Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aussprache zum Etat des Außenministers ist keine außenpolitische Debatte im eigentlichen Sinne des Wortes. Es wird in dieser Aussprache Kritik geübt an der Art, wie die Außenpolitik geführt wird, und nicht in erster Linie an den Zielen dieser Außenpolitik. Die Kritik bezieht sich also auf das Instrument dieser Politik, das Auswärtige Amt, und sie hat sich zu beziehen auf gewisse Maßnahmen und auch auf gelegentliches Verhalten des Mannes, dem die Führung
*) Siehe Anlage 8 zur 87. Sitzung. dieser Außenpolitik obliegt, nämlich des Herrn Außenministers.
— Er wird offenbar vertreten durch den Herrn Bundeskanzler.
Die Koppelung der beiden Ämter, des Bundeskanzleramtes und des Amtes des Außenmnisters, in der Person des Herrn Bundeskanzlers hat es ihm in seiner Eigenschaft als Außenminister sehr schwer gemacht, dem Parlament die Aufmerksamkeit zu schenken, auf die dieses Haus Anspruch hat. Das ist eine schlechte Sache, und es war nicht gut, daß der Herr Bundeskanzler geglaubt hat, so lange beide Ämter verwalten zu müssen. Er hat offenbar bis vor wenigen Wochen niemanden gefunden, dem er das nötige Können zugetraut hat. Sicher hat uns der Herr Bundeskanzler Herr in einigen unserer Plenarsitzungen Rede und Antwort gestanden, wenngleich er manchmal vorgezogen hat, auf Fragen nicht zu antworten. Aber die laufende Unterrichtung des Parlaments ist nun doch zu kurz gekommen. Wie oft haben wir ihn im Auswärtigen Ausschuß gesehen? Das läßt sich an den Fingern abzählen. Und wenn er kam, dann warteten oft drängende Bundeskanzlergeschäfte auf ihn, so daß er uns mit seinem Staatssekretär allein lassen mußte, mit einem Beamten also. Ich sage dieses Wort ohne jeden abwertenden Beigeschmack. Aber ein Beamter hat nun einmal nicht die Politik der Regierung zu vertreten und ist nicht in der Lage, verbindliche politische Erklärungen abzugeben. Er ist Auskunftsperson und nicht mehr. Beratungen im Auswärtigen Ausschuß über politische Materien haben aber doch nur dann einen Sinn, wenn auf der Regierungsbank nicht nur eine Auskunftsperson sitzt, sondern der Mann, der die Ziele und die Methoden der Außenpolitik politisch zu verantworten hat. Dabei kann sich der Außenminister nur in seltenen Fällen vertreten lassen; da muß er schon persönlich gegenwärtig sein.
Sicherlich kann es vorkommen, daß der Minister aus zureichenden Gründen verhindert ist und daß er deswegen die Sitzungen des Ausschusses nicht immer persönlich wahrnehmen kann, obgleich es eine Selbstverständlichkeit sein sollte, daß der Außenminister bei keinem wichtigen Tagesordnungspunkt fehlt. Ich bin überzeugt, daß Herr von Brentano, der neue Außenminister, so denkt und so handeln wird, zumal ihm die Zahl der den Herrn Bundeskanzler außenpolitisch unmittelbar beratenden Beamten viel Zeit dazu lassen wird.
Aber auch bei minder wichtigen Fragen müßte die Regierung im Ausschuß politisch und nicht durch einen Beamten vertreten sein. Darum meine ich -
ich sage das für meine Person —, daß der Posten eines parlamentarischen Staatssekretärs geschaffen werden sollte, der die Stellungnahme des Auswärtigen Amts im Ausschuß politisch zu vertreten in der Lage wäre. Damit bekämen wir auch eine klarere Ordnung in den Aufbau des Auswärtigen Amts selbst. Aufbau und Leitung des Dienstbetriebs — eine sehr wichtige Sache im übrigen -
lägen in der Hand des beamteten Staatssekretärs, der Verkehr mit dem Parlament dafür in der Hand seines parlamentarischen Kollegen. Ich glaube, daß man auf beiden Seiten profitieren würde, auf der Seite des Amtes und auf der Seite des Parlaments.
Vielleicht könnte man in diesem Fall auch die Stellenpläne ein wenig sachgemäßer bearbeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Geschäfte einiger Auslandsmissionen so zugenommen haben könnten, daß man die Zahl der höheren Beamten, um nur diese zu nennen, verdoppeln und gar verdreifachen müßte.
In Lissabon z. B. vertraten 1936 zwei höhere Beamte die Interessen des Deutschen Reiches. 1955 hält man sieben Beamte, also das Dreifache, für notwendig, die Interessen der Bundesrepublik zu vertreten. Woher auf einmal dieser Bedarf? Kommt er daher, daß die entthronten Monarchen sich das schöne Portugal zum Aufenthalt auserkoren haben wie einst zur Zeit Voltaires und Candides das schöne Venedig? Oder haben unsere diplomatischen Beziehungen zu diesem Lande so zugenommen? Schließen wir mehr Handelsverträge ab als vorher? Oder ist das Protokoll dort so kompliziert geworden, daß man so viel mehr Beamte braucht, um alle Einladungen wahrnehmen zu können, die an die Botschaft ergehen? Lissabon war während des Krieges einer der Hauptorte der internationalen Spionage. Nun, Botschaften sollen keine Spionagezentralen sein und Diplomaten keine Agenten; das weiß man auch hier im Auswärtigen Amt, und ich bin überzeugt, daß man entschlossen ist, nach diesem Wissen zu handeln. Mit der schlechten Vergangenheit Lissabons also kann diese Vermehrung des Personals nicht zusammenhängen. Womit hängt sie dann sonst zusammen? Ich würde es gern hören.
Oder nehmen wir Stockholm! 1936 versahen drei Beamte des höheren Dienstes dort die Aufgaben der Gesandtschaft; heute sind es neun. Insgesamt ist der Beamtenstab von 15 auf 36 Köpfe angewachsen. Warum diese Steigerung?
Oder nehmen wir das Generalkonsulat in Mailand! 1936 genügten dort drei Beamte; 1955 braucht man sechs. Gewiß, Mailand ist ein großer Platz; aber das ist er immer gewesen, auch schon im Jahre 1936.
Nehmen wir Kairo! 1936 waren dort zwei höhere Beamte notwendig, jetzt sind es sieben. Sicher, Kairo ist heute wichtiger geworden, als es 1936 der Fall war; sehr viel wichtiger. Aber muß sich die Steigerung seiner Bedeutung in mehr als eine Verdreifachung des diplomatischen Personals übersetzen, und müssen wirklich dort insgesamt statt bisher 12 nun 30 Personen tätig sein?
Nehmen wir Singapur! 1936 hielt man beim dortigen Generalkonsulat einen Beamten für notwendig, heute fünf. Was hat die Notwendigkeit begründet, das Personal des Generalkonsulats zu verfünffachen? Wohlverstanden: es handelt sich nicht um eine Stelle, die Politik zu machen hat, also nicht um eine Gesandtschaft. Da könnte ich in Anbetracht der Veränderungen, die im Fernen Osten vor sich gegangen sind, es verstehen, daß das Personal vermehrt wird. Es handelt sich aber um ein Konsultat, also eine Stelle, in der bloße Verwaltungsarbeit zu leisten ist.
In die Arkana der Personalpolitik eines Auswärtigen Amts einzudringen, ist schon immer sehr schwer gewesen. Heute scheint mir dies, in Bonn besonders, auf fast unendliche Schwierigkeiten zu stoßen. Ohne Rechenschieber kommt man da kaum mehr aus, wenn man die verschiedenen Schlüssel handhaben will, nach denen offenbar die Stellen besetzt werden: die Konfession, die Zugehörigkeit zur alten Karriere oder zur neuen, das Band eines Korps oder einer anderen Verbindung, die Landsmannschaft, der Grad der braunen oder sonstigen Vergangenheit, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischen Partei der Koalition oder gar der Verdacht, es mehr mit der Opposition zu halten.
Meine Damen und Herren, damit sollte man doch endlich Schluß machen. Sollte es denn nicht möglich sein, daß auch wir in der Bundesrepublik im Auswärtigen Dienst einen Beamtenkörper schaffen, dessen Mitglieder ausschließlich nach ihrer Tüchtigkeit, nach ihrem Können, nach ihrem Charakter, nach ihren Fähigkeiten ausgewählt werden, eine Beamtenschaft, die sich nicht mehr dieser oder jener politischen Konstellation glaubt verschreiben zu müssen, sondern die der Regierung schlechthin dient, jeder Regierung, mag sie heute auf dieser Koalition beruhen, morgen auf einer anderen. Das ist doch in anderen Ländern möglich geworden! Warum sollte es bei uns unmöglich sein?
Ist es denn wirklich notwendig, bei der Anstellung von Beamten so sehr nach der Konfession zu fragen? Ist es denn nicht möglich, mit dem Satz des Grundgesetzes Ernst zu machen, der uns vorschreibt, die Frage nach der Konfession auszuschalten, wenn es sich um die Anstellung von Beamten handelt?
Ich glaube und hoffe, daß sich Herr von Brentano, der neue Außenminister, dieser Dinge annehmen wird in dem Geiste, der allein dem Staate frommen kann. Er wird es nicht sehr leicht haben, und zu allem hin ist seine Stellung als Außenminister doch recht erheblich reduziert. Zwei Beamte, die Herren Blankenhorn und Hallstein, bleiben die außenpolitischen Berater des Herrn Bundeskanzlers und haben, wenn die Presse richtig berichtet hat, unmittelbares Vortragsrecht bei ihm. Wie Herr von Brentano sich damit abfinden will, ist seine Sache. Aber das Parlament — auch wir von der Opposition — hat ein Interesse daran, daß in Dingen der Außenpolitik, auch was die Organisation des Instruments der Außenpolitik, des Auswärtigen Amtes, und was die Kompetenzen derer, die dieses Instrument handhaben, anlangt, technisch richtig verfahren wird.
Dem Außenminister obliegt die Führung der Außenpolitik, deren Richtlinien der Herr Bundeskanzler bestimmt. Im Rahmen dieser Richtlinien verwaltet e r sein Amt selbständig; er ist nicht der Untergebene des Herrn Bundeskanzlers. Zu den Dienstobliegenheiten des Außenministers gehört aber, daß er der Berater des Chefs der Regierung ist, der einzige amtliche Berater in Dingen der Außenpolitik. Es geht nicht an, daß Informationen, daß Ratschläge, daß Warnungen von anderen beamteten Personen an den Regierungschef herangetragen werden. Wenn das geschähe, würde die Außenpolitik notwendig zweigleisig werden. Wir hätten dann eine Außenpolitik oder, sagen wir, eine Diplomatie des Auswärtigen Amtes und eine andere des engeren Beraterstabes des Herrn Bundeskanzlers, und das könnte nur zu einem schlimmen Ende führen. Man sollte sich doch an die alte Erfahrungstatsache erinnern, daß gerade in Dingen der Führung der Außenpolitik das Staatsoberhaupt und der Chef der Regierung amtlich nur durch
einen Mann beraten werden können, nämlich durch den Außenminister.
So wie diese Dinge nun geordnet sind, wird es wohl so sein, daß Herr Blankenhorn die NATO-Politik machen wird. Herr Hallstein wird, wenn er seine bisherige Tätigkeit fortsetzt, Vertragsverhandlungen von politischer Bedeutung führen und dabei unmittelbar vom Herrn Bundeskanzler instruiert werden, und er wird ihn dabei unmittelbar beraten. Für den Außenminister als solchen bleibt dann doch nicht sehr viel mehr übrig als die Expedition der laufenden Geschäfte und die kleinere Politik. Er wird dann, fürchte ich, der eigentliche Staatssekretär sein.
Ich habe mit dieser Darstellung bewußt übertrieben, um das Dilemma, vor dem wir stehen, ganz klar darzustellen. Wir meinen, daß es im Interesse der Bundesrepublik wäre, wenn der Außenminister wirklich der einzige amtliche Berater des Herrn Bundeskanzlers wäre und die einzige Stelle, von der aus Anweisungen an die dem Ministerium unterstehenden Personen ausgehen.
Was nun die Methoden unserer Diplomatie anlangt, so sollte man sich im Außenministerium bei der Aufstellung politischer Ziele, bei der Auswahl seiner politischen Freunde des Unterschieds zwischen Großmächten und Nicht-Großmächten durchaus bewußt sein. Aber auch wenn man das weiß: wenn man die Ziele seiner Politik unter Berücksichtigung dieses Unterschiedes aufstellt, sollte man sich doch in seiner Diplomatie, d. h. im Verkehr mit den Staaten und den Regierungen gleichmäßig verhalten, ob es sich nun um eine Großmacht handelt oder einen Staat, der nicht Großmacht ist. Es ist nicht gut, wenn man auf ein Verhalten einer NichtGroßmacht diplomatisch sehr viel heftiger reagiert als auf das gleiche Verhalten einer Großmacht.
Wir haben die Wegnahme eines sehr großen Teiles des deutschen Eigentums in den Vereinigten Staaten von Amerika zwar mit Bedauern, aber ohne große diplomatische Gesten hingenommen.
Als der österreichische Staatsvertrag dieselbe Lage schuf — offenbar nach dem amerikanischen Modell — haben wir mit gröbstem Geschütz geantwortet. Der Leiter unserer dortigen Mission wurde in Urlaub geschickt und die Führung der Geschäfte in die Hand eines Beamten ohne viel Autorität gegeben.
Ich glaube nicht, daß das ein gutes diplomatisches Verhalten war.
Um über das Materielle des Problems zu sprechen: Es ist nach dem Versailler Vertrag die schlechte Sitte eingerissen, nach Kriegen das Privateigentum von Individuen zu konfiszieren, um sich damit für Reparationsansprüche, die man zu haben glaubt, vorweg zu befriedigen. Dagegen haben nach 1919 die Juristen der ganzen Welt protestiert, die österreichischen Juristen nicht minder als deutsche und andere. Nun ist man im österreichischen Staatsvertrag nach der Methode von Versailles vorgegangen: Man hat das deutsche Privateigentum zum allergrößten Teil konfisziert, und Österreich will sich daran für seine angeblichen Reparationsansprüche befriedigen. Wir halten das nicht für eine gute Methode. Die gute Methode wäre gewesen — wenn Österreich glaubt, Reparationsansprüche zu haben —, uns eine Rechnung vorzulegen und dann mit uns zu verhandeln. Man hat es anders gemacht. Die Alliierten haben im Staatsvertrag mit Österreich vereinbart, daß Österreich verpflichtet ist, das deutsche Privateigentum über einen bestimmten Betrag hinaus zu konfiszieren, daß ihm verboten ist — zum Teil wenigstens —, es an deutsche Eigentümer oder an Ausländer zurückzuübertragen. In der Verurteilung dieser Vereinbarung sind wir wahrscheinlich mit Ihnen einig. Wir sind nicht mit Ihnen einig, wenn Sie glauben sollten, daß die Art und Weise, wie der Herr Außenminister auf dieses Verhalten reagiert hat, glücklich gewesen sei.
Wir haben doch in dem Überleitungsvertrag zu den Pariser Verträgen versprochen, jede Regelung. die die Alliierten mit Österreich über das deutsche Privateigentum treffen würden, hinzunehmen. Wir haben aber diese Regelung nicht hingenommen, sondern wir haben darauf sehr sauer reagiert. Das richtige Verhalten wäre meines Erachtens gewesen — da es doch nicht möglich ist, den österreichischen Staatsvertrag wieder aufheben zu lassen —, alle Chancen auszunützen, die darin liegen -
und es liegt doch wenigstens die eine Chance darin, etwas für die kleinen deutschen Vermögen herauszuholen. Man hätte also so schnell als möglich die diplomatischen Voraussetzungen dafür schaffen müssen, daß über diese Chance verhandelt werden kann. Statt dessen beruft man den einzigen Vertreter der Bundesregierung in Wien ab und macht damit ein Verhandeln unmöglich.
Ich fürchte, daß dieses Verhalten dazu führen könnte, die Position der kleinen deutschen Eigentümer erheblich zu verschlechtern, und ich kann nur hoffen, daß die österreichische Regierung es diese Menschen nicht entgelten lassen wird, daß man vom Auswärtigen Amt aus so fehlerhaft reagiert hat.
Und nun ein Letztes. Absicht und Taktik diplomatischer Verhandlungen werden im allgemeinen geheimgehalten. Das ist ein alter Brauch und ein guter Brauch, der im übrigen eine Unterrichtung der parlamentarischen Instanzen nicht ausschließt, sondern geradezu zur Voraussetzung hat, wenigstens in einer parlamentarischen Demokratie. Eine schlechte Methode aber scheint es mir zu sein, zwar das Parlament nicht rechtzeitig über die eigenen Absichten zu unterrichten, aber vor der Presse oder vor dem Mikrophon Erklärungen abzugeben, daß man diese oder jene Lösung — etwa des Wiedervereinigungsproblems — unter keinen Umständen annehmen werde; insbesondere wenn dies vor Verhandlungen geschieht, in denen gerade der Gegenstand dieses „Niemals" Verhandlungspunkt sein soll und der Verhandlungsgegner die Faustpfänder in der Hand hat.
Auf diese Weise kann man Verhandlungen zum Scheitern bringen, ehe sie begonnen haben.
Ich weiß nicht, was der Herr Bundeskanzler nun in den Vereinigten Staaten anläßlich seines letzten
Besuches in Wirklichkeit gesagt hat. Er sollte so bald wie möglich dem Bundestag das Ergebnis seiner dortigen Besprechungen und seiner Besprechungen in London mitteilen. Ich möchte hoffen, daß er es heute noch und ausführlich tun wird.
Wenn man den Nachrichten Glauben schenken darf, hat er dem Sinn nach erklärt, daß die Wiedervereinigung Deutschlands niemals durch den Verzicht des Eintritts auch eines wiedervereinigten Deutschlands in NATO erkauft werden würde; denn man sei in der Bundesrepublik vertragstreu.
Zum Thema „Vertragstreue" einige Worte: Niemand mutet der Bundesregierung zu, einen Vertrag zu brechen, auch nicht die nunmehr ratifizierten Pariser Verträge. Aber man kann der Bundesregierung und ihren Vertragspartnern durchaus zumuten, in neuen Verhandlungen zu prüfen, ob nicht für die Wiedervereinigung Deutschlands eine Lösung gefunden werden könne, die Deutschland Sicherheit gibt und es Deutschland ermöglicht — dem wiedervereinigten Deutschland ermöglicht —, für die Sicherheit der Welt etwas zu tun, außerhalb des Schemas der Pariser Verträge und von NATO!
Mit anderen Worten: Wir muten niemandem zu, einen Vertrag zu brechen, aber wir verlangen, daß, wenn es um die Wiedervereinigung Deutschlands geht, auch die Pariser Verträge zum Gegenstand der Verhandlungen gemacht werden,
wenn sonst die Zustimmung der Sowjetunion zur Wiedervereinigung nicht zu erhalten ist. Da scheinen uns nun die Erklärungen, die der Herr Bundeskanzler in den Vereinigten Staaten abgegeben hat, ein schweres Hemmnis auf unserem Wege zu sein. Mit solchen Erklärungen blockiert man die Chancen der Viererkonferenz und läuft man Gefahr, daß diese Konferenz nicht zu einer Konferenz über die Wiedervereinigung Deutschlands wird, sondern lediglich zu einer Konferenz über die Normalisierung der Beziehungen aller Staaten, sowohl zur Bundesrepublik als auch zur DDR.
Aber damit wäre die Spaltung Deutschlands in einem gordischen Knoten versiegelt, und ich sehe noch nicht den Alexander, der diesen Knoten auflösen oder zerhauen könnte. Es ist doch nicht so, daß die Alternative lautete: hie Pariser Verträge und damit Sicherheit, Freiheit und Wiedervereinigung; dort: Weg mit den Pariser Verträgen und damit die politische und diplomatische Isolierung Deutschlands! Das Problem liegt doch anders: Wie können durch eine geeignete Politik und geeignete diplomatische Methoden die Voraussetzungen für die Wiedervereinigung Deutschlands geschaffen werden? Sie sagen: Durch die Methode der Pariser Verträge! Die Pariser Verträge sind aber doch nur dann in ihrem Aufbau, in ihrer Konzeption sinnvoll, wenn man davon ausgeht, die Welt werde auch künftig in zwei Blöcke aufgeteilt bleiben, die miteinander im Kalten Krieg stehen. Auf der Grundlage einer solchen Annahme — oder für eine Zwischenzeit bis zur Schaffung eines allgemeinen Systems kollektiver Sicherheit — scheint uns aber eine andere Vorstellung sinnvoller: Wenn man das russische Ja will, muß man bereit sein, ein wiedervereinigtes Deutschland bündnisfrei zu lassen, damit keiner der Blöcke zu fürchten braucht, das Potential eines wiedervereinigten Deutschlands werde dem anderen, als feindlich angesehenen Blocke zuwachsen.
Aber das Grundziel aller Politik, aller Weltpolitik müßte sein, die Blöcke aufzulösen, was wiederum nur durch Beendigung des Kalten Krieges geschehen kann, dessen Ausdrucksform doch diese Blöcke und die Spaltung Deutschlands, Koreas, Indochinas usw sind. Dieser Friedensschluß im Kalten Krieg setzt voraus, daß sich die Weltmächte über die Verschiebung der Machtverhältnisse in der Welt und ihre Neuordnung einigen und daß sie diese Einigung durch ein System kollektiver Sicherheit sichern, das seinerseits nur funktionieren kann, wenn man zu einer massiven Abrüstung bereit ist. In einem solchen System kollektiver Sicherheit wird dann den einzelnen Staaten oder Gruppen von Staaten vertraglich die Funktion zugewiesen werden, die sie für ihre eigene Sicherheit und die der anderen Staaten auszuüben haben. Dann werden die Blöcke aufgelöst sein, und dann wird wahrscheinlich die Frage, ob NATO oder nicht NATO, gegenstandslos geworden sein. Aber bis dahin wird viel Zeit vergehen müssen; denn der Wirrwarr ist groß, und die Interessen, die im Spiele sind, sind es auch. Wir können aber in Deutschland nicht mehr so lange warten.
Sollten wir nicht die Möglichkeit einer Einigung der Weltmächte dadurch fördern, daß wir ihnen deutlich machen, daß die in der Zwischenzeit auch für sie günstige Behandlung der Deutschlandfrage ein wiedervereinigtes Deutschland wäre, das keinem der rivalisierenden Blöcke als integrierender Bestandteil angehört, ein Deutschland, das in die Sicherheitsplanung so eingebaut wird, daß sich niemand bedroht fühlen kann, und das in der Lage ist, jedem, der Hilfe brauchen sollte, im Rahmen seiner Möglichkeit zu helfen, wie die anderen Partner bereit sein sollten, gegebenenfalls ihm zu helfen? Aber mit Erklärungen wie denen, die der Herr Bundeskanzler offenbar in den Vereinigten Staaten abgegeben hat, löst man nichts. Man verhärtet die Positionen und kränkt die Chancen dieser notwendigen Einigung der Mächte über die Voraussetzungen für die Schaffung der Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit.
Herr Bundeskanzler, Sie haben bisher über diese Dinge nur nach der einen Seite hin konkret zu sprechen brauchen. Nun werden Sie, wenn Sie nach Moskau fahren sollten, dort vor konkrete Fragen gestellt werden, auf die Sie mit Ja oder Nein werden antworten müssen. — In Parenthese: Sie sollten sehr bald nach Moskau fahren; denn wahrscheinlich führt die Route Bonn—MoskauGenf schneller nach Deutschland als die Route Bonn—Genf—Moskau. —
Die Frage, die man vielleicht in Moskau an Sie stellen wird, könnte lauten: Wenn wir, die Sowjetunion, gesamtdeutsche freie Wahlen zulassen und wenn wir bereit sind, die Souveränität eines wiedervereinigten Deutschlands zu achten, das keinem der bestehenden Blöcke beitritt und das Teil eines zu schaffenden Sicherheitssystems werden soll, wollen Sie dann das wiedervereinigte Deutschland aus NATO heraushalten? Wenn man Sie so
fragen sollte, Herr Bundeskanzler, was werden Sie dann antworten? Sagen Sie es uns heute!