Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein sehr verehrter Herr Vorredner hat mit seinem Temperament hier eine Unruhe hervorgerufen, von der ich hoffe, daß ich sie zumindest im ersten Teil meiner Ausführungen glätten kann. Für den zweiten Teil allerdings kann auch ich nicht garantieren.
Bei diesem Temperament, Herr Kollege Jaeger, frage ich mich: Ist es ein preußisches gewesen —nach Ihrem Geburtsort Berlin — oder ein bayerisches — nach Ihrer Heimat Bayern?
Aber vielleicht lösen Sie einmal dieses interessante biologisch-psychologische Problem.
Der Herr Bundeskanzler hat gestern in seiner großen Rede erklärt, die Bundesregierung verschweige nicht, daß ihr Bemühen um eine Neugestaltung und Verbesserung des Vertragswerkes von 1952 nicht auf allen Gebieten erfolgreich war. „Besonders auf dem Gebiete des Überleitungsvertrages bleiben berechtigte Wünsche und Anliegen unerfüllt".
Ich habe die Ehre, im Namen der Fraktion der Freien Demokraten zu einem solchen unerfüllten Anliegen zunächst Stellung zu nehmen, nämlich zum Problem der Kriegsverurteilten, und im zweiten Teil werde ich allgemein auf Wehrfragen einzugehen haben, insbesondere auch auf das, was der Herr Bundeskanzler zu dem Problem Wehrmacht im demokratischen Staat gesagt und was Herr Kollege Ollenhauer zu der Frage des .,idiotischen Barras" hier an Kritik vorgebracht hat.
Wir haben seinerzeit in den Artikeln 6 bis 8 des Ersten Teiles des Überleitungsvertrages die Einsetzung Gemischter Ausschüsse vorgesehen gehabt, die auch jetzt in den neuen Überleitungsvertrag übernommen wurden. Aufgabe dieser Ausschüsse sollte es sein, ohne die Gültigkeit der Urteile in Frage zu stellen, Empfehlungen für die Beendigung oder Herabsetzung der Strafe oder für die Entlassung auf Ehrenwort auszusprechen in bezug auf Personen, die durch die alliierten Gerichte wegen Verstoßes gegen das Kriegsrecht und den Kriegsbrauch oder gegen die allgemeinen Gesetze der Menschlichkeit verurteilt worden waren. Dieser Gemischte Ausschuß ist nicht in Tätigkeit getreten, weil ja die Vertragswerke am 30. August 1953 in Paris in der Assemblée Nationale gescheitert sind. Lediglich eine Art interimistischer Ausschüsse konnte erreicht werden, denen es immerhin zu verdanken ist, daß ein großer Teil der damals Inhaftierten entlassen werden konnte. Die Hoffnung, die wir bei den neuen Verhandlungen hatten, nämlich daß im Rahmen eines besseren Klimas im Jahre 1954 jene Fragen hätten abschließend bereinigt werden können, die noch im Jahre 1952 nicht bereinigt werden konnten, haben sich leider nicht erfüllt. Wir haben aber wenigstens Fortschritte zu verzeichnen.
Ich nehme an, daß es Sie interessiert, zu hören, wieviel Menschen heute noch in alliierter Haft sitzen. Ich hoffe, daß das Problem auf allen Seiten des Hauses, da es ja um Menschen und um das Recht seht, ebenso interessiert wie die Fragen des Kindergeldgesetzes oder die Fragen von Kohle und Stahl. In den Ländern Norwegen, Dänemark, Holland, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Italien, Jugoslawien, in Landsberg. Wittlich und in Werl wurden im Jahre 1950 noch 3650 verurteilte Deutsche festgehalten. im Jahre 1951 waren es 2785, im Jahre 1952 1127, im Jahre 1953 813. im Jahre 1954 466. und am 10. Dezember dieses Jahres waren es 353 Kriegsgefangene und Kriegsverurteilte.
Im einzelnen verteilen sie sich wie folgt: auf Frankreich entfallen noch 111 Deutsche, in Holland sind es 53, in Belgien 9, dabei einige aus Eupen-
Malmedy, bei denen seitens der belgischen Stellen die Frage der deutschen Staatsangehörigkeit bestritten ist, in Luxemburg 4 Deutsche, in Italien einer, in Werl 37 Deutsche, in Wittlich 43 und in Landsberg 95.
Nach den Feststellungen eines erfahrenen Juristen sind bei den 43 Deutschen in Wittlich 12 der Kriegsverurteilten kriminell vorbestrafte zweifelhafte Elemente, in Landsberg unter den 95 22 kriminell vorbestrafte zweifelhafte Elemente. Wir hoffen, daß im Rahmen der neuen Ausschüsse, die nach Art. 0 bis 8 zusammentreten werden, noch mehr erreicht werden kann, als durch die interimistischen Ausschüsse schon erreicht werden konnte.
Die Frage ist — und sie läßt sich mit Recht aufwerfen —: Messen wir nicht dem Problem der Kriegsverurteilten zuviel Bedeutung bei? Nun, meine Damen und Herren, für uns, auch in diesem Hause, ist es in erster Linie eine Frage des Rechts; denn ich darf in Ihre Erinnerung zurückrufen, daß die Grundlage jener Verurteilungen juristisch anfechtbar ist. Der geistige Vater jener Kriegsverbrecherprozesse ist der sowjetische Professor Traïnin, der im Jahre 1943 eine Schrift „La responsabilité criminelle des Hitleriens" im Verlag Zanuk in Paris veröffentlicht hat.
In Verfolg der hier zum Ausdruck gebrachten Gedankengänge ist dann am 30. Oktober 1943 die Moskauer Deklaration erfolgt, und am 8. August 1945 folgte die Londoner Viermächteakte, denen sich dann Ausnahmegesetze in England, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und anderen Staaten anschlossen. Ich betone: Ausnahmegesetze; denn sie verstießen zum Teil gegen fundamentale internationale Rechtsgrundsätze, beispielsweise den Satz: Nulla poena sine lege! Die französische Verordnung von 1944 und das luxemburgische Gesetz enthalten zwingende Auslegungsvorschriften, z. B. daß Tötungen, die als Repressalien erfolgt sind, als Mord bestraft werden müssen. Das niederländische Gesetz läßt eine Analogie im Strafrecht zu, die es ja bekannterweise dort sonst nicht gibt. Das französische Gesetz vom 15. September 1948 schafft eine strafrechtliche Kollektivhaftung unter Umkehrung der Beweislast. Das heißt: wenn der Täter einer Straftat nicht gefunden werden konnte, so haftete kollektiv der gesamte Verband, und jeder einzelne war gezwungen, den Beweis seiner Unschuld zu erbringen.
Daß die Zugehörigkeit der beteiligten Richter zur Widerstandsbewegung gefordert wurde, rechtfertigt die Behauptung, daß nicht immer nach den Grundsätzen des gerechten Rechts, sondern leider auch nach den bitteren Erfahrungen und nach dem Ressentiment des zweiten Weltkriegs geurteilt wurde.
Wir haben also wegen dieser sehr zweifelhaften Rechtsgrundlagen allen Anlaß, das Problem der Kriegsverurteilten abzuschließen. Aber nicht nur das Rechtsproblem, auch das psychologische Problem zwingt zu einem baldigen Abschluß.
Da über die Frage „Kriegsverurteilte, Kriegsverbrecher" gelegentlich falsche Interpretationen, vor allem in der Auslandspresse, lesbar sind, darf ich Ihnen noch einmal wiederholen, was ich an derselben Stelle im Juli 1952 bei der Beratung der damaligen Verträge zu dem Kriegsverbrecherproblem erklärt habe. Wenn wir von Kriegsverurteilten und von Kriegsverbrechern sprechen,
meinen wir alle jene, die durch die besonderen Umstände des Krieges in Schuld verstrickt wurden, die vielleicht sogar unschuldig in das Mahlwerk einer noch stark vom Morgenthaugeist bestimmten Siegerjustiz geraten sind, deren nach allgemeinem Recht fragwürdige Verfahrensvorschriften ich eben kritisiert habe. Wir meinen jedoch nicht jene, die auch nach dem allgemeingültigen Recht objektiv und subjektiv schuldig geworden sind, weil sie ohne die Not des Krieges und ohne den Zwang besonderer Kriegsverhältnisse weit hinter der Front Menschen gequält, Menschen wegen ihrer Rasse, Religion oder Parteizugehörigkeit gepeinigt und den deutschen Namen mit Schande bedeckt haben. Die letzteren scheiden aus dieser Diskussion aus; sie wollen wir nicht haben. Wir sprechen von jenen, die, wie gesagt, durch den Krieg und die besonderen Kriegsverhältnisse in Verstrickungen gekommen sind, in denen sie nun schuldig oder teilschuldig oder gar unschuldig Opfer jener Nachkriegsjustiz geworden sind.
Das Ganze ist aber nicht nur eine Frage des Rechts; es ist für die Aufstellung neuer deutscher Verbände auch eine psychologische Frage; denn es geht hier um das große Problem des Handelns auf Befehl. Ein großer Teil der Verurteilten hat auf Befehl gehandelt. Natürlich wollen gerade bei der Diskussion um die innere Struktur, um die Frage der Verantwortlichkeiten, des Befehlens und Gehorchens, die jungen Deutschen wissen: Welche Sicherungen haben wir, damit nicht auch wir eines Tages für Befehlsausführungen verantwortlich gemacht werden, wie es unseren Vätern geschehen ist? Die Frage des Handelns auf Befehl im Zusammenhang mit der Kriegsverurteiltenfrage ist für die deutsche Wehrpsychologie eine Angelegenheit ersten Ranges.
Wie regeln nun die Verhandlungen um den Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft diese Frage? Es heißt im Militärprotokoll in Art. 18:
Der Untergebene soll seinem Vorgesetzten im Rahmen der dienstlichen Erfordernisse und der gesetzlichen Bestimmungen, der Kriegsbräuche und der militärischen Vorschriften gehorchen.
Also auch hier die Forderung nach Gehorsam der Untergebenen gegenüber den Vorgesetzten.
Noch interessanter ist das Protokoll über allgemeine Strafrechtsgrundsätze. Hier bitte ich Sie, genau zuzuhören, denn hier liegt der Schlüssel zu einer abschließenden Regelung des Problems der Verurteilung ehemaliger Soldaten. Es heißt hier im Protokoll über allgemeine Strafrechtsgrundsätze:
Niemand kann für eine Straftat bestraft werden, die das Gesetz nicht ausdrücklich als solche bestimmt: noch kann er mit Strafen belegt werden, die vom Gesetz nicht ausdrücklich festgesetzt sind.
Hier erfolgt also die Wiederherstellung des alten Grundsatzes: Nulla poena sine lege.
Unter Ziffer 2 wird das Verbot rückwirkender Kraft ausgesprochen werden:
Das Strafgesetz kann weder hinsichtlich der Begriffsbestimmung der Straftat noch der Festsetzung der Strafe rückwirkende Kraft besitzen. Wird die Gesetzgebung nach dem Zeitpunkte der Begehung der Straftat geän-
dert, so sind grundsätzlich die Bestimmungen anzuwenden, die sich für den Beschuldigten am günstigsten auswirken.
Unter Ziffer 3 heißt es:
Bei der Festsetzung der Strafen und bei der Art ihrer Anwendung wird die Schwere der Straftat, ferner der Umstand, ob der Täter sie als solche erkannte, und schließlich, ob er den Willen hatte, sie zu begehen, berücksichtigt.
In Ziffer 5 heißt es:
Das Gesetz soll die Fälle festlegen, in denen der materielle Urheber einer Straftat nicht strafbar ist; dies ist insbesondere der Fall:
— hier bitte ich die Vertreter, die an den kommenden Gesprächen in Brüssel oder in Paris teilnehmen, genau zuzuhören, weil ich fürchte, daß diese Absätze bei den Verhandlungen in Brüssel nicht genügend besprochen wurden —
a) wenn der Täter im Augenblick der Begehung der Tat vollkommen seines Bewußtseins oder seines Willens beraubt war . . .,
b) wenn der Täter sich infolge eines unwiderstehlichen physischen oder moralischen Zwanges genötigt sah, eine Handlung zu begehen oder sie zu unterlassen,
c) wenn der Täter von einer hierzu befugten Stelle einen rechtmäßigen Befehl erhalten hat.
Schließlich:
wenn der Täter in Notwehr gehandelt hat. Und als letztes:
Bei der Festsetzung der Strafbarkeit und den Erwägungen hinsichtlich der Gewährung von Strafmilderungen und ihres Ausmaßes soll das Gesetz dem Alter des Täters Rechnung tragen.
Meine Damen und Herren, übertragen wir diese Rechtsgrundsätze des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft auf die Revision der Urteile bezüglich der noch inhaftierten Soldaten, und wir bekommen den größten Teil von ihnen morgen frei! Denn wer hat in einem autoritären System nicht unter einem physischen oder psychischen Zwang gestanden, wenn er bei Nichtausführung eines Befehls nicht nur selber mit dem Tode bedroht war, sondern wenn im Rahmen der Sippenhaft sogar Frau und Kind und Eltern bedroht waren?!
Bei den jüngeren Inhaftierten sollte man Ziffer 6 berücksichtigen und dem Alter des Täters Rechnung tragen. Ich denke da an die 18- und 19jährigen SS-Leute aus dem Malmedy-Fall, die zum Teil immer noch in Landsberg inhaftiert sind, obgleich sie nicht nur bei der Begehung der Tat minderjährig waren, sondern sich auch im Rahmen des Einziehungssystems zwangsweise und nicht im Rahmen einer Freiwilligkeit bei der Waffen-SS befanden.
Wir Freien Demokraten schlagen daher vor, daß man bei den Gnadenkommissionen, die nach dem Überleitungsvertrag ja nur für die in Deutschland, in Werl, Wittlich und Landsberg, Inhaftierten zuständig sind, die Zuständigkeit erweitert und auf die in Frankreich Inhaftierten ausdehnt, daß man eine deutsch-belgische gemischte Kommission und eine deutsch-niederländische Gnadenkommission —
ebenfalls im Rahmen der Verhandlungen der Westeuropäischen Union — erreicht. Noch besser wäre es allerdings, wenn es vor allem wieder jetzt im Hinblick auf das bevorstehende Weihnachtsfest gelänge, durch Gnadenakte der dafür zuständigen Staatsoberhäupter oder Hohen Kommissare das langwierige Verfahren der Gnadenkommissionen überhaupt auszuschalten.
Lassen Sie mich ein Letztes noch zu dem Problem Spandau sagen. Hier haben die Westalliierten jahrelang versucht, gerade für die Ältesten der Inhaftierten, Neurath und Raeder, Hafterleichterungen oder gar Entlassungen zu erreichen. Das ist immer wieder an dem Widerstand der Sowjets gescheitert. Nunmehr haben die Sowjets den Fall Neurath aufgegriffen und die Entlassung vorgeschlagen. Meine Damen und Herren, nun steht in der Welt die Sowjetunion als Vertreterin humanitärer Gedanken gegenüber dem alten Herrn Neurath ida. Wollen wir so lange warten, bis diese Sowjets auch noch im zweiten Fall, im Falle Raeder, die Initiative ergreifen? Ich glaube, die Westalliierten sollten es sich angelegen sein lassen, nun ihrerseits einen Gegenzug zu tun und nunmehr die Entlassung des 78jährigen Herrn Raeder vorschlagen.
Damit möchte ich dieses Problem — die Frage des Rechtes und die Frage der Psychologie des Handelns auf Befehl — abschließen mit der Hoffnung, daß gerade in dieser Frage allmählich auch in der Politik das Vaterunser Geltung erhält: „und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern". Im zweiten Weltkrieg sind leider auf allen Seiten Licht und Schatten zu bemerken, auf allen Seiten Völkerrechtsbrüche vorgekommen. Wo kommen wir hin, wenn wir nach dem System „tu quoque" aufrechnen? Ich glaube, es dient dem Gemeinschaftsgeist und dem Beginn einer neuen Zusammenarbeit besser, wenn man nicht wie Lots Weib in der Bibel zurückschaut und dafür zu einer Salzsäule erstarrt, sondern vorwärtsschaut nach Europa und die leidige Frage der kriegsverurteilten Soldaten endlich, zehn Jahre nach dem letzten Schuß, zum Abschluß bringt.
Nun zu der zweiten Frage, die der Herr Bundeskanzler in seiner Rede anrührte, als er erklärte:
In Deutschland — darüber sind wir uns alle in diesem Hohen Hause einig — wird die Armee unter dem Gesetz stehen, das vom Bundestag erlassen werden wird. Über seine Ausführung werden alle, die in Deutschland politische Verantwortung tragen, gemeinsam wachen.
Die Armee habe, so erklärte der Bundeskanzler, in der Gegenwart nicht mehr die zentrale Stellung, die sie in der alten Gesellschafts- und Staatsform besessen habe. Nicht zuletzt unter dem Einfluß der Technik werde das Soldat-Sein zu einem Beruf, der gleichgeachtet neben anderen Berufen stehe. „Er erfüllt seine wichtigen Funktionen in 'der demokratisch geordneten Gesellschaft, aber er beherrscht sie nicht." Wort für Wort, Herr Bundeskanzler, wird diese Einstellung zu der Frage Demokratie und Wehrmacht von uns unterstrichen. Sie erklärten auch, daß der Militarismus tot sei. Auch da will ich Ihnen zustimmen.
Ich halte es aber für zweckmäßig, angesichts der Verwirrungen, die über den Begriff Militaris-
mus immer noch in der Welt herrschen, den Versuch einer Interpretation zu machen, wie ich ihn auch damals, im Jahre 1952, bei der gleichen Debatte unternommen habe, aber anscheinend nicht mit großem Erfolg; denn man redet heute schon wieder von Militarismus, wenn man nur den Bundesgrenzschutz meint. Das scheint uns wirklich sehr übertrieben zu sein. Was ist denn eigentlich Militarismus? Man kann Militarismus als die Lehre und die Anwendung jenes Grundsatzes definieren, daß Gewalt vor Recht gehe, daß Krieg also die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. Wenn sich jemand zu diesen Grundsätzen bekennt und wenn er sein ganzes Leben und seine Lebensäußerungen darauf ausrichtet: „Gewaltlösungen stehen vor Rechtslösungen", dann pflegen doch selten jene Militaristen zu sein, die am ersten Kriegstag die Gewaltanwendung auch von der anderen Seite zu spüren bekommen; denn normalerweise pflegt bei Kriegsbeginn auf beiden Seiten geschossen zu werden. Nein, Militaristen tragen vielmehr Zivil. Sie sitzen nach meiner Auffassung viel häufiger in der Politik, in der Diplomatie und in der Rüstungsindustrie und viel seltener im Soldatenstand.
Es sind doch die Politiker, die die Gesetze machen, nach denen dann die Soldaten gehorchen müssen. Oder haben am ersten Kriegstag — ich frage die Älteren unter Ihnen — 1914 oder am ersten Kriegstag 1939 — ich frage die Jüngeren — Urabstimmungen in den Kasernen der kriegführenden Mächte stattgefunden, etwa nach dem Motto: Liste 1 „Wir wollen Krieg", Liste 2 „Wir bleiben zu Hause"? Nirgendwo in der Geschichte ist diese Frage jeweils den Soldaten zur Entscheidung vorgelegt worden, sondern hier herrscht der Primat der Politik. Die Politiker tragen die Verantwortung, und der Soldat hat nur die zwei Möglichkeiten, entweder den Gesetzen, die die Politiker gemacht haben, zu gehorchen oder ihnen nicht zu gehorchen und am ersten Tag bereits zu riskieren, daß er wegen Befehlsverweigerung erschossen wird.
Seitdem in den modernen Demokratien eine Entfernung von den mittelalterlichen Landsknechts- und Legionsmethoden erfolgt ist, hat das Soldatentum eine ethische Grundlage. Wo immer der brave Mann an sich selbst zuletzt denkt, bei der Bergwacht, beim Seenotdienst, in der Grube, wo der Bergmann unter Tage für uns alle die Kohle gräbt und sich in ständiger Lebensgefahr befindet, bei der Polizei, bei der Feuerwehr, wo immer der brave Mann unter besonders schwierigen Bedingungen für die Gemeinschaft seinen Dienst tut, verdient er die Hochachtung der Gemeinschaft, für die er das tut. Um wieviel mehr gilt das auch für den Soldaten in allen Völkern der Welt, für den Soldaten, der bereits im Frieden sich einer harten Ausbildung unterwerfen muß und der im Kriege sogar bereit sein muß, sein Leben hinzugeben! Ich bin der Meinung, daß der deutsche Soldat im ersten Weltkrieg nicht für den Kaiser und im zweiten Weltkrieg nicht für Hitler gekämpft hat, sondern genau so für sein deutsches Vaterland — und es tun mußte auf Grund der Gesetze — wie der Franzose für Frankreich, der Engländer für England, ja sogar der Rotarmist für die Sowjetunion, die nun einmal sein Vaterland ist. Das ethische Opfer des deutschen
Soldaten im ersten wie im zweiten Weltkrieg ist über jede Diskussion erhaben.
Ethische Leistungen werden nicht gemindert durch das politische System, unter dem sie erbracht werden, selbst dann nicht, wenn das ethische Pflichtbewußtsein so schrecklich mißbraucht wurde, wie es geschehen ist. Aber das gefährlichste, was man machen kann, ist, Militarismus und Soldatentum zu vermengen und zu übersehen, daß zwischen Militarismus und echtem Soldatentum eine Welt klafft.
Herr Kollege Ollenhauer hat gestern unter dem Beifall eines Teils des Hauses den „idiotischen Barras" kritisiert. Lassen Sie mich auch hier einige Interpretationen für den Barras geben,
— für den idiotischen Barras, auch dafür. Ich bin der Meinung, daß das Soldatentum des ersten wie des zweiten Weltkrieges nicht so sehr mit idiotischen Barrasleuten angereichert sein konnte. Denn nach dem zweiten Weltkrieg beispielsweise sind niemandem die Schulterstücke abgerissen worden, obgleich manche politischen Kräfte sogar dazu ermuntert haben. Das Verhältnis zwischen Offizier, Unteroffizier und Mann muß also besser gewesen sein, als es manchmal hier und da kollektiv dargestellt und verurteilt wird. Ich bin der Auff as-sung, Herr Kollege Ollenhauer, daß der Unteroffizier Himmelstoß bei Remarque, daß der Schleifer-Platzek bei Kirst und auch sein Hauptmann Witterer, der in Wirklichkeit ein erbärmlicher Nebenmann war, Ausnahmeerscheinungen des deutschen Militärlebens waren und nicht die Regel.
Wenn Sie nur diese Ausnahmeerscheinungen gemeint haben, dann sind wir mit Ihnen einig. Aber wenn Sie etwa grundsätzlich jeden Berufsunteroffizier und Berufsoffizier der Vergangenheit unter dieses Motto haben stellen wollen,
dann müssen wir Ihnen entschieden widersprechen, und Ihre eigenen Kollegen sind oft die besten Zeugen dafür, daß es nicht so war.
Nun, daß wir gewisse Risiken auf uns nehmen, das ist klar. Es ist nichts ohne Risiko. Es kommt allerdings entscheidend darauf an, daß man beim Zusammenschluß aller politischen Kräfte sich zur Abwehr des Risikos zusammenfindet und nicht Prinzipien, die außer Streit stehen sollten, zum Gegenstand parteipolitischer Kämpfe macht.
Wir glauben, daß es sehr viele Möglichkeiten gibt, einen Überhang des Militärischen gegenüber dem Zivilen zu vermeiden. Ich denke da beispielsweise an die Einrichtung eines Bundesverteidigungsrats, wie ihn die Vereinigten Staaten kennen, wie ihn, in anderer Form, auch Frankreich kennt. An der Spitze steht der Präsident als Vorsitzender eines National Security Council, eines Bundesverteidi-
gungsrats, dem bei uns beispielsweise angehören sollten der Regierungschef, sein Vertreter, der Innenminister, der Außenminister, der Wirtschafts-, der Finanz- und natürlich auch der Verteidigungsminister. Das wäre das oberste Gremium, vielleicht noch ergänzt durch parlamentarische Vertreter aller Gruppen, selbstverständlich auch der Opposition. Wir werden Gelegenheit haben, in dien Ausschußberatungen — ich hoffe, auch mit der Hilfe der Opposition — jene Formen zu finden, die uns vor den Auswüchsen der Vergangenheit bewahren, die aber auf der anderen Seite das Gute übernehmen.
Was ist nun das Gute? Ich will nicht in den Streit zwischen Picht und Baudissin eingreifen, auch nicht in die Diskussion über die innere Struktur. Man wird kaum von einem Extrem ins andere fallen dürfen, sondern wird hier eine gesunde Mittellinie wählen müssen. Welche denn? Im frontnahen Raum, bei der Infanterie, im Panzer, im Flugzeug, im U-Boot herrschte doch ohnehin nicht der Geist einer Disziplinarvorschrift, sondern der Geist einer Kameradschaft auf Gedeih und Verderb. In diesem frontnahen Raum imponierte doch nicht der Dienstgrad — wie schnell konnte er ausgelöscht sein —, es imponierte auch nicht einmal das Kriegsgericht, denn kaum kamen Kriegsrichter bis zur vorderen Linie. Nein, entscheidend war das persönliche Beispiel.
Das ist das Prinzip, das in den neuen Verbänden herrschen muß: Kein Offizier darf von seinen Untergebenen mehr fordern, als er selbst jederzeit zu geben bereit ist.
Und das zweite: Alles Überflüssige an äußeren Formen muß verschwinden. Wir wollen weder das unlängst in einer Illustrierten dargestellte Revierreinigen noch das Vorbeigehen in gerader Haltung mit zwei Kaffeekannen, das auch ich noch üben mußte, noch sonstige Beschäftigungstheorie. Nein, wir wollen die Ausbildung abstellen auf die eine Frage: Vermittlung des richtigen Verhaltens im Gefecht mit dem Ziel, soviel wie möglich an Menschen heimzubringen, wenn es leider zu einem Gefecht kommen sollte. Denn nicht der ist der beste Vorgesetzte, der mit den höchsten Verlustzahlen brilliert, sondern der, der die meisten seiner Männer wieder heimbringt. .
„Frontal greift nur der Bulle an; der Bulle ist ein Rindvieh", habe ich mal gelernt. Darin steckt mehr Weisheit als vielleicht in manchem Spitzenreferat über neue Formen. Man sollte mit dem Versuch, neue Formen zu finden, nicht gleich alle alten überkommenen Formen mißachten wollen.
Wie ist nun die Frage der psychologischen Bereitschaft der Jugend zu beantworten? Bisher ist von allen Rednern nur festgestellt worden, daß wir bei der Jugend einen Enthusiasmus nicht feststellen können. Gottlob! Auch ich bin der Meinung, daß wir ihn nicht finden können, und es ist eine Freude, wie die Jugend nach den Erfahrungen der Vergangenheit skeptischer und mißtrauischer geworden ist. Aber noch niemand hat hier die Gründe darzulegen versucht für das Phänomen, daß die deutsche Jugend entgegen aller Voraussage aus Paris, London und Washington nicht mit fliegenden Fahnen zu den Einheiten Blanks gekommen ist.
Meine Damen und Herren, es gibt drei Gründe:
Der erste Grund ist der hemmungslose Mißbrauch der Opferbereitschaft und des Idealismus der deutschen Jugend durch Hitler.
Aber daneben gibt es noch einen zweiten Grund: Ebenso ist dafür verantwortlich eine Fehlbehandlung der heimkehrenden Soldaten nach 1945 durch die Alliierten wie zum Teil durch uns selbst.
Ich will hier nicht gewisse Gedichte vollständig zitieren, aber es hat nun mal im Jahre 1947 in einer großen politischen Zeitung in Deutschland über die Soldaten gestanden:
Sie standen in Frankreich und Polen, Sie standen an Wolga und Don,
Sie haben geraubt und gestohlen, Und wissen jetzt gar nichts davon!
Das ist der Ruhm der Soldaten,
— so hieß es in der letzten Strophe —
Helden in Saus und Braus!
Und alles, was sie verbrochen haben, löffeln wir jetzt aus.
Wir können doch nicht daran vorbeigehen, daß das nicht ein Einzelgedicht war, sondern daß auch solche Reden gehalten wurden nach dem Motto: Du, Soldat, bist Kriegsverlängerer, Du, Kriegsopfer, bist schuld! Daher Streichung der Kriegsopferversorgung!
Erwarten Sie denn nach einer solchen Behandlung der Väter, daß die Söhne heute mit Begeisterung wieder Soldat werden?
Nein, meine Damen und Herren, hier liegen auch eigene Fehler vor, eigene Fehler, die zu erkennen und abzustellen auch zu einem demokratischen Grundanliegen gehören müßte.
Ich könnte die Beweise für die Fehlbehandlung nach 1945 noch wesentlich erweitern. Aber es liegt mir daran, nicht neue Gräben aufzureißen, sondern alte zuzuschütten.
Der dritte Grund ist jene gewaltige Hypothek, von der man in Paris, in London, in Washington zu wenig weiß. Man weiß doch kaum in Deutschland die Ziffern der Hypothek des zweiten Weltkriegs und des Verbrechens Hitlers am deutschen Volk.
7 Millionen Tote! 8 Millionen Vertriebene, 2 Millionen Sowjetzonenflüchtlinge, macht 10 Millionen
Menschen mehr im westdeutschen Raum, das heißt,
mehr als die Bevölkerung Australiens, die 8 Millionen beträgt, mehr als die Bevölkerung Dänemarks
und der Schweiz zusammengezählt, die 9 Millionen beträgt. 41/2 Millionen rentenberechtigte
Kriegsopfer, Körperbehinderte, Witwen und Waisen! Und, meine Damen und Herren, ist es Ihnen
nicht selbst aufgefallen, daß die Kriegsopferverbände um jede Rentenerhöhung kämpfen müssen
und daß jetzt sogar in irgendeinem Finanz- oder sonstigen Ministerium der Versuch gemacht wurde, einen Teil der Renten in einem Zwangssparverhältnis einfrieren zu lassen?
Wundern Sie sich angesichts solcher psychologischer Dummheiten, — gottlob sind sie rechtzeitig durch parlamentarisches Eingreifen verhindert worden—, daß die jungen Leute nicht mit wehender Fahne zu den neuen Divisionen kommen wollen, wenn man bisher nicht einmal in vollem Umfange bereit ist, den Opfern des zweiten Krieges ihr Existenzminimum zu geben?
— Mit dem Heimkehrergesetz ist es dasselbe Problem. Sie, Kollege Eschmann, wissen am besten, wie lange es gedauert hat, bis es endlich in Kraft treten konnte.
— An dem Herrn Bundesfinanzminister, der nach den Wahlen das Gegenteil von dem tat, was er vor den Wahlen versprochen hatte.
Aber da er nicht da ist — und mit Kranken soll man sich nicht raufen —, will ich darauf nicht eingehen, Herr Schoettle! Gerade wir von der Koalition, das wird Ihnen Kollege Eschmann bestätigen, haben es dann verstanden, diese Gefahr zu beseitigen.
— Ich kann mich nicht immer nach den Richtungen orientieren, Herr Kollege Schoettle.
Ich halte es da mit dem alten Grundsatz, ,daß Politik nicht mit dem verlängerten Rückgrat gemacht werden sollte, auf dem man sitzt, sondern mit dem Kopf. Ich schaue daher weniger nach den Sitzen, als nach den Köpfen aller Richtungen.
— Es ist doch nicht zu bestreiten, Herr Kollege Schoettle, daß die politischen Bezeichnungen „rechts", „Mitte" und „links" aus der Sitzordnung des alten Reichstags stammen. Da man aber Politik nicht von der Sitzordnung, sondern vom Kopf her machen müßte, sind diese alten Begriffe für mich längst überfällig geworden.
Nun zu der Frage der Fehler, die wir selbst machen.
Die mangelnde Bereitschaft der Jugend ist auch auf eine Art Schocktherapie zurückzuführen, die wir selbst versuchen. Glauben Sie, es hilft, wenn man jeden Tag in den Zeitungen neue Zahlen liest: „500 000 Mann", oder „Neues über die Uniform", über die Besoldung, über „Wehrpflicht oder Miliz"? Ich glaube, es sind in der Pressepolitik so viel Fehler gemacht worden, daß wir auch einmal über die richtigen Formen der Therapie sprechen müßten. Wir sollten nicht immer mit den Mitteln des Holzhammers, mit einer Schocktherapie versuchen, was nur mit kluger Bedachtsamkeit geheilt werden kann.
Niemand darf nämlich glauben, daß man heute mit einigen schönen Reden oder mit irgendwelchen inneren Strukturveränderungen die Divisionen wieder aufstellen kann, die man 1945 wie Viehherden in den Pferch der Gefangenschaft gejagt hat. Eine Armee ist keine Addition von Offizieren, Unteroffizieren, Soldaten und Material; eine Armee ist ein Organismus, und idas Entscheidende am Organismus ist der Geis t. Nach alledem aber, was von den anderen und von uns gesündigt wurde und heute noch gesündigt wird, kann der Geist nicht so sein, wie wir es uns wünschen.