Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst einen kleinen Freundschaftsdienst für meinen sehr verehrten Kollegen Herrn Kiesinger tun. Bei der Aufzählung der Teilnehmerstaaten von Bandung hat mein Kollege Kiesinger, wie das bei einer solchen Aufzählung leicht mal passieren kann, vergessen, Thailand zu erwähnen. Ich möchte das für ihn hier nachholen, und zwar mit seinem besonderen Wunsch und Willen, den er mir zum Ausdruck gebracht hat, und ich tue das um so lieber, da uns allen in diesem Hause bekannt ist, daß dieser Staat Thailand ein Beispiel für Europa gibt in seiner Festigkeit, seiner politischen Haltung und seiner inneren, auf Traditionen gegründeten Ruhe, ein Beispiel, wie man selbst in gefährdeter Lage seine Linie in der Politik konsequent halten kann, eine Tatsache, für die wir hier in Europa dankbar sind.
Es ist natürlich nicht ganz einfach, am Schluß einer Rednerkette zu stehen, zumal dann, wenn die einzelnen Kollegen jetzt den Wunsch haben, zu ihren Familien zu fahren. Aber es ist notwendig, daß wir, alle Fraktionen dieses Hauses, unserer politischen Pflicht genügen und unsere Stellungnahme geben.
Im Grunde genommen muß ich Ihnen sagen, daß man in dem gegenwärtigen Zeitpunkt der weltpolitischen Situation und auch der europäischen Situation nicht sehr aufgelegt sein kann, eine außenpolitische Debatte zu bestreiten, die man nicht gewünscht hat, weil die Stunde eher eine gewisse Zurückhaltung, ein gefestigtes Abwarten fordern würde. Nun, die Debatte hat stattgefunden. Es ist die erste außenpolitische Debatte in diesem Hause, nachdem die Bundesrepublik., Deutschland den Status eines souverän handelnden Staates erhalten hat. Man wird in der Welt auf das, was heute morgen im Bundestag gesagt worden ist, sehr aufmerksam hören. Darum ist ein
besonders Maß an Verantwortung für jede Darlegung gegeben, bei aller Zurückhaltung, die uns geboten erscheint.
Souveränität, so problematisch der Begriff in der heutigen Welt sein mag, in der der Nationalstaat nicht mehr in der Lage ist, sein Dasein aus eigenem heraus zu verteidigen, bedeutet vor allen Dingen die Kraft zu einer selbständigen Politik, zu einer Selbstverantwortung im politischen Raum. Wir haben unsere Interessen als Volk und Staat mit den Interessen des Friedens, mit den Interessen der anderen in Einklang zu bringen, um durch diese Synthese, durch diesen Einklang die von uns erkannten Ziele zu erreichen. Ich habe mit einem gewissen Bedenken die Darlegungen des Herrn Kollegen Ollenhauer angehört, in denen immer so selbstverständlich davon ausgegangen wurde, daß sich die großen Vier über den Status Deutschlands einigen müßten, daß vorab eine solche Einigung notwendig sei, ehe man überhaupt in den innerdeutschen Wiedervereinigungsprozeß eintreten könne. Gewiß, die Machtlage in der Welt dürfte so sein, daß Deutschland in der Gefahr steht - ganz Deutschland meine ich damit —praktisch einen Diktatfrieden auferlegt zu bekommen. Die Spanne, in der sich eine gesamtdeutsche Regierung überhaupt bewegen kann, dürfte also verhältnismäßig klein sein. Es liegt aber nicht im Interesse unseres Landes, diese Tatsache noch von uns aus zu unterstreichen. Unsere drei westlichen Bündnispartner haben in den Verträgen ausdrücklich zugestanden, daß über Deutschland und mit Deutschland ein Verhandlungsfrieden geschlossen wird. Das ist eine klare rechtliche Position, auf die wir uns berufen können. Meine Freunde legen großen Wert darauf, das heute festzustellen: Wenn man sich fragt, welchen Status Deutschland haben soll — ganz Deutschland, das Deutschland, das einen Friedensvertrag bekommt —, dann wird unsere Haltung die sein, daß die gesamtdeutsche Regierung im Wege der Verhandlungen zu einem Status ihre Zustimmung zu geben hat und daß niemand berechtigt ist, diesen Status schon vorab festzulegen und zu bestimmen.
Namens meiner Fraktion stimme ich den Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers zu. Es handelt sich zwar nicht um eine formelle Regierungserklärung, sondern um Ausführungen von einer besonderen Tragweite und Bedeutung. Ich darf sagen, daß unsere Zustimmung sich auf alle Punkte seiner Darlegungen bezieht. Meine Aufgabe als Sprecher meiner Fraktion ist es nun, zu begründen, warum wir seinen Ausführungen zustimmen.
Es ist klar, daß die Weltlage in Fluß gekommen ist. Das spüren wir alle. Gerade durch die Pariser Verträge ist eine merkliche Auflockerung, ich möchte sagen, der weltpolitischen Situation erfolgt. Man darf auch mit einem gedämpften Optimismus feststellen, daß ein Bemühen aller Mächte um eine Entspannung in der Welt zu erkennen ist. Ich bejahe diese Feststellung, soweit es sich um eine Entspannung mit dem Ziel des Friedens handelt, ich warne aber vor der Illusion und vor einer Art der Feststellung der Entspannung, die als Vorwand für ein Nachlassen in der Wachsamkeit dient. Das ist ein ganz erheblicher Unterschied.
Es ist heute viel über die Existenz der Machtblöcke und über die Notwendigkeit gesprochen worden, den Gegensatz dieser Machtblöcke, die sich in der Aufrüstung steigern, aufzulösen, um eine dritte Katastrophe in der Welt zu verhindern. Man muß sich aber auch darüber klar sein, wie es zu diesen Machtblöcken gekommen ist. Die Unordnung in der Welt und in Europa, die durch die zweite Kriegskatastrophe angerichtet worden ist, hat doch dazu geführt, daß ganz Osteuropa und praktisch auch Mitteleuropa in den Einflußbereich des Ostblocks geraten ist. Wenn man sich also fragt: was ist denn der Grund der Unsicherheit in der Welt und auf dem europäischen Kontinent — ich spreche nicht von Ostasien; Probleme, die mindestens die gleiche Gewichtigkeit haben —, was ist denn der Grund der Spannung?, so ist es doch die Tatsache, daß sich der von der Sowjetunion geführte Machtblock weit über die Grenzen der Sowjetunion erstreckt hat, bis in das Herz Europas hinein, bis in unser geteiltes Land. Der Machtblock des Westens, die Verteidigungsorganisation der Atlantikpaktstaaten ist ja kein Selbstzweck gewesen, kein Ding, das aus sich heraus entstanden ist, sondern ist eine Organisation der Abwehr, die notwendig geworden ist, nachdem alle Versuche einer Verständigung zwischen Ost und West, die seit dem Kriegsausgang von 1945 gemacht worden sind, gescheitert waren. Nachdem die Sowjetunion die Tatsache ihres eigenen Machtblocks mit der Integrierung Osteuropas und mit dem Versuch, ganz Deutschland zu integrieren und damit ganz Europa in ihren Machtblock zu integrieren, geschaffen hat, nachdem diese starre, bedrohliche Politik vom Ostblock aus geführt worden ist, kann man doch heute nicht sagen, daß durch ein Unterlassen jeder Gegenwehr, durch ein Aufgeben jeder Abwehrorganisation der Zustand der Sicherheit und der Entspannung erreichbar wäre. Man muß von den realen Tatsachen, die von der Sowjetunion selber in der Welt gesetzt worden sind, ausgehen: das sind ihr Block und ihre bisherige Politik der Bedrohung der Sicherheit in der Welt und vor allem auch hier in Europa.
Es ist gefordert worden, einen Verhandlungsplan zu machen. Ich bin überzeugt davon, daß man Verhandlungspläne hat; aber mit erdachten Entwürfen, sozusagen mit einer juristischen Relation, die im harmonischen Gefüge eines logischen Gedankengebäudes aufgebaut worden ist, kann man doch in solche Verhandlungen überhaupt nicht hineingehen, vor allen Dingen kann man das nicht in der Position, in der Deutschland steht.
— Mein lieber Herr Zwischenrufer, es gibt kaum etwas so Unlogisches und Überraschendes wie den Raum der Politik! Man muß sich da auf allerhand gefaßt machen. Wer das Gefühl für das Unberechenbare nicht hat, sondern glaubt, man könne sozusagen durch einen Aufriß einen geschichtlichen Ablauf bestimmen, der wird von der Geschichte schwer enttäuscht werden. Nehmen Sie es mir nicht übel: es ist eine alte Erbschaft des Marxismus, daß man glaubt, diese lebendigen Abläufe in einen solchen Aufriß bannen zu können. Ich glaube, darin liegt eine besondere Schwäche Ihres politischen Denkens.
Man hat in der Diskussion der letzten Wochen und Monate allmählich auf allen Seiten, bei allen Parteien eine ganze Preisliste für das aufgestellt, was man anzubieten hat. Ich befürchte, daß der Verhandlungsgegner sich aus dieser Preisliste das Passende heraussuchen wird und das formuliert, bis er schließlich für die Ziele, die er erreichen will, bloß einen Schleuderpreis zu bezahlen hat. Das ist
die Gefahr, in der wir stehen. Nun, ich glaube, daß nach dieser Debatte die Produktion solcher am grünen Tisch ersonnenen Verhandlungspläne zurückgehen wird.
Ich stimme auch durchaus dem zu, was die Opposition gesagt hat: daß zwischen Regierung und Parlament ein Kontakt vorhanden sein muß, daß das Parlament zu informieren ist und daß auch eine Regierung auf den Rat ihres Parlaments hören soll; richtig!
— Das ist kein starkes Stück, Herr Wehner; das haben Sie selber gesagt!
— Ich rede ja als Sprecher meiner Fraktion, und die notwendige Vorsicht, Herr Kollege Wehner, ist eine politische Pflicht, die wir in diesem Hause haben. Diese notwendige Pflicht ist gerade in außenpolitischen Debatten öfters gründlich verletzt worden.
Also sehr richtig gesagt: das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative ist so, wie es Herr Kollege Ollenhauer beschrieben hat. Aber ist denn das, was hier von der Bundesregierung in diesem Antrag und in der Interpellation verlangt worden ist, im Rahmen der Zuständigkeitsbereiche der Exekutive und der Legislative geblieben? Ist es zweckmäßig, daß diplomatische Instruktionen — etwas, was man früher mit besonderer Vorsicht behandelt hat; jeder Staat war glücklich, wenn er in den Besitz einer diplomatischen Instruktion seines Verhandlungspartners kam, denn damit war ihm sozusagen die ganze Verhandlungslast schon abgenommen — im Parlament besprochen oder in einem Ausschuß mitgeteilt werden? Soweit ich darüber aus den Quellen unterrichtet bin, wäre das ein völlig neuer Vorgang in der deutschen Parlamentsgeschichte. Etwas ganz anderes ist nötig — und das liegt auch im Interesse des Hauses und im Interesse der Regierung —: daß diese Verhandlungen zwischen Ost und West, die, wie wir alle so dringend hoffen, kommen mögen, von breiten politischen Überzeugungen in unserem Volk und in unseren Parteien getragen werden, damit die Regierung, die sich bei diesen Verhandlungen in der treuhänderischen Wahrnehmung der gesamtdeutschen Souveränität in einer schweren Verhandlungsposition befindet, sich jederzeit auf die breite politische Basis der öffentlichen Meinung im Volke berufen kann. Für uns Parlamentarier ist ja gerade die Aufgabe, diese breite Überzeugung durch ein möglichst klares Vertreten unserer Meinung hervorzurufen. Deswegen geht unser Appell immer wieder an die Opposition — wir werden darin niemals müde werden —, daß es in diesen grundsätzlichen Lebensfragen unseres Volkes eine Verständigung geben muß. Ich bin überzeugt — ich weiß nicht, was noch alles vor unserem Volke steht —, daß es sie eines Tages auch geben wird.
Die heutige Aussprache hat, so glaube ich, vieles zur Klärung der Standpunkte beigetragen. Aber wir sollten uns ganz einfach einmal klarmachen: Was heißt Verhandlungsplan? Was ist die positive Vorstellung, die wir für Verhandlungen zwischen Ost und West auf den Weg geben können? Verhandlungsplan heißt nichts anderes, als daß die Ziele einer Verhandlung festgestellt werden und daß man sich über das Unverzichtbare klar ist,
über das, was man nicht preisgeben kann. Dazwischen liegt der Raum des Kompromisses, und erst der Ablauf der Verhandlungen kann zeigen, wohin der Weg geht.
Vorhin wurde hier von einer ganzen Skala von Möglichkeiten gesprochen. In Wirklichkeit sucht doch die ganze Welt nach der einen realen Möglichkeit, nach dem einen beschreitbaren Weg der Entspannung zwischen Ost und West. Wenn dieser Stein der Weisen schon gefunden wäre, die ganze Welt würde glücklich sein! Alle sind doch auf der Suche, d e n möglichen Weg zu finden, und zwar aus einer uferlosen Menge von Vorschlägen und Phantasien. Zunächst kristallisiert sich ja doch noch nichts deutlich heraus. Es wird auch keinem in diesem Hause gelingen — auch der Opposition ist das nicht gelungen —, einen positiven Vorschlag, der die Entkrampfung zwischen Ost und West bringen könnte, zu entwickeln.
Übereinstimmung der Interessen zu suchen, ist die Aufgabe der Politik. Wir haben durch die Außenpolitik, die von der Koalition getragene Außenpolitik, die Übereinstimmung mit wichtigsten Interessen der Westmächte erreicht. Vor drei Jahren, ja, noch vor einem Jahre, selbst auf der Berliner Konferenz
war die Einmütigkeit der Grundanschauung über das Ziel einer solchen Konferenz der Entspannung und über das Unverzichtbare noch keineswegs so deutlich im Raume, wie das jetzt der Fall ist. Und dabei ist klar: Niemals können wir einwilligen in eine Entspannung, die auf der Grundlage einer friedlichen Koexistenz, auf der Grundlage der Teilung unseres Landes aufgebaut wird. Wir dürfen niemals in irgendein Konzept einwilligen, das zu Lasten der realen Sicherheit und der Freiheit unseres Landes geht.
Ein Wort lassen Sie mich hier einmal am Rande bemerken: Das infame Wort von dem angeblich satten Behagen der Bevölkerung oder der Verantwortlichen im Westen Deutschlands, dieses Wort ist ein Wort des Nihilismus. Hören Sie einmal, was die Feinde dieses freien Teiles Deutschlands alles gesagt haben, um dem deutschen Volk die Möglichkeit zu nehmen, gegen die Vergewaltigung durch den Bolschewismus aufzuschreien. In Wirklichkeit ist das alles ein Attentat gegen die Glaubwürdigkeit, gegen die Festigkeit und gegen die Willensstärke unserer Politik, wenn hier von einem satten Behagen gesprochen wird. Ich warne davor, sich gewissermaßen zum Helfershelfer böswilliger Kräfte durch die Aufnahme solcher Parolen zu machen, die letzthin darauf gerichtet sind, die Ernsthaftigkeit, die Willensstärke und auch die Herzenskräfte zu schwächen, von denen unsere Politik getragen wird.
Die Ziele sind klar. Die Grundlage des Friedens ist — und das sei in aller Deutlichkeit im Namen meiner politischen Freunde klargestellt — eine europäische Gemeinschaft. Nur eine europäische Gemeinschaft wird die Grundlage für eine wirkliche, auf die Dauer berechnete Friedensordnung in diesem Teil der Welt geben.
Ungeachtet dessen, daß es — nachdem mehrere
Versuche in dieser Richtung nicht die Erfolge gebracht haben, die man sich erhoffen konnte —,
Mode geworden ist, mit einer gewissen blasierten
Überheblichkeit über den Integrationsgedanken zu
sprechen, sind wir der Meinung: Das ist das Grundziel. Wir müssen eine Politik betreiben, die diese Integration möglich macht, und auch die Sowjetunion muß einsehen, daß diese Gemeinschaft zu gemeinsamem politischem, wirtschaftlichem, sozialem und finanziellem Handeln zusammengeschlossener Nationen eine Grundlage für die Neuordnung in diesem Teil der Welt ist. Wir lassen von diesem Ziel nicht ab.
Diese Integration beruht — ich möchte hier einmal ein Wort meines Kollegen Gerstenmaier wiederholen — auf der Integrität der Völker, der Nationen. Das ist ein Grundziel, das unverzichtbar ist.
Die deutsche Einheit ist zwar nicht die einzige Frage, die bei der Spannung zwischen Ost und West im Spiele ist; aber sie ist die wichtigste Frage für uns, wie es der Herr Bundeskanzler gesagt hat, und diese deutsche Einheit muß und wird die Grundlage des Friedens in Europa sein. Sie ist gewissermaßen die Voraussetzung einer Neuordnung Europas in diesem friedlichen Rahmen, den ich angedeutet habe.
Nun zur Frage des Sicherheitssystems, die uns so sehr beschäftigt und zu der die sozialdemokratische Opposition den konkreten Vorschlag eines kollektiven Sicherheitssystems im Rahmen der UNO gemacht hat. Ich bin der Auffassung, daß es im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht um die Frage der Auflösung der Machtblöcke geht, sondern daß es hier in erster Linie zunächst einmal um die Frage des Machtausgleichs zwischen diesen beiden Blöcken gehen muß.
Ich muß mich sehr deutlich von den Ideen eines Neutralitäts- oder sanitären Gürtels — oder wie man das alles bezeichnen mag - absetzen. Wenn man sich mit diesem Problem etwas intensiver beschäftigt und durchdenkt, wie denn die vertragliche Sicherung eines solchen sanitären Gürtels sein soll, dann erkennt man, daß alle diese Fragen, alle diese Vorstellungen der Neutralitäts- und Neutralisierungspolitik letzthin Vorstellungen aus einem Staatensystem und aus einer internationalen Ordnung sind, die der Vergangenheit, die dem 19. Jahrhundert angehören. Damals gab es die klassische Neutralitätspolitik. In dem Augenblick, in dem kriegerische Verwicklungen im weltweiten Rahmen ganzer Kontinente möglich werden, ja jeder Krieg die Eigenart hat, zu einem Weltkrieg auszuarten, seitdem es die Massenvernichtungsmittel gibt, die nur durch ungeheure Wirtschaftskräfte der am Krieg beteiligten Partner geschaffen werden können, seitdem die Gefahren der großen Katastrophe mit diesen Massenvernichtungsmitteln gegeben sind, seitdem kann es in dem Raume Europas und in der ganzen Welt echte, klassische Neutralitätspolitik oder auch einen cordon sanitaire gar nicht mehr geben. Das sind Vorstellungen der Vergangenheit.
Und denken Sie an den Versailler Vertrag! Was hat denn die osteuropäische Ordnung, was hat denn den Zusammenbruch unserer europäischen Ordnung nach sich gezogen? Es war das Schaffen eines Gürtels schwacher Staaten von Norden nach Süden hin, die dann eines Tages eine Beute der Sowjetunion geworden sind. Damit ist doch die europäische Tragödie eingeleitet worden.
Soll man heute denselben Weg der Pariser Vorortverträge gehen nur in morgenthauisierter Aufmachurig. Soll man immer wieder in dieselben Irrtümer verfallen? Wir fordern mehr, und es ist auch mehr notwendig, um den Frieden in der Welt zu sichern.
Die sozialdemokratische Opposition hat die Behauptung aufgestellt: Freie Wahlen plus einer NATO-Mitgliedschaft sei ein Programm gegen die Wiedervereinigung, d. h. also — den Schluß muß man daraus ziehen, Herr Kollege Ollenhauer -, freie Wahlen ohne NATO-Mitgliedschaft sei eine reale Möglichkeit. Das bedeutet also, Sie wollen auf den einzig realen Punkt Verzicht leisten, nämlich auf die Sicherheit, die nicht nur für Deutschland, für den mitteleuropäischen Raum, sondern für ganz Westeuropa gegeben ist und die vom Westen her als Notwendigkeit und Abwehr gegen einen nicht unerheblichen Druck aufgebaut worden ist. Ich halte das für außerordentlich gefährlich.
— Ich komme noch darauf, was ich hierzu ergänzend zu sagen habe. Ich halte es für außerordentlich gefährlich, diese realen Sicherheitsgrundlagen, diese Existenzgrundlagen für die Möglichkeit des Aufbaus eines Systems, das einen wirklichen Ausgleich zwischen Ost und West bietet, von vornherein preiszugeben.
Abgesehen davon ist gerade die NATO-Organisation, insbesondere wenn man sich mit ihrer inneren Struktur, ihrem politischen Hintergrund und den politischen Funktionen der einzelnen Organe der NATO eingehender befaßt, ein bisher einzigartiges Instrument, das in der Defensive sehr wirksam sein wird, aber für die Offensive gar nicht in Gang gesetzt werden kann. Deshalb sind alle die Befürchtungen, die man wegen des Machtgewichtes des mitteleuropäischen Raumes hat, unbegründet. Gerade ein Einbeziehen dieses mitteleuropäischen Raumes in die NATO und in ihren Funktionszusammenhang würde, ganz im Gegensatz zu der Ostblockpropaganda, ein ganz wesentliches Instrument sein, um die Möglichkeiten eines kollektiven Sicherheitssystems in der weiteren Entwicklung dieses Sicherheitssystems ins Auge zu fassen.
Die Angst vor der dritten Katastrophe ist kein genügendes Element der Sicherheit in der Welt. Augenblicklich beruht die Sicherheit in der Welt im wesentlichen auf der Angst und auf dem Risiko, daß eine Gewalttat die dritte Katastrophe auslösen könnte. Wir brauchen auch mehr als Deklarationen. Die zehn Gebote sind schon lange in der Welt. Trotzdem geschehen Verbrechen und größtes Unrecht. Die Anerkennung der Prinzipien von Tschu En-lai als Substrat, als Inhalt der gegenwärtigen völkerrechtlichen Ordnung ist etwas Gutes; wir sollten sie anerkennen. Ich könnte mir Konferenzen vorstellen, auf denen diese Prinzipien Grundlagen der Verhandlungen werden, um sie zu konkretisieren. Aber sie genügen ohne eine Konkretisierung und ohne Garantien nicht.
Ich möchte etwas, was in der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers enthalten war, als sehr wesentlich unterstreichen, nämlich seine Ausführungen über die Abrüstung. Im Hinblick auf die Existenz der nuklearen Waffen und der Massenvernichtungsmittel scheint mir tatsächlich eine zwingende Notwendigkeit gegeben zu sein, um eine konkrete Abrüstungspolitik treiben zu können. Ich möchte mich deshalb auch nicht mit einer an und für sich gebotenen Kritik an den sowjetrussischen Abrüstungsvorschlägenaufhalten. Diese Abrü-
stungsvorschläge enthalten zum Teil wesentliche Elemente des englisch-französischen Abrüstungsplanes vom Oktober 1954. Auf diesem Wege sollte mit zäher Geduld weiter verhandelt werden, solange es auch dauern mag. Bei der Abrüstung liegt das konkrete Programm, zu einem Machtausgleich zwischen den beiden Blöcken zu kommen, um damit, wenn die Sicherheit zuvor einmal hergestellt ist, langsam und vorsichtig zu einer Neuordnung vorzuschreiten, die eine dritte Katastrophe verhindert. Es ist bisher in der Geschichte noch kein kollektives Sicherheitssystem geschaffen worden, das wirksam gewesen ist. Vielleicht sind jetzt wirkliche Ansatzpunkte dadurch gegeben, daß es die Massenvernichtungswaffen gibt, und dadurch, daß die Erkenntnis in der ganzen Welt wächst, daß jeder Krieg eine Niederlage, eine Katastrophe für Sieger und Besiegte werden wird.
Sicherheitssysteme mit nachträglichen Sanktionen taugen nichts. Das hat Kollege Kiesinger schon klargemacht. Wir brauchen Sicherheitssysteme mit einer vorbeugenden Kontrolle. Und diese vorbeugende Kontrolle läßt sich bei gutem Willen und bei Anwendung höchster technischer Erfahrung in einem weltumspannenden Abrüstungsplan durchaus entwickeln. Das dürfte eines der Hauptthemen sein, die die nächsten Jahre beherrschen. Es handelt sich hier um realisierbare Dinge.
Lassen Sie mich noch ein Wort sagen, was weiter in ein solches System der Entspannung gehört. Wir müssen die Möglichkeiten der friedlichen Streitschlichtung noch ganz anders wahrnehmen und ausbauen. Wir leben heute nicht mehr in einer strategischen und machtpolitischen Situation wie bei den großen Friedenskonferenzen im Haag, als man das Völkerrecht zu kodifizieren versuchte. Wir leben auch nicht in der Situation des Völkerbundes., ja auch schon nicht mehr in der Situation, als man die Vereinten Nationen zu schaffen begann. Jetzt, wo es die wirklichen Massenvernichtungswaffen gibt, wo der Krieg, wie der Herr Bundeskanzler gesagt hat, nicht mehr .das Mittel der Politik ist, jetzt scheint es mir wahrhaft möglich, den Gedanken der friedlichen Streitschlichtung ganz realistisch weiter auszubauen. Das ist dann allerdings eine Aufgabe, in der die Vereinten Nationen mit den Aufgaben einer regionalen europäischen Gemeinschaft verzahnt werden können.
Aber vor allen Dingen kommt es darauf an, auch ein politisches System ins Auge zu fassen, das nicht nur eine Streitschlichtung, sondern eine Streitverhinderung vorsieht. Und da spielt das Rückgängigmachen des Deutschland durch seine Teilung angetanen Unrechts tatsächlich die wichtigste Rolle, wenn man wirklich Frieden und Entspannung will, um damit einen der gefährlichsten Streitpunkte in der Mitte Europas auszuräumen. Auf alles dies wird sich die Energie der Verhandlungen zu richten haben.
Herr Kollege Kiesinger hat gegenübergestellt: Entspannung durch Wiedervereinigung - ich habe etwas in diesem Sinne gesprochen — oder Wiedervereinigung durch Entspannung. Wissen Sie, das sind so Syllogismen, genau so wie man bei der Abrüstung nicht sagen kann, sie sei die Voraussetzung oder die Folge eines Sicherheits- oder eines Befriedungssystems. Sie ist beides zugleich. Dieser Weg der Entspannung, ein Sicherheitssystem aufzubauen, das nichtallein auf nachträglichen Sanktionen beruht, sondern durch vorbeugende Kontrolle, durch friedliche Streitschlichtung und durch den grundsätzlichen Machtausgleich
in der Staatenordnung aufgebaut wird, macht es erforderlich, in Parallellität alle Möglichkeiten auszunutzen, die zu diesem Ziel führen können.
Um aber diese Politik der Entspannung zu führen, haben wir in voller Vertragstreue zu bleiben. Das ist überhaupt nicht in Frage zu stellen. Die politische Dynamik, die in den Verträgen liegt, die ja nichts Konstantes sind — es sind politische Verträge, die sich von Tag zu Tag wandeln —, haben wir durch die schöpferische Konsequenz und Stabilität unserer eigenen Politik zu einem kraftvollen Instrument zu machen, damit das große Werk gelingt, die in Scherben gegangene Welt und das in Scherben gegangene Europa wiederaufzubauen und damit als Volk in Einheit und Freiheit unseren Frieden zu finden. Bisher ist nach unserer Auffassung nur eine aktive Wiedervereinigungspolitik geführt worden, die reale Politik der Koalition.