Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fragen, die heute bei der Generalaussprache zur dritten Lesung erörtert werden, sind bereits seit dem Jahre 1951 diskutiert worden. Manchmal hatte man bei der Debatte den Eindruck, den das Ihnen sicherlich bekannte Bild von Paul Weber hervorruft, jene Gruppe von Menschen, die in einem sinkenden Boot sitzen und diskutieren. Ich glaube, es wäre gut, wenn wir endlich aus dem Kreislauf der Argumente, die im letzten ja nur die Geschichte beweisen kann, heraustreten könnten, um Neuland zu gewinnen.
Es gilt mit dem Beschluß, der heute zu fassen ist, einer Politik, die wir seit dem Jahre 1949 aufgebaut haben, den Schlußstein zu setzen. Die dritte Lesung bedeutet eine Zusammenfassung der Gesichtspunkte und die Bestimmung der Richtung und der Erwartungen, die wir an die Zukunft stellen. Ich möchte sie namens meiner Fraktion darlegen. Es geht bestimmt um eine Weichenstellung in der deutschen Geschichte, eine Weichenstellung zur Freiheit oder — was man ohne Übertreibung befürchten müßte — zum Untergang. Es geht um die Rettung des deutschen Volkes, für die zu arbeiten wir alle, die wir in diesem Hause sitzen, verantwortlich sind, eine Rettung des deutschen Volkes nicht nur im Westen, sondern vor allen Dingen auch in Mitteldeutschland. Ein Irrtum in der Politik ist fast niemals zu korrigieren. Sicher ist auch an dieser Frage keine Korrektur mehr möglich. Die Gewissensprüfung ist von allen vorgenommen worden. Die Verantwortung spüren alle. Aber wir haben die Pflicht zur Entscheidung, und unsere Entscheidung sollte Überzeugungskraft besitzen.
Meine Damen und Herren, ich möchte an den Anfang meiner Ausführungen, obwohl wir auf der anderen Seite des Hauses sitzen, doch einige Worte des Versöhnlichen stellen. Die Debatte hat herausgebracht, daß wir, Opposition und Koalition, es als eine gemeinsame Aufgabe begreifen, an einer konkreten Entspannungspolitik zwischen Ost und West und an der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zu arbeiten. Dies ist die gemeinsame Basis unserer Nation nicht nur im Westen, sondern auch im Osten. Das ist auch die Meinung der deutschen Arbeiterschaft, die am 17. Juni .1953 zur Aktion der Befreiung in ihrer Zone geschritten war.
Aber wenn dies unsere Basis ist, so erscheint es doch sehr fehlerhaft, wenn durch die Methoden der Agitation gegen unsere Entscheidung im deutschen Volke so eine Art Schuldkomplex erzeugt werden soll. Ich halte es für einen sehr gefährlichen Weg, so zu tun, als sei mit der Unterlassung einer Ratifikation dieser Vertragswerke alles gut und eine friedvolle Zukunft gesichert.
Ich habe vielmehr den Eindruck, daß die Politik der Sowjetunion die Widerstandsfähigkeit des Westens seit Jahren abtastet und vor allen Dingen auch uns Deutsche abtastet. Wenn hier nun der Puls schneller geht und eine Atmosphäre der Angstlichkeit erzeugt wird, dann ruft man damit geradezu Aktionen hervor, die man sonst von der anderen Seite unterlassen hätte,
dann nämlich unterlassen hätte, wenn man draußen auch das Gefühl für die Stabilität, die Sicherheit, Ruhe und Geschlossenheit unseres Volkes hätte. Die Methode der Volksbewegung, die man da versucht hat und die nach meiner Kenntnis bei weitem nicht diese Resonanz gefunden hat, wie immer behauptet wird, hat ihre großen Gefahren im Hinblick auf das Geschick der Allgemeinheit.
Ich darf an dieser Stelle mit der Erlaubnis des Herrn Präsidenten einen Brief aus der sowjetisch besetzten Zone verlesen, den mir der Kollege Mende freundlicherweise überlassen hat, damit in diesem Bundestag auch einmal eine der unterdrückten Stimmen zur Geltung kommt und nicht nur die Stimmen, die
— woher sie kommen, weiß ich nicht und kann ich nur vermuten — mit großen Mitteln gegen die Verträge vorgebracht worden sind. Hier schreibt ein junger Mensch von drüben:
Herr Mende,
— schreibt er —
ich habe Ihre Rede bei der ersten Lesung der Pariser Verträge über den NWDR, wenn auch unter großen Schwierigkeiten, gehört und habe mich riesig gefreut und mit vielen Gleichgesinnten darüber gesprochen. Ja, Sie haben recht! Wir hier in der Ostzone fiebern direkt auf den morgigen Tag und die folgenden Tage. Mögen doch die Verträge, und wenn auch nur mit geringer Mehrheit, angenommen werden!
— Es ist natürlich nur eine Stimme, aber sie wiegt für mich viel, weil die Stimmen ja nicht herauskommen können. —
Es dürfte Ihnen und vielen anderen Abgeordneten ja bekannt sein, wie hier in der Zone
aufgerüstet wird. In der Waggonbauanstalt . . .
— den Ort lasse ich mit Absicht heraus — werden in einer Halle Panzerspähwagen gebaut. Die Fenster sind über Mannshöhe angekalkt. Die darin befindlichen Arbeiter sind doppelt vereidigt worden und müssen in ihre Werkbücher einschreiben „Sonderwagenbau". In dem optischen Werk ...
— da und da —
werden Zielgeräte gebaut. Die Werbung zur kasernierten Volkspolizei ist jetzt besonders stark. Bei Annahme der Verträge in Bonn soll hier die allgemeine Wehrpflicht eingeführt werden. Die Ausbildung soll dann über die Neiße hinweg in Polen erfolgen, damit eventuelle Fahnenflucht unmöglich gemacht ist. Erst vor wenigen Tagen haben die Studenten eine Sache unterschreiben müssen, in welcher sie dem Staat Treue leisten und im Notfall sich auf unbegrenzte Zeit zur Verfügung stellen. Heißt das nicht Vorbereitung zum Krieg?.
— Dann heißt es weiter:
Lieber Herr Mende, zeigen Sie bitte diese Zeilen anderen Abgeordneten. Wir warten dringend von Bonn auf Hilfe. Vergeßt uns nicht und laßt uns nicht alle Kommunisten werden! Wir sind bald am Ende unserer Kraft und trösten uns nur noch gegenseitig.
Ein SOS-Rufender.
Man soll solche Stimmen nicht untergehen lassen nach dem Vielen, was vorgebracht worden ist, in dem gewissermaßen hier bei uns der Schuldkomplex erzeugt werden soll.
Aber worum geht es denn? Welches ist die Frage, wenn ich das fast am Abschluß unserer Debatte sagen darf?
Die These der Sozialdemokratischen Partei: Es soll vorher verhandelt werden. Ziel dieser Verhandlungen: ein Staatensystem in Europa zu schaffen, in dem ein wiedervereinigtes Deutschland frei von Militärbündnissen steht. Herr Erler hat ausgeführt, man könne die Lösung der Frage der Wiederherstellung der Einheit unseres Landes nicht auf kriegerischem Wege suchen. — Das will
niemand; klar, Einverständnis im ganzen Hause! Wir müssen es friedlich tun; also friedliche Mittel sind Mittel der Verhandlung. — Klar!
Nun ist die Frage so gestellt worden: Eine Einbeziehung in den Westen verneint die Sowjetunion; eine Einbeziehung in den Ostblock verneint der Westen. Also, so schließt Herr Erler, ein Drittes muß geschaffen werden:. Wir müssen frei werden von Militärbündnissen.
Das ist der Vorschlag. Nun die Prüfung unsererseits. Ist er möglich? Ich sage: nein! Deshalb nicht, weil eine solche Lösung uns militärisch isolieren würde. Das bedeutet, wie der Herr Wirtschaftsminister gestern klar ausgeführt hat, auch eine wirtschaftliche und politische Isolierung, weil in einem unstabilen Bereich auch auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet niemand ein Engagement übernehmen will. Ich halte das für absolut schlüssig.
Die Funktion, die der Vorschlag der Sozialdemokratie Deutschland zwischen Ost und West zugedacht hat, wäre, so darf ich hier kurz zusammenfassen, für Deutschland zu schwer. Sie könnte nur dann übernommen werden, wenn es gelingt, die Einheit Europas zu schaffen und auf der ,Grundlage dieser europäischen Einheit die konkrete Entspannung zwischen Ost und West in Gestalt eines Sicherheitssystems einzuleiten. Solange die Welt noch in Allianzsysteme aufgegliedert ist, ist eine Bündnislosigkeit, also das Nichtzugehören zu einer Allianz, wenn man in der Mitte eines Spannungsfeldes liegt, eine Isolierung.
Nur innerhalb von Allianzen läßt sich eine Sicherheit finden. Wenn Sie den sowjetrussischen Vorschlag analysieren, so werden Sie feststellen, daß er nichts anderes ist, als die Sicherheit innerhalb des Ostblockallianzsystems finden zu sollen, also Deutschland zu satellitieren.
Solange die Welt noch nicht umgestaltet ist — und sie ist im Begriffe, sich in größere integrierte Blöcke umzugestalten —, ist die Vorstellung einer militärischen Isolierung Deutschlands nicht durchführbar. Sie kommt dann auf das hinaus, was wir bisher als Neutralisierung bezeichnet und bekämpft haben.
Vielleicht stehen wir jetzt mit diesen Verträgen in der allerletzten Möglichkeit, zu einer Einigung Europas zu kommen. — Das ist die Schlüsselfrage für das europäische Sicherheitssystem —, vielleicht ist das die allerletzte Chance. Ich gebe hier der Hoffnung Ausdruck, daß diese Verträge nicht ein Ende, sondern ein Anfang sein mögen.
Ich gebe auch den Sprechern der Freien Demokratischen Partei recht, daß die Überspringung des Zustandes der integrierenden Kooperation, die jetzt von den Verträgen festgelegt worden ist, also der unmittelbare Übergang zur Supranationalität, zum vollintegrierten Zustand vielleicht nicht der richtige Weg war. Jedenfalls hat die Geschichte gezeigt, daß er nicht zum Erfolg geführt hat. In den Grundauffassungen war der Weg bestimmt richtig.
Ich bin zwar kein Mathematiker, aber an sich ein an der Mathematik interessierter Mensch. Ich will einmal ein Bild nehmen: Was ist denn ein Integral? Solange in einem Integral noch Restbestände sind, hat man eben das eigentliche Integral noch nicht. Es kommt doch auf diese Restbestände an, die, aus der nationalstaatlichen Epoche stammend, wirtschaftlich, sozialpolitisch und finanziell so schnell noch nicht aufzulösen sind. Daraus folgt die Forderung einer integrierenden Kooperation, aber doch mit dem Ziel, daß wir niemals aus den Augen verlieren dürfen, die Einheit Europas zu erhalten. Denn ohne diese Einheit geht dieser Kontinent mit seinen Nationalstaaten unter. Das ist nicht eine leere Behauptung, sondern das dürfte fast an einen Beweis herankommen.
Das ist die Schlüsselfrage für alles, auch zwischen
Ost und West, auch für die Einheit Deutschlands.
Deshalb komme ich dazu, der These der Sozialdemokratie, die gesagt hat, wir sollten die letzte Chance für Verhandlungen mit der Sowjetunion nützen, oder den Westen dazu aufrufen, daß diese Chance genützt werde, die These gegenüberzustellen: Es ist die letzte Chance für die Einigung Europas zu nützen, um auf dieser Grundlage zu einer Möglichkeit für wirklich sinnvolle Verhandlungen über eine Entspannung zwischen Ost und West zu kommen.
Ich glaube, daß wir damit in einem geschichtlichen Strom mitschwimmen. Denn Europa, seine Einigung, seine Zusammenarbeit ist eine Notwendigkeit, auch ohne Rücksicht auf den Druck, den die Sowjetunion ausübt.
Alle großen sozialen, technischen Fragen, Fragen der politischen Befriedung unter den Menschen im Massenzeitalter sind ja nur durch die Kraft großer Räume zu lösen. Die friedliche Bedeutung eines vereinigten Europas und seine wirschaftliche, ganz nüchterne Bedeutung auch für das Lösen der sozialen Fragen unseres Jahrhunderts — das sollte man viel mehr in den Vordergrund stellen als das, was natürlich auch dazu gehört, als den letzten Ernst der Dinge, die militärische Verteidigung.
Herr Kollege 011 e n h a u er hat heute etwas ausgeführt, was bei mir Bedenken hervorgerufen hat. Er hat die Entspannungspolitik in Ostasien, die von den Vereinigten Staaten von Amerika zweifellos getrieben wird, die Ergebnisse der Genfer Konferenz, Korea, Formosa in besonderer Weise hervorgehoben. Wenn er damit nichts welter zum Ausdruck bringen wollte, als daß Entspannungstendenzen oder der Wunsch nach Entspannung in der Welt vorhanden sind, könnte ich ihm zustimmen. Aber es ist doch sehr mißverständlich, und ich habe die Frage an die Sozialdemokratie zu richten: Diese Politik der Entspannung in Ostasien ist ja eine Politik der Entspannung auf der Grundlage der Teilung in Indochina, in Korea und jetzt auch in der chinesischen Frage. Wenn der Weg der Politik auch in Europa auf diesen Tatbestand der Entspannung auf der Grundlage der Teilung gehen sollte, so könnte ich seitens meiner politischen Freunde nur ein deutliches Nein demgegenüber zum Ausdruck bringen.
— Ich habe Herrn Ollenhauer eine Frage stellen wollen. Aber ich habe dafür Verständnis, daß er weitersprechen wollte. Man will eine Rede, ganz besonders, wenn sie eine gewisse — —
— Nein, das war nicht klar nach den Äußerungen, die er getan hat.
Noch ein zweiter Punkt, der der Klarheit bedarf. Es wurde gesagt, in der Molotow-Rede seien wesentliche Teile des Eden-Plans akzeptiert worden. Gesetzt den Fall, daß das geschehen ist, daß man die Worte des sowjetischen Außenministers vor dem Obersten Sowjet so zu verstehen hat, möchte ich aber doch die Frage steilen: Ist der Sozialdemokratie entgangen, daß die Grundlage der Verhandlungsbereitschaft der Sowjetunion heute noch immer die Note vom 3. März 1952 mit ihrem ganz klaren Potsdamer und Neutralisierungskonzept ist? Das ist doch 'das Entscheidende bei der ganzen Frage. Natürlich könnte die Sowjetunion ein Zugeständnis auf der Grundlage des Eden-Plans dann machen, wenn man einen Status Deutschlands nach dieser sowjetischen Note annimmt, weil es einen absolut sicheren Freiwechsel auf eine Sowjetisierung Deutschlands, auf eine Machtergreifung durch die SED bedeuten würde.
Dann schließlich auch: Was ist das eigentliche Ziel, das aus allen Plänen hervorgeht? Man will ein neutralisiertes Deutschland haben, um ein volksdemokratisiertes Deutschland zu gewinnen. Und dann steht in dieser Note von 1952 etwas sehr Wichtiges drin, was durch diese Vertragswerke jedenfalls überwunden wird. Es steht darin, daß die vier Mächte sich erst über einen Friedensvertrag und sein Konzept klarwerden und daß dieser Viermächtevertrag erst dann einer gesamtdeutschen, nicht gewählten Regierung zur Annahme vorgelegt werden soll, d. h. praktisch ein Diktat.