Rede von
Anton
Storch
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sie haben heute eine Novelle zum Gesetz über die Arbeitsvermittlung und die Arbeitslosenversicherung vor sich liegen, einen Gesetzentwurf, der dringend notwendig geworden ist, weil sich die Verhältnisse seit der Schaffung dieses Gesetzes im Jahre 1927 wesentlich geändert haben. Damals ist man davon ausgegangen, daß dieses Gesetz eine Ergänzung der sozialen Gesetzgebung im allgemeinen sein sollte. Man hat eben das Risiko der Arbeitslosigkeit immer von einer normalen Zeit aus gesehen, damals für den Arbeitnehmer gesetzgeberisch durch eine Versicherung beheben und die Dinge in eine gesunde Ordnung bringen wollen. In der Zwischenzeit haben sich in Deutschland Dinge ereignet, die damals überhaupt nicht vorauszusehen waren. In der nationalsozialistischen Zeit hat man die Arbeitsverwaltung, die letzten Endes die Durchführung dieses Gesetzes in Händen hatte, zu etwas ganz anderem umgestaltet. Man hat durch die Einführung der Arbeitsbuchabteilung die Arbeitsämter mehr oder weniger zu Bezirkskommandos für Kriegswirtschaft umgestaltet, und man hat in der damaligen Zeit für die Arbeitslosenversicherung einen Beitrag erhoben, der nicht einmal mit 10 °/o den eigentlichen Aufgaben der Versicherung zugeleitet wurde. Alles andere war mehr oder weniger eine Sondersteuer der arbeitenden Menschen für die Kriegswirtschaft.
Wir haben zwar in der Nachkriegszeit diese nationalsozialistischen Bestimmungen im AVAVG wieder beseitigt, aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben daneben auch andere gesetzliche Bestimmungen bekommen, die das Recht auf diesem Gebiet sehr weit haben auseinanderlaufen lassen. Das waren zum Teil Gesetze, die durch die Länder, durch die Besatzungsmächte und auch durch den Bundestag erlassen worden sind. Wir müssen wieder, nachdem wir vor zwei Jahren die Bundesanstalt neu haben erstehen lassen, dafür sorgen, daß einmal diese Bundesverwaltung und darüber hinaus auch die Gerichte eine einheitliche feste Grundlage für ihre Entscheidungen in den Händen haben.
Die Fertigstellung des Entwurfs wurde mehrfach erheblich verzögert. Wir hatten damals, als die
Bundesanstalt ihren Dienst aufnahm, die Meinung, man sollte dieser Anstalt recht bald durch ein Reformgesetz einheitliche, verbesserte Arbeitsgrundlagen geben. Aber es kamen die verschiedensten Schwierigkeiten. Wir wollten zu dieser neuen Ordnung vor allen Dingen die Selbstverwaltungsorgane der Bundesanstalt hören. Wir wollten wissen, wie die Menschen, die das Gesetz draußen anzuwenden haben, darüber denken. Auf der anderen Seite hat es natürlich auch große Schwierigkeiten gegeben, weil namentlich der Bergbau zwar den Versicherungsschutz in Anspruch nehmen, aber beitragsfrei bleiben wollte. Diese Dinge haben wir nunmehr in der Gesetzesvorlage Ihnen und damit dem Parlament zur Beschlußfassung in dem einen oder anderen Sinne vorgelegt.
Ich möchte hier in aller Offenheit sagen: Das Gesetz ist im Interesse der Arbeitnehmer und der Verwaltung dringend notwendig. Von prinzipieller Bedeutung ist die Rolle der Selbstverwaltung auf dem Gebiet der Rechtsetzung. Es ist bemängelt worden, daß die Rechte der Selbstverwaltungsorgane der Bundesanstalt durch die Novelle eingeschränkt würden. Dieser Einwand trifft aber bestimmt nicht zu. Die frühere Reichsanstalt unterlag dem unbeschränkten Aufsichts- und Weisungsrecht des damaligen Reichsarbeitsministeriums. Die Aufsicht des Bundesministeriums für Arbeit beschränkt sich nach dem Gesetz über die Bundesanstalt jedoch darauf, daß Gesetz und Satzung beachtet werden. Sie erstreckt sich nicht auf rein fachliche und Ermessensfragen. Insoweit ist die Selbstverwaltung der Bundesanstalt wesentlich selbständiger, als die Reichsanstalt früher war. Daran ändert sich auch durch die Novelle nichts.
Die Arbeitsmarktpolitik und in diesem Zusammenhang auch die Sozialpolitik sind Aufgaben des Bundes. Die Durchführung des AVAVG muß im Einklang mit der Politik des Bundes stehen. Widersprechende Auffassungen würden letzten Endes das Ganze nur stören. Eine Koordinierung ist also unerläßlich. Da es an einem Weisungsrecht des Bundesministers für Arbeit fehlt, ist sie nur auf dem Wege von Rechtsverordnungen und von allgemeinen Verwaltungsvorschriften erreichbar.
Die verfassungsrechtliche Lage hat sich durch unser Grundgesetz gegenüber den Verhältnissen im Jahre 1927 grundsätzlich geändert. Nach dem Grundgesetz können Rechtsverordnungen nur im Rahmen des Art. 80 des Grundgesetzes durch die Bundesregierung herbeigeführt werden. Die Bundesregierung hält die Ermächtigung der Organe der Bundesanstalt zur Setzung von Normen grundsätzlich für zulässig. Der Bundesrat hat dagegen rechtliche Bedenken geäußert. Die Bundesregierung hat sich jedoch in ihrer Stellungnahme der Auffassung des Bundesrates nicht angeschlossen. Der Entwurf sieht die Ermächtigung der Organe der Bundesanstalt zum Erlaß von Bestimmungen und Verwaltungsvorschriften vor, behält sie aber der Bundesregierung oder dem Bundesministerium für Arbeit überall dort vor, wo allgemeine politische Gründe, arbeitsmarktpolitische Koordinierung oder fiskalische Interessen des Bundes dies erfordern. Soweit die vom Verwaltungsrat zu erlassenden Vorschriften an die Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit oder der Bundesregierung geknüpft sind, ergibt sich die Notwendigkeit hierfür aus den gleichen Erwägungen, insbesondere auch aus der Tatsache, daß der Bund die Arbeitslosenfürsorge und nach Art. 120 des Grund-
gesetzes etwa notwendig werdende Zuschüsse zur Arbeitslosenversicherung voll zu tragen hat.
Der in der Vergangenheit weit verstreute und völlig unübersichtlich gewordene Rechtsstoff wird durch die vorliegende Novelle im AVAVG wieder zusammengefaßt unter Einbau der Bestimmungen über Arbeitslosenfürsorge, Kurz arbeiterunterstützung, Unterstützung für Heimarbeiter und unständig beschäftigte Hafenarbeiter. Rund 90 Gesetze und Verordnungen des Reichs, des Bundes, der Länder und der Besatzungsmächte und eine große Anzahl von Einzelvorschriften fallen durch diese Novelle weg und werden durch ein einheitliches Gesetz ersetzt. Darin liegt ein großer Fortschritt. Die Novelle vereinfacht die Handhabung des Rechts, und die Behörden und die Gerichte haben wieder eine einheitliche Grundlage für ihre Entscheidungen. Rechtseinheit und Rechtssicherheit werden wiederhergestellt. Die Novelle dient damit den Interessen der Arbeitnehmer. Die zahlreichen sachlich nicht gerechtfertigten Rechtsunterschiede werden beseitigt. So wird unter anderem ein lange gehegter Wunsch der süddeutschen Länder auf Erweiterung des Personenkreises der Arbeitslosenfürsorge erfüllt und der Unterschied zwischen süddeutschen und norddeutschen Ländern beseitigt.
Der gesamte Rechtsstoff ist auf seine Übereinstimmung mit den internationalen Übereinkommen, auch soweit sie noch nicht von der Bundesrepublik ratifiziert worden sind, überprüft worden.
Arbeitsvermittlung, Berufsberatung, Lehrstellenvermittlung bleiben wie bisher Aufgaben der Bundesanstalt. Arbeitsvermittlung und Lehrstellenvermittlung können aber nichtgewerbsmäßig auch durch andere Einrichtungen und Personen betrieben werden, die auf Antrag durch die Bundesanstalt beauftragt werden können. Die Arbeitsvermittlung durch Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege, die nach dem Gesetz vom 9. Juli 1954 ihre Tätigkeit wieder aufnehmen konnten oder aufgenommen haben, bleibt aufrechterhalten.
Die Maßnahmen zur Förderung der Arbeitsaufnahme sind vor allem zugunsten der langfristig Arbeitslosen erweitert worden. Um die Unterbringung in Arbeit zu fördern, sollen Beihilfen zur Umschulung sowie für Maßnahmen zur Steigerung oder Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit der Arbeitslosen im Sinne einer beruflichen Rehabilitation bereitgestellt werden.
Die soziale Sicherung für den Fall der Arbeitslosigkeit wird in erster Linie durch die Arbeitslosenversicherung bewirkt, an der grundsätzlich festgehalten wird. Ergänzend tritt die Arbeitslosenhilfe hinzu, bisher Arbeitslosenfürsorge genannt. Diese Zweigleisigkeit des Schutzes gegen Arbeitslosigkeit ist bis auf weiteres unentbehrlich, solange als mittelbare Kriegsfolge eine Arbeitslosigkeit besteht, für die nach Dauer und Umfang die Arbeitslosenversicherung nicht ausreicht. Auch für Zeiten überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit wird die Arbeitslosenhilfe unentbehrlich bleiben. Allerdings kann angenommen werden, daß ihre Bedeutung infolge der großen Erfolge der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung und des Bundestages geringer wird und eine weitere Stabilisierung der politischen Lage ständig zu einer weiteren Abnahme der Bedeutung der Arbeitslosenhilfe führt.
In beiden Systemen geht die Vermittlung von Arbeit der Unterstützung vor. Das ist der wichtigste Grundsatz. Deshalb können nur Personen anspruchsberechtigt sein, die schon vor Eintritt der Arbeitslosigkeit Arbeitnehmer waren, aber auch künftig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als unselbständige Erwerbspersonen eine abhängige Erwerbsarbeit zu leisten gewillt sind. In beiden Systemen muß daher die enge organisatorische und rechtliche Verknüpfung mit der Arbeitsvermittlung beibehalten werden.
In der Arbeitslosenversicherung richtet sich die Versicherungspflicht zwar grundsätzlich nach der Versicherungspflicht zur Kranken-, Knappschaftsund Angestelltenversicherung. Das gilt auch für die Beitrags- und Leistungsgrenzen, die zuletzt durch ein Gesetz vom 13. August 1952 neu festgestellt sind. Der Personenkreis muß aber nach den Gesichtspunkten der Arbeitsmarktpolitik, der Solidarhaftung und des Schutzbedürfnisses neu abgegrenzt werden. Insbesondere sind Ausnahmen erforderlich, wo ein Schutzbedürfnis nicht vorliegt, wie z. B. bei dem auf Grund von langfristigen Arbeitsverträgen beschäftigten Arbeitnehmer in der Land- und Forstwirtschaft. Andererseits werden Personen, die heute noch bezirksweise versicherungsfrei sind, wie die Hausgehilfinnen, in den Versicherungsschutz einbezogen.
Für eine Bedürftigkeitsprüfung ist in der Arbeitslosenversicherung kein Raum. Die Pflichtarbeit als Voraussetzung für den Anspruch soll beseitigt werden. Die Solidarhaftung muß andererseits ein Schutz der Versicherungsgemeinschaft vor willkürlicher Arbeitslosigkeit und vor Mißbrauch der Leistungen sein. Nur so wird auf die Dauer der hohe Stand der Leistungen gehalten werden können.
In der Arbeitslosenversicherung wird der Beitrag nach dem Entgelt erhoben. Deshalb muß auch die Leistung in Beziehung zum Entgelt stehen. Die Leistungen der Arbeitslosenhilfe können, da sie aus allgemeinen Steuermitteln finanziert werden, in vergleichbaren Fällen in der Regel nicht die gleiche Höhe wie die der Arbeitslosenversicherung haben. Die Erhebung von Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung wäre andernfalls nicht gerechtfertigt. Den Versicherten müßte dies jedenfalls unbegreiflich bleiben.
In beiden Systemen müssen die Leistungen nach oben so begrenzt werden, daß der Arbeitswille nicht beeinträchtigt wird. Aus sozialen Gründen sind aber in beiden Systemen die Leistungen so gestaffelt, daß bei niedrigen Einkommen ein höherer Vomhundertsatz des Entgelts als Leistung gewährt wird, um ein Absinken des Lebensstandards zu verhindern.
Familienzuschläge sollen auch künftig gewährt werden, soweit sie nicht durch Kindergeld oder andere soziale Leistungen für die Angehörigen entbehrlich sind.
Die Unterstützungssätze sind zuletzt durch das Gesetz vom 23. August 1953 neu festgesetzt worden. In den höheren Entgeltsgruppen ergab sich daraus eine Erhöhung der Unterstützungen bis zu 35 %. Da für die Lebenshaltung des Arbeitnehmers nicht das Brutto-, sondern das Nettogehalt maßgebend ist, muß die Unterstützung, die ja ohne jeden Abzug ausgezahlt wird, mit dem Nettoentgelt verglichen werden. Bei einem derartigen Vergleich ergibt sich aber, daß die derzeitigen Unterstützungssätze bis auf wenige Ausnahmen 50 % des Nettoentgelts übersteigen und bei niedrigen Entgelten bis zu 90 % des vorher erzielten Lohnes erreichen.
Es darf auch nicht übersehen werden, daß die Unterstützungssätze infolge der Berechnung nach dem Entgelt der Lohnhöhe automatisch folgen. So erzielten am 31. August 1950 ungefähr 22 % der männlichen Arbeitslosen Unterstützungen nach dem Wochenentgelt von 60 DM und mehr. Am 31. August 1953 war dieser Prozentsatz auf 75,7 gestiegen.
Der Forderung ,der Gewerkschaften, Leistungen in jedem Fall von Arbeitslosigkeit — auch infolge von Arbeitskämpfen — zu gewähren, konnte nicht entsprochen werden, um ,die unbedingte Neutralität der Bundesanstalt bei Arbeitskämpfen zu gewährleisten. Der Entwurf übernimmt die seit 1927 bestehende bewährte Regelung, wonach Leistungen zur Vermeidung unbilliger Härten gewährt werden können, wenn die Arbeitslosigkeit mittelbar eine Folge von Arbeitskämpfen ist.
In der Arbeitslosenhilfe werden wie bisher Leistungen nur gewährt, wenn die Einkünfte des Arbeitslosen und seiner Angehörigen nicht ausreichen. Dem Angehörigen soll ein Beitrag zur Unterhaltung des Arbeitslosen zugemutet werden, da die Arbeitslosenhilfe aus Bundesmitteln finanziert wird; jedoch darf der Arbeitswille der Angehörigen dadurch nicht gelähmt werden. Die Berücksichtigung des Einkommens der Angehörigen darf auch nicht zur Zerreißung der Familie führen.
Die Arbeitsämter können nach ihrem Aufbau und ihren Aufgaben keine individuelle Fürsorge betreiben. Das ist die Aufgabe der öffentlichen Fürsorge. Die Gewährung individueller Sonderbeihilfen und Mietzuschläge, wie sie bisher in einem Teil des Bundesgebietes zulässig war, muß daher der öffentlichen Fürsorge überlassen bleiben.
Wie bisher ist ,der Arbeitslose gegen Krankheit versichert. Er wird künftig in der Regel Mitglied seiner bisherigen Krankenkasse bleiben. Zusätzlich werden die Arbeitslosen künftig gegen Unfall auf den vom Arbeitsamt veranlaßten Wegen zur Suche einer Arbeitsstelle versichert sein.
Wie Sie sehen, meine sehr verehrten Damen und Herren, bezweckt der Entwurf, dem eine ausgiebige schriftliche Sonderbegründung beigegeben ist, auf diesen Gebieten wieder einheitliches Recht zu schaffen und das Gesetz den heutigen Verhältnissen anzugleichen. Das AVAVG, das Arbeitslosenversicherungsgesetz, hat eben in den verschiedensten Zeiten verschiedenste Aufgaben zu erfüllen. Wir wissen, daß die Arbeitslosenversicherung in den dreißiger Jahren in Wirklichkeit kaum in die Lage versetzt werden konnte, durch Beiträge ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Hier haben wir ganz klar gesehen, daß das Risiko der Arbeitslosigkeit in seinem gesamten Umfange überhaupt nicht versicherungsmäßig erfaßt werden kann. Wir haben aber das System der Versicherung auch jetzt beibehalten, weil wir glauben, daß wir vor einer normaleren Zeit stehen. Wir wollen nicht, daß der Arbeitslose, wenn er seine Beiträge gezahlt hat, sich nachher einer Bedürftigkeitsprüfung unterziehen muß. Das wäre ein ganz falscher Weg, und dann dürfte man bei einem solchen Gesetz nicht mehr von einer Versicherung sprechen.
Ich weiß, daß alle die Probleme, die in dieser Novelle angesprochen werden, in diesem Hause eine sehr unterschiedliche Beurteilung finden werden. Das liegt in der Natur der Dinge und ist verständlich. Deshalb bin ich der Meinung, daß wir — Sie im Parlament und wir von der Regierung — uns bei den Beratungen dieser Novelle in den zuständigen Ausschüssen so zusammenfinden sollten, daß diese neue Ordnung draußen recht bald sichtbar und anwendbar gemacht wird.