Ich danke Ihnen für die Frage. Ich werde ohnehin auf die Fragen: NATO-Strategie, Linien und Garantien, Risiko in Beantwortung dessen, was Ihr Kollege Erler uns heute vormittag hier gesagt hat, zu sprechen kommen.
Meine Damen und Herren, die Aufstellung der deutschen Verbände ist — und das ist die Schlußfolgerung, die wir ziehen müssen — für uns ein großes Opfer, ein biologisches, ein materielles, ja sogar ein psychologisches Opfer. Um so größer müßte das Verständnis sein, das man uns in Paris und anderswo in dieser Frage entgegenbringt. Die Frage der Einigkeit der demokratischen Kräfte verstehe ich in diesem Zusammenhang so: Man sollte sich doch über gewisse Prinzipien des Wehrrechts auch in diesem Hause einig werden können. Wir sitzen doch im Ausschuß für europäische Sicherheit mit sehr bekannten Kollegen aus der Opposition zusammen: mit dem zweiten Vorsitzenden Mellies, mit Carlo Schmid, mit Gleisner, mit Herrn Eschmann. Warum gelingt es im Ausschuß für europäische Sicherheit, allgemeine Prinzipien des Wehrsystems in ausgezeichneter Sachlichkeit zu diskutieren, und warum gelingt es nicht, in der Öffentlichkeit einmal Einigkeit über die Frage des Notwehrrechts herbeizuführen? Es wird Zeit, daß der Herr Bundespräsident oder der Herr Bundeskanzler uns alle — Koalition, Opposition, Gewerkschaften, Kriegsopferverbände — an einen Tisch bringt, um zu klären, inwieweit wir in den prinzipiellen Fragen des Schutzes der Demokratie einig sind, und ich glaube, es wird sich zeigen, daß genau so wie im Sicherheitsausschuß in vielen prinzipiellen Fragen Gemeinsamkeit besteht; lediglich in gewissen Modifikationen der Ausführung ist man verschiedener Auffassung. Wir haben leider keine Alternative: „Strohhut oder Stahlhelm?" Wenn heute morgen hier behauptet wurde, das sei keine Alternative der Wahlkämpfe gewesen, so erinnere ich Sie an die hessische Wahl von 1950. Dieser Wahlkampf hat unter der Alternative „Strohhut oder Stahlhelm" gestanden. Ich bin der Meinung, daß man nur noch die Wahl hat zwischen Stahlhelm mit
Sowjetstern und Stahlhelm ohne Sowjetstern und
keineswegs mehr zwischen Strohhut und Stahlhelm.
Zu dem Plebiszit der Jugendlichen, das Herr Professor Baade gefordert hat, berufe ich mich auf keinen Geringeren als Herrn Professor Carlo Schmid. Als wir damals über die Todesstrafe diskutierten und die Frage laut wurde, ob man diese Frage nicht einer Volksentscheidung vorlegen solle, erklärte Carlo Schmid hier von dieser Stelle aus, er vertraue in dieser Frage wesentlich mehr dem aufgeklärten Absolutismus des Parlaments als dem Demos. Sehen Sie, ähnlich ist es hier. In der Wehrfrage hat der aufgeklärte Absolutismus der dafür berufenen Volksvertreter eher ein Wort zu sprechen als die Betroffenen selbst. Wenn ich im Jahre 1936 gefragt worden wäre, ob ich für die Verlängerung der Dienstzeit um ein Jahr sei, hätte ich auch nein gesagt. Wir alle waren niedergeschlagen, als wir plötzlich im Rundfunk hörten, die Dienstzeit werde um ein weiteres Jahr verlängert. Es geht hier nicht um die Vox populi, die oft keineswegs die Vox Dei ist, sondern das Gegenteil; es geht hier um die Einsicht verantwortlicher Politiker, die vor ihrem Gewissen zu handeln haben unter Auswertung ihrer größeren Einsicht in die großen politischen Zusammenhänge.
Ein Wort an Kollegen Ollenhauer zum Bundesgrenzschutz. Sie wissen, daß ich zu den besonderen Förderern des Bundesgrenzschutzes gehöre und daß wir hier gemeinsam, selbst mit den Stimmen der CSU, die Verstärkung des Bundesgrenzschutzes auf 20 000 Mann durchgesetzt haben, ohne daß es bei den letzten Übungen zu Zusammenstößen zwischen dem bayerischen und dem Bundesgrenzschutz gekommen ist.
Bevor ich zu der Frage des Bundesgrenzschutzes und den sogenannten Manövern und insbesondere zu der Frage: Ist Bundesgrenzschutz Remilitarisierung durch die Hintertür — wie es auch hier vor zwei Jahren behauptet wurde —, Stellung nehme, lassen Sie mich nach einer alten Regel Ihnen erst einmal die Lage der anderen Seite kurz vor Augen halten. Ich bin nicht der Meinung meines Kollegen von Manteuffel, daß man darüber hinweggehen sollte, weil das jeder wisse. Leider wissen viel zu wenige, was in der Sowjetzone schon geschehen ist und auf wie tönernen Füßen unsere innere Sicherheit steht. In der Sowjetzone steht insgesamt eine kasernierte Volkspolizei von 160 000 Mann, weitere 40 000 Mann als sogenannte allgemeine Volkspolizei, gegliedert in 6 Divisionen und 1 Elite-Division, also 7 Divisionen. Von den 7 Divisionen sind 3 mechanisierte Divisionen und 4 motorisierte Schützendivisionen. Panzerdivisionen, Artillerie- und Flakdivisionen sind noch nicht festgestellt, aber schwere Artillerie- und Panzerverbände, und zwar bei der Armeegruppe Pasewalk und bei der Armeegruppe Leipzig insgesamt 859 Panzer vom Typ T 34 und vom Typ Joseph Stalin II, an Sturmgeschützen 271, an Haubitzen, Kanonen, Flak, Granatwerfern und Salvengeschützen insgesamt 2000, an Panzerspähwagen 450. An der Spitze dieser Volkspolizeidivisionen, die längst eine Art Nationalarmee bilden, stehen die ehemaligen Wehrmachtgenerale Vinzenz Müller, von Lenski, Lattmann, etwas weiter in der rückwärtigen Front der General Dr. Korfes. Nun, ich brauche gerade Ihnen von
der Sozialdemokratischen Partei das nicht zu sagen. Ihre Archive sind gut. Sie überraschen uns meistens hier mit sehr gutem Archivmaterial. Sie haben daher auch sicher über Ihren Kollegen Wehner und den Kollegen Menzel die genaue Stärke der Volkspolizei längst in Ihren Büros liegen.
Die Luftwaffe besteht drüben aus 100 Jagd- und Kampfflugzeugen unter der Führung des ehemaligen Luftwaffenobersten Lewess-Litzmann, gegliedert in drei Fliegerdivisionen.
Verstehen Sie nun, warum auch wir das Recht beanspruchen, gegenüber dieser Konzentration wenigstens den primitivsten Bundesgrenzschutz zu unterhalten? Ich bin allerdings der Meinung, es kann dahingestellt sein, ob das der General Matzky sagen durfte, daß wir den Bundesgrenzschutz wesentlich verstärken müssen, wenn er den an ihn gestellten Anforderungen Rechnung tragen soll.
Wir haben entlang der Sowjetzonengrenze und der Grenze zur Tschechoslowakischen Republik auf 10 km einen Unteroffizier und acht Mann stehen.
Ich wehre mich dagegen, daß Sie die neuen Aufgaben Polizeiaufgaben nennen. Der Bundesgrenzschutz ist mehr als eine Polizei. Er ist Bundesgrenzschutz. Aber selbst wenn ich die Begriffsbestimmung „Polizei" des Herrn Schoettle aus der Haushaltsdebatte und des Herrn Kollegen Ollenhauer aufnehme, muß ich Ihnen entgegnen: die Polizeiaufgaben sind im modernen Massenstaat andere als um 1910, da ein pickelhaubenbewehrter, bärtiger, dickbauchiger Polizist auf dem Marktplatz noch für Ruhe und Ordnung einer Kreisstadt sorgen konnte. Ihr -ehemaliges Mitglied, der preußische Innenminister Severing, hat uns doch das Musterbeispiel einer guten schlagkräftigen preußischen Landespolizei gegeben. Halten Sie sich doch nur an dieses Rezept. Daß es danach leider von anderen mißbraucht wurde, lag wahrlich nicht an uns, die wir heute den Bundesgrenzschutz verteidigen. Wir glauben, daß die Polizeiaufgaben im modernen Massenstaat Kompanie-, Bataillons-, Regiments-, ja sogar Divisionsaufgaben sind, mit Funk- und Sprechfunkausstattung, schnelle bewegliche Truppen, sogar mit leichten Kurierflugzeugen und mit Helikoptern wie die italienische Celere, wie die französische Garde mobile oder wie die entsprechenden amerikanischen Einheiten.
Glauben wir doch nicht, daß wir uns lediglich mit pazifistischen Beteuerungen der Infiltration von Agenten und Material erwehren können. Seien wir doch froh, daß trotz aller Diffamierungen 20 000 junge Deutsche wieder bereit waren, eine Uniform anzuziehen und sich für Sie und uns alle wieder einzusetzen.
Ich kenne die Unterlagen des Manövers oder besser der Grenzschutzübung genau. Ich finde es gar nicht so absurd, wenn man gegen einen infiltrierten Gegner das Gegenmanöver der Stoppung und der Einkesselung durchführt. Wie wollen Sie das anders tun als durch die Dirigierung beweglicher Verbände in den gefährdeten Raum? Mit den Streikleuten hat man am wenigsten Sie etwa gemeint. Wir wissen aber doch, wie stark die Kommunisten versuchen, im Rahmen von Streikbewegungen wiederum das Heft in die Hand zu bekommen, das Herr Böckler und Sie ihnen im Ruhrgebiet gottlob entreißen konnten. Das ist Ihr historisches
Verdienst. Aber ruhen Sie bitte auf diesen Lorbeeren nicht aus! Von allen kommunistischen und getarnten Seiten versucht man, in die Gewerkschaftsbewegung hineinzukommen. Es zeigt sich doch — beispielsweise in der IG Bergbau —, daß manche Beschwörung gilt, daß man manchen Geist, den man rief, nicht so einfach los wird und daß dort Ansätze sichtbar sind, die wir alle sehr wachsam überprüfen müssen. Ich denke also durchaus daran, eines Tages kann es bei einer Zuspitzung der allgemeinen Situation dazu kommen, daß der Bundesgrenzschutz nicht nur die infiltrierten kommunistischen Kräfte entsprechend bekämpft, sondern sogar im eigenen Gebiet die Fünften Kolonnen und Saboteure des Kommunismus zu zernieren und festzunehmen hat.
Sie haben auch über die Frage der Bewaffnung und Ausrüstung Diskussionen geführt. Dabei ist Ihnen leider eine peinliche Panne unterlaufen. Ihr Politisch-Parlamentarischer Pressedienst berichtet, daß bei 'den sogenannten Straßenpanzerwagen auch Geschütze sichtbar waren, deren Kaliber mindestens 5 cm betrug. Ich habe mich orientieren lassen, daß Sie einer Täuschung zum Opfer gefallen sind. Es handelt sich hier um Kanonenrohre, die aus zusammengeschweißten Konservenbüchsen hergestellt wurden.
Aber ich kann mir denken, wenn man in Paris übermorgen bei der Kammerdebatte oder anderswo den Politisch-Parlamentarischen Pressedienst zitiert, können große Mißverständnisse aus den leider nicht erkannten Konservenbüchsen des Bundesgrenzschutzes entstehen.
Nun komme ich zu der Frage der Strategie und zu der Frage, die der Herr Kollege bezüglich der Manövertoten aufgeworfen hat. Wir alle sind schon mal für tot erklärt worden und werden es auch heute noch — mal politisch, mal militärisch in den Übungen. Doch hat dieser Tod das Tröstliche, daß man ihn zeitlich befristen kann, was bei dem biologischen trotz der modernen Frischzellentherapie bisher leider noch nicht erfunden ist. Wir glauben, daß das Denken in starren Linien ebenso überholt ist wie der Versuch, Garantieerklärungen in der großen Strategie zu bekommen. Die Strategie ist eine Summe politischer, wirtschaftlicher, sozialer, propagandistischer und militärischer Maßnahmen. Niemals kann im Rahmen der globalen Strategie dem einen oder dem andern eine Garantieerklärung gegeben werden. So ist es leider; denn zu viel Imponderabilien liegen in dem großen Komplex der Strategie. Darum werden wir auch nicht eine Garantie in dem Sinne bekommen, die oder die Linie wird unter allen Umständen gehalten. Haben wir nicht erlebt, Herr Kollege Eschmann, wie viele Linien gehalten werden mußten! Und keine von ihnen ist gehalten worden zwischen Moskau, Stalingrad und Ostpreußen und Berlin.
Entscheidend ist vielmehr, was der Gegner zur praktischen Eliminierung der Garantieerklärung aufbringen kann, und nicht das, was man auf dem Papier erreicht hat. Das System der starren Linien — ob Elbe, ob Werra oder Maas oder Seine oder ein Gebirgszug — ist durch die militärisch-technische Entwicklung längst überholt. Es hat sich im zweiten Weltkrieg gezeigt, daß jedweder Angreifer dann eine Linie durchbrechen konnte, wenn er dort einen Schwerpunkt zu bilden in der Lage war. So wird es auch in Zukunft sein. Es ist daher falsch,
von Garantieerklärungen für die Verteidigung irgendwelcher strategischer Linien zu sprechen. Leider steht der moderne Krieg unter dem Gesetz einer Bewegungsstrategie und keiner Reißbrettstrategie mit festen Linien. Ob daher die Iserlohner überrollt werden oder nicht, darauf kann weder ich Ihnen eine Erklärung geben noch der Herr Kollege Blank noch der General Gruenther. Wir wollen hoffen, daß es niemals zur Beantwortung Ihrer Frage in der Tat kommen wird.
Damit komme ich zum Schluß zu der großen Konzeption der Verträge. Was ist denn die geistige Grundlage unserer Verträge? Die geistige Grundlage ist der Versuch, den Weltfrieden zu erhalten. Wie geschieht das? Ein Rezept hat leider noch niemand gefunden; weder die antiken Philosophien noch die Philosophien der Moderne, weder die Religionen noch die Konfessionen, weder das Völkerrecht des Hugo Grotius noch der Völkerbund noch die Schrift Immanuel Kants vom ewigen Frieden noch der Weltsicherheitsrat haben einen allgemeingültigen Satz geprägt, wie man den Frieden erhalten und garantieren könne. Es gilt lediglich eine Feststellung, daß der Frieden dann am ehesten gesichert ist, wenn einem gewaltigen politischen und militärischen Machtblock ein ebenso geschlossener politischer und militärischer Block der freien Welt gegenübersteht, so daß keiner von beiden in die Versuchung kommen könnte, einen risikolosen Angriff zu wagen. Oder ein Beispiel aus der Bauwirtschaft: Sie müssen beim Bauen Druck und Gegendruck, Stützung und Schwere so berechnen, daß die Statik gewährleistet ist. Ist sie nicht gewährleistet, bricht der Bau zusammen. Nach unserer Auffassung ist der Weltfrieden am ehesten gewährleistet, wenn wir dem einen großen Block, Moskau, die Konzentration der Kräfte der freien Welt unter Washington gegenüberstellen.
Über die Frage des Gewissens und der Gewissensnot: Nach dem, was ich Ihnen über die psychologischen Voraussetzungen eines Wehrbeitrages gesagt habe, darf doch niemand mehr daran zweifeln, daß es für uns alle eine Gewissensnot gibt. Aber das Argument „das zweigeteilte Deutschland bewaffnet sich" zieht nicht. Die andere Seite ist bereits bewaffnet in einem viel höheren Maß, als Sie es hier wissen. Wir tun also nur einen Gegenzug, um überhaupt am Leben zu bleiben, und insofern ist die Ablehnung der Bewaffnung des zweigeteilten Deutschlands fehl am Platze.
Die zweite Frage: Gewissensnot — evangelische Kirche. Ich glaube, Herr Kollege Erler, in der Runde dieser Fragen sind Sie unweigerlich Sieger nach Punkten geblieben. Aber das hat nicht an Ihnen gelegen, sondern an den Fragen der anderen Seite, wenn ich sachlich bleiben darf. Das einzige, was für mich sichtbar geworden ist, ist, daß der Leitspruch, den Thomas Dehler so oft geprägt hat, auch hier wieder bestätigt wurde: Die Kirchen sollten sich tunlichst auf ihren kirchlichen Raum beschränken, und sie sollten vermeiden, in tagespolitische Ereignisse einzugreifen; das sollten sie den Parteien überlassen.
Das große Problem dieser Verträge ist die Frage Krieg oder Frieden. Unsere Bemühungen müssen zum Ziel haben, weder die erste Schlacht zwischen Weichsel und Memel schlagen zu wollen, also weit ostwärts, wie es einige in ihrer Konzeption entworfen haben, noch die letzte Schlacht zwischen dem Osten und dem Westen südlich der Pyrenäen in Spanien durch die Amerikaner gewinnen zu
wollen. Nein, das Ziel all unserer politischen und militärischen Maßnahmen muß sein, zu erreichen, daß die erste Schlacht nicht stattfindet, denn sie würde Deutschland und Europa unweigerlich zum Atombombenversuchsfeld beider Parteien machen. Die Einstellung der Freien Demokraten zu diesen Verträgen ist daher eine dreifache: Deutschland in Einheit, in Recht und in Freiheit; Europa als Brücke zwischen beiden Machtblöcken, Moskau und Washington, indem sich ein starkes Europa entwickelt, das eine solche Brückenfunktion erfüllen kann, und drittens: den Frieden über alles, über alles in der Welt.