Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Rede mit besonderer Eindringlichkeit, ja mit beschwörender Kraft das Thema des Friedens und der internationalen Entspannung angesprochen. Wenn es einen Beweis dafür gibt, daß die Bundesrepublik ihre Souveränität wiedererhalten hat und daß sie als ein wesentlicher Faktor der internationalen Politik auf die Szene getreten ist, dann waren es diese Erklärungen des Bundeskanzlers. Es steht dem verantwortlichen Leiter der deutschen Außenpolitik wohl an, nachdem wir die Souveränität erlangt haben und am Beginn einer gemeinsamen Verteidigungsanstrengung mit der westlichen Welt, diesen beschwörenden Appell an die Welt und an die Adresse der Vereinigten Staaten zu richten, um zu zeigen, wohin die deutsche Außenpolitik wirklich will.
Dafür schulden wir ihm Dank, und er hat dabei unsere leidenschaftliche Zustimmung.
— Nicht nur meine persönliche, verehrter Herr
Zwischenrufer, sondern die leidenschaftliche Zustimmung, hoffe ich, dieses ganzen Hauses, aber
darüber hinaus ganz bestimmt des deutschen Volkes, das im übrigen in der letzten Zeit wieder sehr klar zum Ausdruck gebracht hat, zu welchem politischen Kurs es sich bekennt.
Wenn wir das Problem des Friedens und der internationalen Entspannung an die Spitze unserer Betrachtungen stellen, dann kommt uns allerdings mitunter das Gefühl an, daß wir uns in einem Teufelszirkel bewegen, den man nur schwer durchbrechen kann. Entspannung durch Abrüstung
— jawohl; aber Abrüstung setzt auch schon ein gewisses Maß an Entspannung voraus. Vorhin hat ein Zwischenrufer gesagt: „Zu Hause anfangen!" Ich hatte in der letzten Zeit den Eindruck bekommen, daß—Konzeption hin, Konzeption her —auch die Sozialdemokratische Partei sich bewußt ist, daß im Rahmen der kommenden Entwicklung nur ein entschiedener deutscher Defensiv- und Wehrwille helfen könnte.
Wir müssen uns, wenn wir diese Fragen: Abrüstung durch Entspannung, Entspannung durch Abrüstung, ins Auge fassen, noch einmal kurz daran erinnern, wodurch denn die Weltsituation, über die Herr 011enhauer sich so breit ausgelassen hat, entstanden ist. Die Situation des Kalten Krieges ist entstanden durch drei Dinge und nur durch sie: Erstens durch die Tatsache einer aggressiven Ideologie der Weltrevolution in der Sowjetunion, zweitens durch die sowjetische Aufrüstung nach 1945 und drittens durch die aggressive Expansion Sowjetrußlands nach diesem Kriege, bis tief nach Mitteleuropa hinein.
Das war die Politik seit 1945.
— Wollen Sie, Herr Wehner, bestreiten, daß nach dem Jahre — —
— Mein Weltgemälde werde ich Ihnen gleich noch deutlicher machen. Wollen Sie bestreiten, daß im Jahre 1945 die gesamte westliche Welt abgerüstet hat? Wollen Sie bestreiten, daß die westliche Welt im Gefolge von Jalta und Potsdam daran geglaubt hat, man könne dem Wort Sowjetrußlands vertrauen, daß die amerikanischen Mütter ihre Söhne nach Hause gefordert haben und daß es lediglich die aggressive Politik Sowjetrußlands gewesen ist, die den Zustand geschaffen hat, über den sich Sowjetrußland heute beklagt?
Wenn es wahr ist, daß die Crux der heutigen Lage das Vorhandensein amerikanischer Stützpunkte auch auf dem europäischen Kontinent ist, dann haben die Russen doch die Tatsache des Vorhandenseins dieser Stützpunkte sich selbst und ihrer Politik seit 1945 zuzuschreiben.
Im Jahre 1945 lag Hitler-Deutschland am Boden; Rußland hatte keinen Anlaß, sich gegen eine „aggressive kapitalistische Welt" zur Wehr zu setzen. Rußland hatte damals einzig und allein den Wunsch, im östlichen Europa, hineinfassend ins Herz Westeuropas, sich ein Glacis, eine Machtposition aufzubauen, entgegen den feierlichen Verspregungen, die es in Jalta und Potsdam den westlichen Alliierten abgegeben hat.
Aber ich verkenne durchaus nicht — Herr Wehner, ich habe Ihnen nur so geantwortet, weil Sie mir mit einer jener so beliebten Simplifikationen entgegentraten —, daß Rußland Gründe haben kann, mit Sorge an eine deutsche Wiederaufrüstung zu denken und dazu an eine im Rahmen der westlichen Welt. Aber man muß immer wieder eine betrübliche Feststellung machen. Man spricht vom sowjetrussischen Sicherheitsbedürfnis in Rückerinnerung an den Angriff Hitlers. Wann endlich wird man mit vollem Ernst von unserem eigenen Sicherheitsbedürfnis gegenüber Sowjetrußland reden?
— Ja,
und zwar werde ich genau darauf zu sprechen kommen.
— Lassen Sie mich einmal den Gedanken zu Ende führen, Herr Wehner. Die westliche Welt hat auf Sowjetrußlands Expansionspolitik mit ohnmächtigen Protesten geantwortet. Sie konnte nicht anders; denn sie hatte ja abgerüstet.
Nur ein Beispiel: Bei den sogenannten Friedensverträgen mit Ungarn, Rumänien, Bulgarien hatte die westliche Welt gefordert, daß wenigstens die Garantie der Menschenrechte und der demokratischen Freiheiten aufgenommen würde. Das ist geschehen. Dazu war Sowjetrußland bereit. Warum auch nicht?! Es kostete ja nichts. Und als es dann gebrochen wurde, dieses erneute feierliche Versprechen, stand Sowjetrußland und diesen überwältigten Nationen wiederum eine ohnmächtige freie Welt gegenüber.
Wir wissen doch, wodurch diese Expansionsbewegung Sowjetrußlands gestoppt worden ist. Doch nicht durch den guten Willen Moskaus! Erst seit Berlin, seit Griechenland, seit Korea, seitdem sich die westliche Welt zu einem Verteidigungsverband organisiert hat, ist diese Expansion zum Stillstand gekommen.
Sowjetrußland muß sich über sich selber beklagen, daß es mit neuen Parolen, mit freundlicheren Tönen in der westlichen Welt auf ein tiefes, kaum zu überwindendes Mißtrauen stößt. Sowjetrußland hat das Vertrauen der westlichen Welt darauf, daß man mit ihm leben, daß man sich auf sein Wort verlassen könne, durch seine Politik der Gewalt verspielt. Und nun handelt es sich darum, trotzdem mit ihm zu verhandeln.
Ich habe eben gefragt: Wann wird man ernsthaft von unserem eigenen Sicherheitsbedürfnis reden? Ernsthaft, Herr Kollege Wehner!
Sicherheit — das wurde bei einer der letzten Debatten gesagt — sei für uns gegeben — und Herr Kollege Ollenhauer hat es heute wiederholt —, wenn wir in ein System kollektiver Sicherheit mit Rußland hineingingen. Wollen Sie denn wirklich unsere Sicherheit erneut nur Verträgen, Pakten, Dokumenten anvertrauen, ohne jene realen Siche-
rungen geschaffen zu haben, die allein die Grundlage eines solchen Paktsystems sein können?
Sie tadeln die westliche Welt wegen ihrer Politik der Stärke und Sie fragen, ob diese Politik heute noch das Richtige sei, ob sich die internationale Situation nicht gewandelt habe. Nun, meine Damen und Herren, wollen Sie bestreiten, daß die heutige Situation nur erreicht worden ist, weil die westliche Welt in all diesen Jahren durch eine Politik der Festigkeit, der Einigkeit und, jawohl, der Stärke Sowjetrußland davon überzeugt hat, daß es mit den Mitteln schierer Gewalt nicht weiterkommt?
Sie sprechen davon, daß die Dinge in der Welt in Fluß geraten seien, Herr Ollenhauer. Sie haben den österreichischen Staatsvertrag erwähnt, die Warschauer Konferenz, was sich in Belgrad ereignet, die neuesten Abrüstungsvorschläge der Sowjetunion und das Angebot Chinas an die Vereinigten Staaten von Nordamerika zu direkten Verhandlungen in der Formosa-Frage. Welches sind denn die Gründe dafür, daß die Dinge in Fluß geraten sind? Betrachten wir es doch sine ira et studio!
Der österreichische Staatsvertrag: Zehn Jahre lang hat es gedauert, bis es zu dieser Lösung kam. Zehn Jahre lang hat sich Sowjetrußland geweigert, diesen Staatsvertrag abzuschließen, und Sie erinnern sich noch alle, wie die Dinge auf der Berliner Konferenz standen, wo Molotow trotz der westlichen Zugeständnisse nicht bereit war, diesen Staatsvertrag abzuschließen. Dann auf einmal, von einem Tag zum anderen — das ist ja sehr kennzeichnend für die sowjetrussische Politik —, ging es doch. Und warum? Als die österreichischen Unterhändler aus Moskau zurückkamen, da haben sie von Ihrer Seite großes Lob empfangen. Aber sie haben dieses Lob sehr rasch zurückgewiesen, wie auch Sie gelesen haben. Ich möchte Sie daran erinnern, daß es gerade das Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokraten, die „Wiener Arbeiterzeitung", gesagt hat: Hätten wir diesen Vertrag früher bekommen können? Nein! Wir haben ihn nur erreicht, weil und seitdem die Pariser Verträge ratifiziert worden sind.
— Ich rede dazu!
Belgrad! Wodurch hat Tito seine Politik — wie immer sie sich in der Zukunft gestalten möge, er wird nie wieder ein Satellit werden; das scheint mir sicher zu sein - betreiben können? Doch nur deswegen, weil er, gestützt auf die mögliche Hilfe der freien Welt, eine Politik der Festigkeit und der Stärke gegenüber Sowjetrußland getrieben hat.
Wenn die sowjetrussische Delegation nunmehr nach Belgrad geht, dann tut sie das nicht, weil dort ein de- und wehmütiger künftiger Satellit, sondern ein Mann sitzt, der weiß, worauf es in den
— Das ist eine andere Frage, Herr Mommer. Aber mit Sicherheit deswegen, weil Tito auf den Schutz der freien Welt rechnen konnte; denn was er gewagt hat — das werden Sie mir zugestehen —, hätte man in Warschau, in Prag, in Budapest und in Bukarest nicht wagen können, weil dort die Hilfe fern gewesen wäre.
Nun hat Herr Ollenhauer die Forderung aufgestellt: Entspannung durch Wiedervereinigung! Darin ist sicherlich ein richtiger Kern. Aber ebenso richtig ist die andere Formel — und darauf kam es dem Bundeskanzler in seinen Ausführungen wesentlich an —, die lautet: Wiedervereinigung durch Entspannung! Wir hören immer wieder von Ihnen, man müsse sich aus den beiden Blöcken heraushalten, man müsse sich einem Paktsystem anvertrauen. Meine Damen und Herren, bringt das Entspannung? Schafft das die Voraussetzungen für eine echte Lösung der deutschen Frage?
Herr Wehner, Sie haben in Ihren Ausführungen immer nur von der Wiedervereinigung geredet. Wir haben uns seit Jahr und Tag in diesem Hause darauf geeinigt, daß wir eine Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit wollen.
Herr Wehner, diese Formel enthält drei Forderungen. Vielleicht lassen Sie mich nun auch einmal
ruhig aussprechen, wie ich es bei Ihnen getan habe.
Drei Forderungen enthält diese Formel: die Wiedervereinigung, aber nur in Frieden und in Freiheit. Sie scheinen zu denken, Wiedervereinigung in Frieden bedeute lediglich die Anwendung friedlicher Methoden bei ihrer Durchsetzung. O nein, es bedeutet sehr viel mehr! Es bedeutet, daß sich eine wirkliche Entspannung in der Welt anbahnen muß, damit die Wiedervereinigung gelingen kann, und es bedeutet weiter, daß die Wiedervereinigung so geschehen muß, daß auch sie sich eingliedert in alle Anstrengungen, die dem dauernden Frieden auf dieser Welt dienen.
Das ist ein sehr viel größeres Programm. Sie meinen, Wiedervereinigung in Freiheit bedeute nur, daß dem deutschen Volke freie Wahlen zugesichert werden. O nein! Sie bedeutet, daß das deutsche Volk freie Wahl seines Standortes hat. Dazu haben wir uns noch in unserer letzten Entschließung zusammengefunden, als wir eine in ihren Entscheidungen freie gesamtdeutsche Regierung forderten. Und auch das ist noch nicht Freiheit. Freiheit des Standortes ist nur dem gegeben, der über die notwendigen Schutz- und Verteidigungsmittel verfügt, wenn ihm ein anderer diese Freiheit des Standortes bestreiten will.
Daher bedeutet Wiedervereinigung in Freiheit eben, daß im Zusammenhang mit ihr jene Realitäten, jene Verteidigungsgarantien, die nicht nur Pakte sind, geschaffen werden müssen, auf denen erst ein kollektives Sicherheitssystem aufgebaut werden kann, das dann nicht in der Luft hängt, sondern auf festem Grunde steht.
Hierin eben — sagen wir es doch ganz klar — unterscheiden wir uns. Das ist doch des Pudels
Kern. Sooft in diesem Hause in der letzten Zeit
über Sicherheit geredet worden ist, ist uns von
Ihrer Seite immer wieder gesagt worden, diese
Sicherheit bestehe darin, daß man durch ein System
kollektiver Sicherheit im Rahmen der Vereinten
Nationen einen Zustand der Entspannung schaffe,
bei dem es dann wahrscheinlich keinen Konflikt
mehr gebe. Aber das ist doch ein Zurückgehen zu
jenen unseligen Erfahrungen meinetwegen von
München, aber auch von Jalta und von Potsdam.
— Verehrter Herr Ollenhauer, ich finde gar nicht,
daß das übermäßig interessant ist. Es ist eine Banalität, denn wir wissen doch alle — und ich wünschte, Sie würden den Ernst dieses Gedankenganges anerkennen —, daß Sicherheit in dieser Welt wahrhaftig nicht nur eine Angelegenheit von Verträgen sein kann.
— Wir haben Verträge geschlossen, Herr Kollege Schmid, um sie zu verwirklichen; wir haben sie geschlossen, um jenen Verteidigungszustand zu schaffen.