Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich erfülle wohl einen interfraktionellen Wunsch, wenn ich mich in Anbetracht der vorgerückten Stunde möglichst kurz fasse.
— Ich freue mich, daß ich dem Wunsche des Hohen Hauses gleich Ausdruck geben konnte.
Es sind einige wenige Punkte, die ich nachtragen möchte. In seiner Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler auf die unendlich schwere Lage der Weimarer Republik hingewiesen. Er hat die Verhältnisse in der Bundesrepublik damit verglichen, und der Vergleich ist günstig für die Verhältnisse in der Bundesrepublik ausgegangen. Es ist von allen Seiten zugegeben und von allen Parteien und Ständen anerkannt worden, daß unendlich vieles geleistet und erreicht wurde, und dies durch die gemeinsamen Anstrengungen aller Parteien, aller Stände, aller Heimatvertriebenen und Einheimischen. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß es sich hierbei nur um einen Teil Deutschlands handelt. Die Freiheit, die wir lieben, herrscht nicht an der Saar, die nicht minder zu Deutschland gehört als etwa Nordrhein-Westfalen oder Bayern, und Freiheit und verhältnismäßiger Wohlstand herrschen nicht in der sowjetisch besetzten Zone. Es ist zweifellos richtig, daß es nach dem 1. Weltkrieg Aufstände aller Art gegeben hat, kommunistische Aufstände in vielen Teilen des Reiches. Aber heute herrscht in einem ganz großen Teil Deutschlands der Kommunismus selber. Wir dürfen also über dem, was in der Bundesrepublik erreicht wurde, nicht das Entscheidende vergessen, nämlich die Wiederherstellung von Freiheit für alle Deutschen.
In diesem Zusammenhang hätte ich gern einen Namen gehört, auf den auch unser Kollege Dr. Becker hingewiesen hat, im Zusammenhang mit dem vom Herrn Bundeskanzler gegebenen Überblick über die Nachkriegsverhältnisse: den Namen Stresemanns. Stresemann war es schließlich, der die Einheit des Reiches gerettet hat. Wenn ich auf ihn hinweise, geschieht das nicht aus der Freude des Historikers an geschichtlichen Reminiszenzen, sondern weil sein Werk für das Heute von ganz unmittelbarer Bedeutung ist und ganz unmittelbare Lehren daraus gezogen werden können. Es war sein großes Anliegen, zwischen Deutschland und Frankreich wirklichen Frieden, wirkliche Freundschaft herzustellen; ich erwähne die großen Namen jener Zeit: Locarno, Völkerbundspolitik,
Thoiry. Ich durfte schon einmal in einer früheren Debatte darauf hinweisen, daß Stresemann, der Vater, wie man sagen kann, des modernen Europagedankens, das Saarproblem nicht als zu gering ansah, um es immer wieder im Zusammenhang mit den europäischen Einigungsbestrebungen zu behandeln.
Wir haben durch unseren Freund Thomas Dehler erfahren, daß der Vorschlag der Freien Demokratischen Partei, in Wirtschaftsverhandlungen mit Frankreich einzutreten, sozusagen die Reparationshypothek abzulösen, mit der Begründung abgelehnt wurde, daß das besiegte Deutschland doch nicht dem noch immer viel reicheren Frankreich wirtschaftliche Angebote machen könne. Es gibt einen außerordentlich interessanten historischen Präzedenzfall. Im Gespräch von Thoiry am 16. September 1926 hat Stresemann dem französischen Außenminister Aristide Briand 300 Goldmillionen angeboten als Loskaufsumme für die Saar, und Briand ist auf dieses Angebot im Gespräch von Thoiry positiv eingegangen. Es ist zutiefst zu bedauern, daß dieses Problem nicht damals gelöst wurde, lange bevor Hitler zur Macht kam. Dann wäre niemals ein Zweifel aufgekommen, dann wäre es immer klar gewesen, daß diese Volksabstimmung von 1935 nichts mit Hitler zu tun hatte, daß sie — ich habe sie selbst miterlebt — eine Abstimmung war trotz Hitler und nicht für Hitler. Es ist auch damals, zur Zeit Stresemanns, von den Gegnern seiner Politik in Frankreich das Wort vom Nationalismus verwandt worden. Ich meine, es gibt eine sehr gute Formel, die er gefunden hat und die ich mir diesem Hohen Hause vorzutragen erlauben möchte, das Wort, das Stresemann bei der Verleihung des Nobelpreises in Oslo am 29. Juni 1927 verwandt hat: „International kann nur wirken, wer zunächst national fühlt." Das ist in einem Satz der Dienst an Europa.
Heute wird die Frage an uns herangetragen, ob wir, wie es heißt, „einer höheren Einheit wegen" Verzicht leisten sollen. Man kann doch nur Verzicht leisten auf etwas, worauf man rechtlich verzichten kann! Wir sind der Meinung, die Bundesrepublik kann nicht auf ein deutsches Gebiet verzichten, das ihrer Jurisdiktionsgewalt nicht untersteht.
Aber ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf etwas viel Wesentlicheres hinweisen. Es wurde von der Verpflichtung der Westmächte gesprochen, die Wiedervereinigung zu unterstützen. Herr Bundeskanzler, Sie haben auch heute darauf Bezug genommen, und wir sind alle Ihrer Meinung, daß es vom deutschen Standpunkt aus verhängnisvoll wäre, wenn man Zweifel in die Worte ausländischer Staatsmänner setzte. Gerade das bedrückt mich. Denn was an der Saar geschieht, könnte geeignet sein, einen solchen Zweifel hervorzurufen. Es könnte gesagt werden: Welches Vertrauen können wir denn in das Versprechen Frankreichs haben, für deutsche Wiedervereinigung im Osten einzutreten, wenn im eigenen Vorfeld des Westens, im Herzen von Europa, dieser Wiedervereinigung Schranken entgegengesetzt werden? Ich würde meinen, daß doch hier der Punkt ist, wo dieser gute Wille unter Beweis gestellt werden kann. Hic Rhodus, hic salta! Hier ist das Territorium, wo bewiesen werden kann, daß es den Demokratien ernst ist, zutiefst ernst mit dem Willen zur deutschen Wiedervereinigung.
Herr Kollege Rinke hat über den Osten gesprochen. Lassen Sie mich einige Worte hinzufügen.
Sie kennen vielleicht den Aufsatz, der in der Zeitung der Exil-Polen in London erschienen ist, in „Dziennik Polski" vom 8. November 1954, in dem das Blatt sich zum Saarabkommen äußert. Es sagt dazu:
Es handelt sich hier um ein für Polen günstiges Ergebnis, weil die westdeutsche Regierung
— wie das Blatt sagt —
zum erstenmal der Losreißung eines bestimmten Gebietes zugestimmt hat.
Und der erste Schritt sei doch immer der schwerste. — Ich fürchte — und auch hierfür gibt es historische Präzedenzfälle —, wenn Frankreich dieses Abkommen wirklich zugesichert erhält, wenn es ratifiziert wird, entsteht die Gefahr, daß Frankreich gerade dadurch in den Bannkreis der Sowjetunion hineingeführt wird, daß es, um das Saargebiet festzuhalten, um dieses Territorium in der Hand zu behalten, eine Politik wiederaufnimmt, wie wir sie schon oft in der neuen Geschichte Europas gesehen haben.
Ein historischer Präzedenzfall, sagte ich: Während des Krieges wurde von den Vertretern der prosowjetischen Richtung in Amerika oft gesagt, man müsse die polnische Exilregierung in London, die widerstrebend war, zwingen, deutsches Gebiet anzunehmen, weil man nur dadurch eine Verständigung zwischen Deutschland und Polen nach dem Kriege verhindern könne und weil man nur dadurch Polen für dauernd in den Bannkreis der Sowjetunion hineinführen könne. Ich sehe eine ähnliche Gefahr im Westen, wo also durch die Saar verhindert werden würde, was wir in der westeuropäischen Verteidigung anstreben.
Der Kollege Ollenhauer hat die Frage gestellt, ob die Spaltung Deutschlands im Osten und im Westen Amerika berührt. Ich glaube, daß man mit einem ganz entschiedenen Ja antworten muß. Dieses Ja ist von entscheidender Bedeutung für die Stärkung der deutschen Außenpolitik. Es gibt das bekannte Wort des amerikanischen Präsidenten Lincoln, der gesagt hat: „Eine Nation kann nicht halb Sklave und halb frei sein." Diese Teilung zwischen frei und unfrei geht ja jetzt durch die ganze Welt, also auch durch die westliche. Ich meine daher, daß Amerika zutiefst davon berührt wird und daß doch die Möglichkeit gefunden werden müßte, diesen Appell an die angelsächsische Welt zu richten, an Großbritannien und an Amerika, uns zu helfen, die Gefahr der Kompromittierung von der deutschen Demokratie abzuwehren.
Dazu müßte noch folgendes gesagt werden: daß die Zementierung des Status quo, d. h. die Zementierung der Teilung Deutschlands unweigerlich zu einer neuen Katastrophe führen muß, daß dieser Status quo sich nur kurz halten würde und in einen neuen Weltkrieg auslaufen würde, einen Krieg, der die angelsächsische Welt zutiefst berühren würde.
Wenn heute Stimmen laut werden — wir haben sie gerade in den letzten Tagen in der Presse gelesen, auch in Amerika —, daß man sich vielleicht mit dem Status quo abfinden müsse, dann ist es unsere Aufgabe, von dieser Stelle ,aus auf die ungeheure Gefahr hinzuweisen, die alle Länder bedroht, die Gefahr, die sich aus der fortgesetzten Teilung Deutschlands ergeben würde.
Was soll also geschehen? Die . Frage wird aufgeworfen, meine Damen und Herren: Soll an der Saar das Verteidigungssystem scheitern? Ich darf vielleicht mit einem Worte des Herrn Bundeskanzlers antworten, der gestern in seiner Rede gesagt hat: „Wir wissen sehr wohl, daß nicht Armeen allein den Frieden erhalten können." Ein großes und richtiges Wort! Nach seinen eigenen Ausführungen gehört zur Erhaltung des Friedens der Wille eines ganzen Volkes, seine Freiheit zu erhalten.
Ich möchte einen Schritt weitergehen. Zur Erhaltung des Friedens gehört der Wille aller freien Völker — Deutschlands und Frankreichs in erster Linie —, diesen Frieden in Freiheit zu erhalten. Herr Bundeskanzler, Sie haben, wenn ich Sie richtig interpretiere, etwas sehr Wichtiges ausgedrückt, daß es also nicht allein auf die Armeen ankommt, nicht allein auf das alte Wort: „Si vis pacem, para bellum", sondern daß dieses Wort ergänzt werden muß durch ein Wort, das über dem Friedenspalast im Haag steht: „Si vis pacem, cole justitiam" — „Wenn du den Frieden willst, pflege die Gerechtigkeit!"
Von diesem Gesichtspunkt aus sehe ich im jetzt vorliegenden Saarabkommen eine so ungeheure Gefahr für die gesamte westliche Welt, weil diese justitia gebrochen wird und weil Europa nicht Bestand haben kann, wenn es nur, wie der Herr Bundeskanzler es ausgedrückt hat, durch Armeen verteidigt werden soll. Europa steht und fällt mit dem Gedanken des Rechts, und wenn dieses Recht verletzt wird, dann öffnen wir eine Bresche für alle Armeen, nicht nur die militärischen, des aggressiven Sowjetismus.
Ich meine daher, daß es gerade auf diesen Gesichtspunkt ankommt, nämlich den des Rechts. Es geht hier nicht um eine Forderung eines sogenannten Nationalismus, sondern um eine Forderung der Demokratie, die niemals dulden kann, daß ihr eigenes Gebiet aufgeteilt wird, um eine Forderung, sagte ich, nicht des Nationalismus, sondern desdemokratischsten aller Begriffe, nämlich des Vaterlandes, das wir ganz und ungeteilt in eine europäische Rechtsgemeinschaft einbringen wollen.