit einer Aussprache in Iserlohn zu stellen!
Mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit haben Sie in der letzten Zeit in zunehmendem Maße jede Gelegenheit wahrgenommen, die Opposition vor den Kopf zu stoßen. Ich brauche nur an die Vorgänge der letzten beiden Ältestenratssitzungen dieser und der vergangenen Woche zu erinnern,
wo man versucht hat — wie vorher den Bundesrat —, nunmehr auch die Opposition und das gesamte Parlament mit der sofortigen Lesung des Freiwilligengesetzes zu überrumpeln.
Daher werden doch Ihre dauernden Beteuerungen und Beschwörungen, in wichtigen Fragen mit der Opposition eine gemeinsame Linie zu finden, immer unglaubwürdiger.
Mit niesen Methoden, die ich aufgezeigt habe, und diesem innerpolitischen Trend werden doch alle ernsthaften Ansatzpunkte für eine freie und demokratische Entwicklung in unserer Bundesrepublik zerschlagen.
Zu der unseligen geographischen Spaltung in Ost und West wird dann eines Tages — das fürchten wir, und das ist unsere Sorge und Angst — eine ebenso entsetzliche Spaltung innerhalb des deutschen Volkes selbst entstehen.
Sicherlich wird dieser Aufspaltungsprozeß, dieses Auseinanderleben zur Zeit noch dadurch übertüncht, daß bei vielen ein Gefühl der Sättigung entstanden ist, einer Sättigung, die zum Egoismus führt, zu einem Egoismus, der stumpf macht gegen das Elend der anderen und vor allem auch so stumpf macht gegen das Schicksal jener 18 Millionen Deutschen in der sowjetisch besetzten Zone.
— Nein, Herr Kollege Vogel, das ist auch schon
von mancher Kanzel gesagt worden.
Sehen Sie denn nicht die Gefahr, daß durch diese Methoden die Arbeiterschaft — seit Jahrzehnten versucht die Sozialdemokratie, sie an den Staat heranzuführen — dem Staat wieder entfremdet wird? Daß sie herausgedrängt wird aus der Mitverantwortung im Bund, in den Ländern und in Tausenden von Gemeinden, wo sie zwar die Mehrheit hat, wo sich aber die bürgerlichen Fraktionen zusammenschließen in dem negativen Kampf gegen die Sozialdemokratie? In jenen Gemeinden, die die Sozialdemokratie nach 1945 doch fast allein oder weitgehend allein wiederaufgebaut hat,
stehen wir heute vor der bestürzenden Erkenntnis, daß diese Bemühungen der Sozialdemokratie, den arbeitenden Menschen wieder mehr an den Staat heranzuführen, unterhöhlt werden. Aber — das sei Ihnen zum Schluß gesagt — 8 Millionen Wähler der Sozialdemokratischen Partei sind eine Tatsache, an der auf die Dauer auch die Bonner Regierung nicht vorbeigehen kann; denn wer könnte schließlich leugnen — Hand auf's Herz auch bei Ihnen —, daß diese Mauer von 8 Millionen Wählern eine viel größere Stabilität der Bundesrepublik und eine viel größere Garantie für unsere Demokratie im Westen bedeutet als manche der Parteien, die heute formell in Bonn mitzureden haben!