Rede von
Dr.
Erich
Mende
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Kollege Baade, über diese Frage läßt sich streiten. Aber Sie sehen drüben die Verwandten allzusehr aus ethisch-humani-
tärer Sicht. Wenn drüben ein Verwandter ist, der mit Waffengewalt hier einbricht, dann würde ich mich gegen ihn genau so zur Wehr setzen wie gegen einen Bruder, der morden will.
Wir haben doch die traurige Situation, daß man drüben in der Sowjetzone längst bewaffnet ist und Deutsche auf Deutsche am 17. Juni 1953 auch geschossen haben.
Ich darf noch zu einigen militärpolitischen Fragen Stellung nehmen, und zwar bezüglich des Aufbaues unserer Kommandoverbände und ihrer übergeordneten Stäbe und Institutionen. Es hat der vergangenen deutschen Armee seit Jahrzehnten eine gewisse Schwäche angehangen, nämlich eine allzu schematische Denkeinstellung zu den allgemeinen militärischen, erst recht zu den politischen Problemen. Das hat Stalin im Jahre 1941 sehr ausgezeichnet auswerten können. In seiner großen vaterländischen Rede im Jahre 1941 nach Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion erklärte Stalin unter anderem:
Die Deutschen sind nur gewohnt, ganz sicher zu handeln, wenn der Fall in ihren Vorschriften irgendwie geregelt ist. Werden sie dagegen vor Situationen gestellt, die sich nicht einrangieren lassen in ihr militärvorschriftliches Denkschema, dann werden sie unsicher.
Und Stalin sagte: ergo stellen wir die Deutschen vor Situationen, die nicht in ihren Vorschriften geregelt sind, und wir werden sie in große Unsicherheit und Verwirrung bringen. Und so war es. In den deutschen Vorschriften stand, daß Panzerangriffe bei Nacht schlechthin unmöglich sind. Die Russen griffen mit Panzern bei Nacht an und stießen tief in das Hinterland durch. Es dauerte Monate, bis an den Geschützen jene Justiereinrichtung auch für Zielen in der Dunkelheit angebracht war. In den deutschen Vorschriften stand, in dem tief verschneiten Rußland mit 1 m und noch mehr Schnee ist ein Bewegungskrieg im Gelände gar nicht möglich, allenfalls an Straßen und feste Plätze gebunden. In der Winteroffensive 1941 griff Stalin eben nicht auf Straßen und Plätzen, sondern im Zwischengelände an. Und siehe da, die damalige Armee Wlassow stieß im unbesetzten Zwischengelände bis tief hinter die deutsche Front vor. Wir müssen uns hüten, dieses allzu schematische Denken der Vergangenheit zu übernehmen, und müssen in Zukunft aus den Erfahrungen der Vergangenheit wesentlich wendiger werden.
Das bedeutet aber auch, Herr Kollege Blank, daß man bei der personellen Gestaltung Ihres künftigen Verteidigungsministeriums eine gute Mischung zwischen den früheren höchsten Stäben und der Erfahrung der Front durchführt. Wir haben den Eindruck, daß allzusehr die Theorie hoher und höchster Stäbe und etwas zu wenig die praktische Erfahrung des Frontsoldaten ausgewertet wird. Wir wissen doch, wie truppenfremd oft die Stäbe waren und wie sehr sich mit der Entfernung vom vorderen Graben nach hinten die Betrachtung der militärpolitischen Fragen ins Spekulative und Illusionäre verlagert hatte. Es war doch manchmal eine Welt, die zwischen der Lagebeurteilung des Frontkommandeurs und der des Obersten im Stabe einer Armee klaffte. Es ist auch nicht wahr, daß alle katastrophalen Fehlentscheidungen des zweiten
Weltkrieges nur dem „größten Feldherrn aller Zeiten", dem Gefreiten Hitler, zuzuschreiben sind. An diesen Fehlentscheidungen hat auch ein großer Teil seiner unmittelbaren Umgebung mitgewirkt. Man sollte also nicht das Prinzip aufstellen, daß, wer einmal im Oberkommando des Heeres oder der Luftwaffe oder der Marine gesessen hat, bei militärpolitischen Entscheidungen unfehlbar wäre. Sehr viele haben sich geirrt, nicht nur bei uns, auch — Gottlob — bei den anderen. Es empfiehlt sich auch, bei der personellen Betrachtung der künftigen Fachleute darauf zu achten, daß nicht wieder ein in manchen Stäben sattsam bekannter Militärsnobismus auftritt, der den Menschen nur als Material zu werten geneigt ist und für den mit dem Major im Generalstab überhaupt erst der satisfaktionsfähige Kamerad beginnt.
— Ja, den hat es auch gegeben. Wir haben ja alle unsere Erfahrungen gemacht, darüber habe ich im Dezember hier gesprochen.
Es wird daher sehr wichtig sein, unter welche politisch-parlamentarische Kontrolle diese Demokratie ihre Armee stellt. Ich habe schon in der ersten Lesung die Idee des Bundesverteidigungsrates erwähnt, jenes Beispiel aus der amerikanischen Praxis, den National Security Council, wo ein Rat die letzten Entscheidungen zu fällen hat. Ich glaube, es wäre gut, wenn eine solche Institution auch bei uns geschaffen würde, ein Bundesverteidigungsrat, in dem vielleicht der Bundespräsident oder der Kanzler der Vorsitzende wäre und dem dann die Minister des Innern, des Außern, für Wirtschaft, Finanzen und Verteidigung angehören sollten, erweitert um Vertreter aller Fraktionen; ja, vielleicht sollte auch der Verteidigungsausschuß mit stärkeren Rechten, etwa im Sinne des amerikanischen Verteidigungsausschusses, ausgestattet werden.
Die Frage des Oberfehls, der man bisher ausgewichen ist, wird nun ebenfalls zur Entscheidung kommen. Wir Freien Demokraten sind nach wie vor der Auffassung, daß die repräsentative Spitze einer Wehrmacht tunlichst aus dem parteipolitischen Streit herausgehoben sein sollte. Es kann nach unserer Auffassung diese repräsentative Spitze daher nur der Bundespräsident sein. Natürlich wird man gewisse kommandomäßige Rechte, die früher der Oberbefehlshaber hatte, auf den Verteidigungsminister verlagern müssen. Das Problem der höchsten Kommandogewalt ist durch die Integrierung in die Westeuropäische Union und NATO ja ohnehin anders geregelt als zu früheren Zeiten.
Wir werden auch überprüfen müssen, ob nicht eine gewisse Änderung des Grundgesetzes notwendig ist durch den kolossalen Machtzuwachs, den die Exekutive durch eine Wehrmacht erhält. Als Parlament sind wir heute kaum noch in der Lage, die Exekutive zu kontrollieren. Wir wissen doch — und das ist ein Übel in allen demokratischen Staaten —, wie die gesetzgebende Körperschaft immer mehr und mehr zur Funktion der Exekutive degradiert wird und daß wir nicht einmal den bescheidensten Apparat der Gesetzgebungshilfe haben, wie er beispielsweise in den Vereinigten Staaten so großzügig eingerichtet ist. Um wieviel schwerer wird es sein, eine parlamentarische Kontrolle über eine Armee auszuüben! Vielleicht ist es zweckmäßig, das Grundgesetz dahingehend umzugestalten, daß
der Verteidigungsminister, aber vielleicht sogar alle Minister
der Kontrolle des Parlaments unmittelbar unterstehen.
Wir haben es doch unlängst erlebt, daß sich im Falle irgendwelchen Versagens eines Angehörigen eines Ministeriums nicht der Minister selbst, wie beispielsweise in England, zu verantworten braucht, sondern nach der jetzigen Konstruktion des Grundgesetzes segeln die Bundesminister im Kielwasser des Regierungsschiffs, und die starke Position des Regierungschefs bringt es mit sich, daß ihnen nichts geschehen kann und damit eine unmittelbare Kontrolle eines Ressorts gar nicht mehr möglich ist. Soll das auch beim Verteidigungsministerium der Fall sein? Die Erwägungen und Anregungen, wie sie in einer dankenswerten Schrift Ihres Assistenten, Herr Kollege Arndt, anläßlich eines Vortrags vor der Hochschule für Politik in Berlin niedergelegt wurden, sollten aufgegriffen werden, um in der Umkonstruktion des Grundgesetzes jene Gewaltenteilung und jene Kontrolle zu schaffen, die der Demokratie dienlicher ist als die Fortsetzung der gegenwärtigen.
Es wird auch zweckmäßig sein, jetzt schon offen zu erklären, daß gewisse Praktiken bei der Regierungsbildung nicht auch für die Besetzung der hohen Kommandostellen gelten sollen. Ich meine hier das Gewohnheitsrecht, das sich leider allmählich hier in Bonn entwickelt hat, daß gewisse Positionen nach konfessionellen Quoten verteilt werden müssen. Wenn das eines Tages auch auf die hohen Kommandostellen der Armee übergreift, dann ist bereits im ersten Stadium in die Armee der Keim konfessioneller Zerrissenheit gelegt.
Das Anliegen aller Stellen sollte es doch sein, die Gemeinsamkeit als das höchste Ziel aufzufassen. - Herr Kollege Kunze, Sie wissen, wie lange es dauerte, bis wir einen Bundespostminister hatten, weil er drei Forderungen erfüllen mußte, was sehr schwer war: er mußte der CSU angehören, er mußte aus Bayern stammen und mußte auch Protestant sein.
— Herr Kollege Stücklen, es ist bei manchen Bayern sehr schwer, festzustellen, woher sie stammen, wenn zum Beispiel Herr Jaeger mir übelnimmt, daß ich sage, er sei in Berlin geboren, weil er sich als Bayer fühlt. Ich bin sehr vorsichtig; ich weiß, daß nicht alle Bayern aus Bayern kommen; es gibt auch viele Bayern, die aus Preußen stammen.
Meine Damen und Herren, darf ich noch zum Schluß einige Sätze auf ein Spezialthema verwenden, das mit der psychologischen Seite des Verteidigungsbeitrages eng zusammenhängt: die Frage der Kriegsverurteilten. Wir haben die Hoffnung, daß das Kriegsverurteiltenproblem sich endgültig löst, wobei ich betone, daß ich nicht für diejenigen spreche, die Verbrecher im wahrsten Sinne des Wortes sind, weil sie ohne die Not des Krieges zu Sadisten geworden sind. Ich spreche für jene, die
durch die Not und durch die besonderen Ereignisse des Krieges in Handlungen verstrickt wurden, für die sie mindestens jetzt, 10 Jahre danach, eine mildere Beurteilung verdienen als vielleicht im Jahr ihrer damaligen Verurteilung.
In den vergangenen Jahren sind neun Zehntel der Inhaftierten entlassen worden. Ich hoffe, daß man auch bezüglich des letzten Zehntels eine Regelung findet. Ich bitte, die Einrichtung der Gnadenkommissionen, die sich bei uns bewährt hat, auszudehnen auf ein deutsch-niederländisches Abkommen und auf eine deutsch-französische Gnadenkommission bezüglich der noch in Frankreich Inhaftierten, weil die jetzige gemischte Kommission lediglich für die in Deutschland Inhaftierten Kompetenz hat.
Nicht nur bei uns, auch im Ausland selbst erheben sich immer mehr Stimmen, man solle das Problem abschließen. Eine Gemeinschaft von acht Professoren des Staatsrechts und der Kriminologie in Holland hat Anfang November vorigen Jahres in der „Niederländischen Juristischen Wochenschrift" einen Aufruf veröffentlicht. Mit diesem Aufruf befaßte sich am 12. Januar der „Nieuwe Rotterdamsche Courant" und am 18. Januar der „Telegraaf", ebenfalls eine niederländische Zeitung. Der „Telegraaf" schloß seinen Artikel:
Wir sprechen die Hoffnung aus, daß die erste Kammer des Justizministeriums gelegentlich der Behandlung des Etats einen Anlaß finden wird, mit Kraft auf eine Gnadenführung zu drängen, die an diesem Tage, soweit möglich, einen Strich unter die Vergangenheit setzt.
Wir können diesen Wunsch nur vollinhaltlich teilen. Selbst auf die Gefahr hin, von der „Basler Nationalzeitung" wieder als Nationalist bezeichnet zu werden, weil ich mich um die Kriegsverurteilten- und Kriegsgefangenenfrage besonders bemühe, mußte ich das hier darlegen. Es empfiehlt sich jedoch vielleicht, Herr Bundesinnenminister, auch bei der Bundeszentrale für Heimatdienst und ihren jetzigen Mitarbeitern — über Namen werden wir nachher sprechen — die Auffassung durchzusetzen, daß die Parlamentarier, die sich hier um eine Lösung des Problems bemühen, nicht an Stelle einer Kollektivschuld eine Kollektiv u n schuld setzen wollen, sondern daß es ihnen um die individuelle Regelung eines jeden Falles ,geht. Wir wollen nicht, daß unsere Bemühungen hier sogar von Angehörigen der Bundeszentrale für Heimatdienst so mißdeutet werden, wie es leider in einem Falle in der Öffentlichkeit geschehen ist.
Ich darf noch die Hoffnung ausdrücken, daß auch die Genfer Konvention für die noch Inhaftierten mehr beachtet wird, als das bisher geschehen ist. Zu uns kommen leider bedauerliche Nachrichten von einer Verschlechterung der Zustände beispielsweise im Gefängnis in Werl.
Da ich die „Basler Nationalzeitung" und ihr Urteil, Nationalist zu sein, nicht scheue, auch noch einige Bemerkungen zu dem Problem der Behandlung der Waf fen-SS. Die Waffen-SS ist damals kollektiv als eine Verbrecherorganisation verurteilt worden. In einem Rechtsstaat sollte man nicht Kollektivurteile fällen, sondern es gilt die individuelle Verurteilung des einzelnen, und man sollte einmal prüfen, ob die noch 300 000 oder 400 000 Überlebenden dieses Teils der Wehrmacht von dem Dienst in der neuen Wehrmacht ausgeschlossen
bleiben sollen oder ob nicht auch hier die individuelle Prüfung gerechtfertigt ist, die Prüfung in jedem einzelnen Falle.
Lassen Sie mich noch anfügen: Man sollte auch bei den alten Bezeichnungen bleiben. „Landstreitkräfte", „Seestreitkräfte", „Luftstreitkräfte", „allgemeine Streitkräfte", — Herr Kollege Blank, das klingt mir zu sehr nach Streit. Müssen wir denn alle dreißig Jahre die Firmenbezeichnung ändern? Bleiben wir bei der „Wehrmacht", deren Silbe „Wehr" aus dem allgemeinen „abwehren" des deutschen Sprachgebrauchs kommt: „Notwehr", „die Wehre", „Wehrgeld". Bleiben wir bei der „Wehrmacht" und nennen wir die drei Teile schlicht und einfach „Heer", „Marine" und „Luftwaffe", suchen wir nicht unbedingt schon wieder nach neuen Firmenbezeichnungen, in denen sich am Ende niemand mehr auskennt.
Da Herr Kollege Kiesinger auf die wichtige Frage der Entwicklung in der Sowjetzone bezüglich eines dort getriebenen Mißbrauchs mit dem Preußentum vergangener Art hingewiesen hat, darf ich — die „Basler Nationalzeitung" möge es mir verzeihen, auch dieses Hobby hat sie gestört — mit einem einzigen Satz auf Preußen zu sprechen kommen. Allerdings liegt eine Gefahr darin, daß Ulbricht bei seiner Rede zum 140. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig am Völkerschlachtdenkmal erklärte, man müsse wie seinerzeit Yorck von Wartenburg bei Tauroggen handeln. Damals sei es darum gegangen, Preußen und Deutschland mit Hilfe Rußlands vom napoleonischen Joch zu befreien; heute gehe es darum, Deutschland mit sowjetischer Hilfe von Eisenhower und Adenauer zu befreien. So Herr Ulbricht. Allerdings: eine gefährliche Befreiungsthese. „Befreiungen" haben ja überhaupt manchmal eine etwas eigenartige Begleiterscheinung. Sie pflegen meistens bei der Befreiung von der Armbanduhr zu beginnen und enden oft bei der Befreiung von der Freiheit, wie es die Sowjetzonenbevölkerung ja sehr deutlich erlebt hat.
Wir glauben, daß Herr Kiesinger an Oswald Spengler gedacht hat, an jene Gedankengänge, die in Oswald Spenglers Schrift „Preußentum und Sozialismus" niedergelegt sind. Herr Kollege Kiesinger, wir tragen aber zu dem Mißbrauch Preußens drüben bei, wenn wir unsererseits nicht anerkennen, daß auch Preußen in seiner Geschichte Licht und Schatten hatte und daß es nicht angeht, dreihundert Jahre preußischer Geschichte einfach durch einen alliierten Kontrollratsbefehl Nr. 46 streichen zu wollen.
Um vor allem hier im Rheinland nicht allzusehr, zumal als ehemaliger Schlesier und damit auch „erstes Opfer preußischer Befreiung" unter Maria Therisia, kritisiert zu werden, berufe ich mich bezüglich eines Abschlußurteils über Preußen - der Herr Bundeskanzler lächelt; ich habe wirklich das Rheinland insgesamt gemeint, Herr, Bundeskanzler! — hier auf keinen Geringeren als auf Stresemann, der am 8. Oktober 1919 in der 93. Sitzung erklärt hat:
Es ist nicht richtig, daß diese Ideen des alten Preußen zusammengebrochen sind. Nein, das alte Preußen, das mit seinem Beamtentum sich zu Größe durchhungerte, war meiner Meinung nach ein Sinnbild der Pflichterfüllung, das
der Welt ein leuchtendes Vorbild war. Zusammengebrochen ist Neudeutschland mit seinem Materialismus der schnell reichgewordenen Bourgeoisie. Dieses neue Deutschland war aber nicht das alte Preußen, das hier gerade in der strengen Auffassung des Pflichtbewußtseins nicht Gegenstand des Angriffes, sondern Gegenstand des Vorbildes sein soll.
So weit Stresemann. Ich persönlich wünschte mir für unseren heutigen Staat und für die Demokratie einen Bruchteil der Bereitschaft zum Dienen für eine Gemeinschaft, wie sie in Preußen üblich war, und eine entsprechende Verringerung der gegenwärtigen Neigung zum Verdienen an der Demokratie an Stelle des Dienens für den Staat.
Ich darf zusammenfassen; ich sehe, daß ich die Zeiten des Herrn Kollegen Erler und des Herrn Kollegen Strauß noch lange nicht erreicht habe.
— Meine Uhr hat man mir damals nicht weggenommen. Ich habe noch keine Stunde und 40 Minuten gesprochen, wie Sie sehen können.
Herr Kollege Erler hat die Frage aufgeworfen, ob nicht die Explosion der zwei Wasserstoffbomben die klassischen Waffen schlechthin überflüssig gemacht habe. Sind deutsche Divisionen durch die Atombomben nicht nebensächlich, überhaupt überflüssig? Wenn dem so wäre, dann wunderte es mich, warum die Sowjetunion ihre klassischen Divisionen bei sich selbst in der Roten Armee und bei den Satellitenstaaten weiter ausbaut und aufrüstet. Es kann also nicht so sein, daß die Wasserstoffbombe die alte klassische Bewaffnung überflüssig gemacht hat.
— Herr Kollege Eschmann, im Jahre 1935 waren Sie schon Berufssoldat, ein Jahr früher als ich. Darf ich Ihnen die Schrift des italienischen Generals Douhet in Erinnerung rufen, die er damals über den Luftkrieg geschrieben hat. Darin hat er ein schauerliches Bild entworfen, daß der Luftkrieg in wenigen Wochen zur Zerstörung so großer Gebiete führen würde, daß man praktisch von einem klassischen Krieg gar nicht mehr würde sprechen können. Nun, wie war die Entwicklung, im Gegensatz zu dem, was General Douhet 1935 geschrieben hat? Die Angloamerikaner haben über Westdeutschland und den besetzten Gebieten 2 Millionen Tonnen Bomben abgeworfen, also ein Vielfaches dessen, was Herr Douhet sich damals überhaupt hat vorstellen können. Während damals noch das Höchstgewicht einer Fliegerbombe 250 kg war, ist es im zweiten Weltkrieg auf 5000 kg gesteigert worden, und die Bombenlast, die auf eine einzige Großstadt Deutschlands abgeworfen wurde, erreichte manchmal 6000 t in einem Angriff. Über England sind insgesamt 75 000 t Sprengstoff durch deutsche Flugzeuge und V-Waffen abgeworfen worden. Die Engländer haben — auch das, Herr Eschmann, gerade zu Ihren Einwendungen — 22 000 Flugzeuge verloren, die Amerikaner 18 000 Maschinen, mit insgesamt 158 000 Mann. Die deutsche Luftwaffe hat rund 100 000 Flugzeuge, genau 94 500, mit insgesamt 300 000 Toten und Vermißten ver-
Loren. Ich nenne Ihnen diese Zahlen, um Ihnen eine Vorstellung von der Ausweitung des Luftkrieges des zweiten Weltkrieges zu vermitteln.
Natürlich hat der Luftkrieg eine entscheidende Wende in der Kriegführung gebracht. Die Beherrschung des Luftraumes war die erste Forderung für das Gelingen strategischer und taktischer Operationen. Aber der Luftkrieg hat trotz dieses Ausmaßes die klassische Bewaffnung und die klassische Form des Kampfes nicht überflüssig gemacht,
und das gleiche ist auch von den Atomwaffen zu sagen. — Die Strategie ist nicht überholt, sondern die Strategie wird sich, wie immer, den veränderten Verhältnissen eben anpassen müssen, d. h. die Verbände werden wesentlich verkleinert, die Räume werden noch leerer werden als im zweiten Weltkrieg, d. h. die Tiefe wird noch größer werden; und wenn Herr Kollege Erler sagt, man könne nur das gesamte Deutschland verteidigen, so ist das falsch. Selbst Europa ist für eine nachhaltige Tiefenverteidigung bereits zu eng, um wieviel mehr erst Deutschland!
Die Verluste der Zivilbevölkerung und die Zahl der gesamten Opfer des zweiten Weltkriegs brauche ich im Zusammenhang mit der Zitierung der Überschätzung des Luftkriegs durch den italienischen General Douhet aus Zeitmangel nicht mehr bekanntzugeben.
— Als Sie jetzt den Zwischenruf „Witwen" machten, da kam mir wieder einmal zum Bewußtsein, welch falsche Alternativen und welch terrible Simplifikation doch immer wieder möglich sind. Wir sprechen hier über militärpolitische Fragen. Daß wir alle nicht wollen, daß unsere Überlegung eines Tages Realität werde, daß wir alle weder die erste Schlacht ostwärts der Weichsel noch die letzte westlich der Pyrenäen schlagen wollen, das dürfte doch Überzeugung des gesamten deutschen Volkes sein, und darüber braucht man gar nicht zu streiten. Aber an wem liegt es denn, ob sie geschlagen wird oder nicht? Am wenigsten an uns, am ehesten an der Entscheidung in Moskau und in Washington. Ich frage Sie: wann haben wir wohl eher die Chance, mit beizutragen, wenn wir uns außerhalb aller Institutionen halten oder wenn wir im Atlantischen Rat, jenem höchsten politischen Gremium, auch unsere Stimme erheben und unsere Sorgen ebenso zum Ausdruck bringen können, wie es England in der Vergangenheit in ähnlichen Situationen getan hat?
Wer nicht dabei ist, hat keine Chance, mitzubestimmen. Und ich sehe daher gerade im Beitritt zum NATO-Pakt, in der Mitbestimmung im Atlantikrat die größte Chance, zu verhindern, daß es neue Witwen gibt.
Ihren Zwischenruf „Standing Group" will ich ebenfalls beantworten. Ich erinnere mich, daß Sie 1950 den Beitritt zum Europarat abgelehnt haben mit der Bemerkung: Wir werden nicht im Ministerrat vertreten sein. Sechs Monate später waren wir Vollmitglieder des Ministerrats. Ich bin überzeugt, auch wenn wir jetzt nicht Mitglied der Standing Group sind, werden wir bald Mitglied werden,
trotz der englischen Kritik. Wir müssen eben warten, bis das reift, wie seinerzeit beim Europarat. Die Standing Group — Herr Kollege Eschmann oder Herr Kollege Erler, lassen Sie sich das sagen — ist im übrigen nicht das entscheidende Gremium. Das entscheidende politische Gremium ist der Atlantische Rat, das entscheidende militärische ist der Militärausschuß, in dem der deutsche Fachmann gleichberechtigt mit den anderen Fachleuten sitzt.
Ein Zweites: Sie reden draußen von der „Verbrannten Erde". Natürlich würde uns eine furchtbare Katastrophe treffen, wenn es den Casus belli gibt. Aber auch hier frage ich Sie: Wann haben wir wohl mehr die Chance der Rücksichtnahme auf unseren Boden, wenn die Strategie der NATO bei der Planung und Bewegung ihrer Verbände auf die Existenz von 500 000 deutschen Soldaten und ihre Angehörigen Rücksicht nehmen muß oder wenn sie ohne die Deutschen mit dem deutschen Boden schalten kann, wie sie will?
Es gibt noch einen dritten Fall. Man hat mir in Amerika gesagt — Herr Wienand, auch Sie haben Amerika erlebt —: Wenn wir nicht mit euch Schulter an Schulter in der Lage sind, in einer ohnehin schlechten Ausgangsposition an Elbe und Werra noch das restliche Europa zu schützen, wenn ihr also nicht mittut, dann müssen wir andere Wege finden. um das Potential der Ruhr auszuschalten. Mir ist daher das Mittun, mit der Chance, daß es nicht dazu kommt, doch wesentlich sympathischer als das ,.Ohne mich", das ..Ohne uns", auf das zwangsläufig dann das „Ohne euch" der NATO-Strategie folgen müßte.
Wir sind dagegen der Meinung, daß der Friede dann am ehesten gesichert ist, wenn man nicht „Ohne mich" sagt, sondern wenn man die Bereitschaft zu erkennen gibt, selbst unter den gegenwärtigen leider nicht günstigen Umständen seinerseits zur Erstarkung der freien Welt beizutragen. Wir glauben — ich wiederhole es —, daß der Friede am ehesten gesichert ist, wenn dem einen gewaltigen Machtkomplex politischer und militärischer Art eine ebenso große Geschlossenheit politischer und militärischer Art der freien Welt gegenübersteht, so daß keiner von beiden in die Versuchung kommen könnte, einen risikolosen Angriff zu wagen.
Natürlich liegt in der zukünftigen Entwicklung noch manche Chance zu neuen Konstruktionen. Für mich sind die Verträge auch nicht der Weisheit letzter Schluß, ebensowenig für meine Kollegen. Die Frage der Wiederbewaffnung ist für uns ein großes psychologisches und materielles Opfer. Sie haben mir eben vorgeworfen, wir hätten 1949 anders geurteilt. Nein, 1949 hat das gesamte Haus eine Wiederbewaffnung abgelehnt. Auch ich habe mich in der Öffentlichkeit geäußert. Es kommt nach den Erfahrungen, nach den Verlusten, nach den Katastrophen des 2. Weltkrieges psychologisch die Frage der Wiederbewaffnung viel zu früh, 10 Jahre zu früh an uns heran. Um so größer ist das Opfer, um so größer ist die Überwindung, zu der wir uns durchringen müssen. Aber Ich sehe keine andere Möglichkeit, den Weltfrieden zu erhalten. Ich glaube auch nicht, daß wir so tun können, als wenn Deutschland inmitten jenes brandenden Meeres der Spannungen eine ruhige Insel sein könnte.
Die Verträge sind der Weisheit letzter Schluß nicht. Es ist durchaus möglich, daß während ihrer Verwirklichung, die ja mindestens drei, wenn nicht mehr Jahre in Anspruch nimmt, zwischen Ratifikation und Realisation die Chance neuer Situationen gegeben ist. Neue Situationen werden zwangsläufig auch zu neuen Konstruktionen führen. Wir haben doch erlebt, wie der Brüsseler Pakt, der 1947 gegen uns gerichtet war, im Jahre 1954 eine völlige Umgestaltung in unserem Sinne bekam. Das Rad der Geschichte steht doch nicht still. Das haben gerade wir doch seit 1945 erlebt. Natürlich werden die Sowjets niemals — da gebe ich Ihnen recht, Herr Erler — die Zone preisgeben, wenn sie befürchten müssen, daß amerikanische Atomkanonen dann nicht mehr an Elbe und Werra, sondern an der Oder stehen werden. Natürlich werden die Amerikaner wiederum nicht einer Wiedervereinigung zustimmen, wenn sie befürchten müssen, daß sich jenes Deutschland dem Ostblock anschließen könnte — wie seinerzeit in der Weimarer Republik die Reichswehroffiziere nach Moskau zur Ausbildung gefahren sind —, und dann sowjetische Atomkanonen an den Rhein kämen. Hier muß eine Verständigung aller vier erreicht werden, und diese Verständigung ist möglich. Wir glauben aber in einer wesentlich günstigeren Position zu sein, wenn wir mit dem Bündel der Verträge an den Tisch kommen, als wenn wir mit leeren Händen erscheinen.
Wenn es den Sowjets gelingt, die Ratifikation der Verträge zu verhindern, haben sie die erste Runde schon gewonnen, ohne auch nur das geringste an Konzessionen gemacht zu haben.
Es ist doch kein Zufall, daß wir erst mit einem Störungsfeuer, jetzt schon mit einem Trommelfeuer von Briefen bombardiert werden. Ganze Schulklassen schreiben, Telegramme werden geschickt. Meine Damen und Herren, mir beweist diese Kampagne von drüben, wie gut doch anscheinend diese Verträge für Deutschland und die Freiheit sein müssen.
Genau so, wie mir die Ablehnung der EVG in der Assemblée nationale in Paris beweist, daß die EVG für Deutschland gar nicht so schlecht gewesen sein kann, wie sie seinerzeit immer gemacht wurde. Denn dann hätte man sie ja in Paris nicht abzulehnen brauchen, wenn darin etwas Schlechtes für uns zum Ausdruck gekommen wäre.
Der Herr Bundeskanzler hat gestern das Wort vom „Nationalismus" gebraucht. Man sollte mit dem Wort „Nationalismus" als Vorwurf sehr sparsam umgehen, — ohne daß ich mir anmaße, Herr Bundeskanzler, schon in Hochachtung vor Ihrem Alter und Ihrer Stellung, Ihnen einen Rat zu geben. Aber Röpke sagt einmal: Nationalismus ist ein Knüppel, den man immer zur Hand hat, wenn man irgendwie auf Deutschland dreinschlagen will.
Wenn schon die anderen diesen Knüppel, wie es ihnen paßt, gegen uns verwenden, sollten wir uns in Deutschland wenigstens nicht auch noch regenseitig Nationalismus vorwerfen.
Die Frage, was Deutschland nützt oder was Deutschland schadet, kann nach meiner Auffassung niemand in diesem Hause apodiktisch mit einer einfachen Behauptung beantworten. Die Frage, was Deutschland nützt und was Deutschland schadet, die Frage, inwieweit unsere Maßnahmen seit 1949 dem deutschen Volk und dem Frieden der Welt gedient haben oder inwieweit sie ihm geschadet haben, dieses Urteil kann einzig und allein in vielen Jahrzehnten erst die Geschichte fällen. Man sollte daher mit Aufstellen von Dogmen im politischen Raum auch nicht allzu voreilig sein. In der Mathematik kann man sagen, daß 2 = a 2 + 2 ab + b 2 ist, und alles andere ist falsch.
— Sie sehen, wie auch auf dem humanistischen Gymnasium noch Mathematik gelernt werden konnte. In der Politik gibt es diese einfache mathematische Lösung nicht. In der Politik entscheidet sich erst nach vielen Jahrzehnten in der Geschichte, was richtig und was falsch war. Man kann lediglich dem anderen den guten Glauben unterstellen, den man für sich selbst in Anspruch nimmt, und man kann lediglich die Hoffnung zum Ausdruck bringen, daß es wirklich allen darum geht, dem Frieden und der Verständigung zu dienen, obgleich ich der Auffassung bin, daß manche, die im Osten von Frieden und Freiheit und Verständigung und Demokratie reden, das Gegenteil dessen meinen; denn die Praxis der Sowjetzone beweist es.
Wir wollen daher hoffen, daß diese beiden militärischen Verträge dem Frieden der Welt dienen und daß die Geschichte einmal über die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts positiver urteilen wird als über die erste Hälfte, an der ein Teil von Ihnen ja mitgestaltet hat und die uns leider in einer Generation zwei blutige Kriege mit 36 Millionen Toten gebracht hat. Wir wollen hoffen, daß die zweite glücklicher ist und daß man am Ende unserer Geschichtsperiode besser über uns urteilen wird, als die jungen Menschen leider heute politisch über ihre Väter und Großväter urteilen müssen.