Rede von
Dr.
Hans-Joachim
von
Merkatz
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich zu den allgemeinen Prinzipien der Politik Stellung neh-
men, die in den Vertragswerken von Paris nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft ihren Niederschlag gefunden haben, und hiermit zugleich eine Erwiderung auf die Einwendungen der Opposition verbinden. Der scharfe EVG-Gegner und französische Sozialist Herr Daniel Mayer hat im Auslandspresseklub in Paris kürzlich folgenden Satz gesprochen:
Die Pariser Verträge sichern die Verteidigung der Freiheit, die Verhandlungen mit dem Osten sind die Garantie für den Frieden, Frieden und Freiheit sind eine unteilbare Einheit.
Ich kann nicht der Meinung beipflichten, daß Verhandlungen mit dem Osten schon die Garantie für den Frieden seien. Die Garantie für den Frieden ist bestenfalls das Ziel solcher Verhandlungen. Eine Garantie für den Frieden können sie bestimmt dann nicht sein, wenn sie kein anderes Ziel verfolgen, als die Bemühungen des Westens um die Sicherheit zu verzögern und das bereits Erreichte, nämlich die NATO und das Prinzip der europäischen Zusammenarbeit, sowie die Verwirklichung der uns vorliegenden Verträge zur Sicherung unserer Freiheit zu erschüttern und zu zersplittern.
Vom Prinzipiellen aus betrachtet sollen die vorliegenden Verträge — ich meine den zur Westeuropäischen Union erweiterten Brüsseler Pakt und den Beitritt der Bundesrepublik zur NordatlantikpaktOrganisation — eine empfindliche Lücke im atlantischen Paktsystem ausfüllen und so zur Sicherung der Freiheit beitragen. Um ihre Bedeutung richtig einzuschätzen, sie gegenüber der Position des Ostblocks in einen Vergleich zu setzen, damit ihren Wert für die Sicherheit in ganz Europa und somit auch für Verhandlungen mit der Sowjetunion, vor allem für die Wiederherstellung der deutschen Einheit, richtig zu erfassen, müssen wir das Sicherheitsproblem in Europa im und nach dem zweiten Weltkrieg kurz darstellen, damit wir die Positionen des Ostens und des Westens richtig abschätzen.
Während Churchill schon im Jahre 1943, also noch während des zweiten Weltkriegs, die Konzeption eines europäischen Staatenbundes und eines Europarates, also einer regionalen Organisation, gefaßt hatte, vertrat seinerzeit Roosevelt die alte, schon von Wilson ergriffene Idee der kollektiven Sicherheit einer einheitlichen Welt, also einer globalen Sicherheitsorganisation. Demgegenüber hat Stalin bereits in Teheran — und das bis zum Vollzug des Potsdamer Abkommens — konsequent einen Plan der gewaltsamen Neutralisierung Deutschlands vorgeschlagen und verfolgt. Diese Neutralisierung sollte sich nicht nur auf die Beziehungen Deutschlands zu anderen Staaten, sondern auch auf sein Potential in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, militärischer und geistiger Beziehung erstrecken. Dabei sollte der Sowjetunion die Rolle des Weltpolizisten nicht nur gegenüber Deutschland, sondern praktisch gegenüber ganz Europa zufallen, mit anderen Worten die Vorherrschaft, die Hegemonie. Diese Gedanken sind der Ursprung des Morgenthau-Plans gewesen. Man hielt damals die Sowjetunion für ein demokratisch organisiertes und regiertes Staatswesen. Nachdem sich die Machtgewichte infolge des sowjetischen Waffenerfolges und des Vordringens der Sowjetunion bis in das Zentrum Europas so empfindlich zuungunsten des Westens und Westeuropas verschoben hatten, begriffen die Außenminister, spätestens auf der zweiten Moskauer Konferenz von 1947, daß durch die Isolierung der deutschen Frage eine nicht
abreißende Kette von Auseinandersetzungen zwischen Ost und West begonnen hatte, in deren Verlauf Stalin dem Westen einen Erschöpfungskompromiß abzuzwingen bestrebt war. An dieser Taktik des Ostens hat sich bis auf den heutigen Tag wenig geändert. So verlor man damals und spätestens auf der Londoner Konferenz 1947 den Glauben an die Wirksamkeit eines Systems der kollektiven Sicherheit in einer Welt und kehrte zur Konstruktion regionaler Sicherheitssysteme zurück, die vom Westen allerdings sorgfältig mit der Satzung der Vereinten Nationen in Einklang gebracht worden sind. Dazu hatte vor allem auch der Mißbrauch des Vetos der Sowjetunion im Weltsicherheitsrat beigetragen, der die Wirksamkeit dieser von Roosevelt und Hull erdachten obersten Institution der Welt lahmlegte. Vor allem aber wurde die Illusion der einen und ungeteilten Welt durch die Bildung des expansiven und immer enger integrierten Ostblocks eines militanten Kommunismus zerstört. Damit und durch diese Entwicklung wurde die Frage nach der Verteidigung der freien Nationen, d. h. nach der Sicherheit gegenüber dieser Expansion des militanten Kommunismus, unweigerlich aufgeworfen. Sie begann die ebenso gewichtige Frage der Sicherung vor Deutschland und seiner angeblichen Aggressivität zu überschatten.
Vergessen wir aber niemals, daß jedes Sicherheitssystem immer noch Reste des Gedankens der Sicherung vor einer sogenannten deutschen Gefahr auch im Westen und im westlichen Denken in sich birgt. Jede Betrachtung der Sicherheit in Europa muß, wenn sie im Bereich der Tatsachen und Geschehnisse bleiben will, davon ausgehen, daß die Bildung des Ostblocks unter Führung der Sowjetunion, seine auf der Ausschaltung aller antikommunistischen Kräfte beruhende engste Integration und Isolierung von der übrigen Welt — während der Westen ja nach dem zweiten Weltkrieg abgerüstet hatte und seine liberale Grundidee gegen jede Isolierung gerichtet ist — immer eine empfindliche Bedrohung der Sicherheit der freien Welt darstellen, die zu Abwehrmaßnahmen zwingt.
Deutschland kann in dieser Situation nicht als Vakuum in der Mitte Europas liegenbleiben. Dabei dürfte von besonderer Bedeutung sein, daß die Sowjetunion dazu überging, von Anfang an ihre Besetzungszone in Deutschland zu sowjetisieren, d. h. wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch vollkommen in ihren Machtbereich einzubeziehen, und schließlich unter dem zentralen Kommando Moskaus genau so, wie das bei den anderen Satellitenstaaten geschehen ist, aufzurüsten. Dieses Verfahren wurde jeweils so angelegt, daß die expansiven Maßnahmen als angebliche Gegenmaßnahmen zu Abwehrschritten des Westens getan worden sind. Diese Methode ist bis zum heutigen Tage fortgesetzt worden; denn die Moskauer Deklaration ist nicht etwa Ankündigung von Maßnahmen, die nur geplant sind, sondern die drohende Manifestation von Tatsachen, die längst geschaffen worden sind.
Dennoch gelang es der Diplomatie des Kreml, mit dieser Methode der Umkehrung von Ursache und Wirkung verängstigte Gemüter und Rückversicherer zu täuschen und so Verwirrung und Schwächung in ein entschlossenes Handeln des Westens hineinzutragen.
Dazu kommt die sehr geschickte Ausnutzung der verwundbaren Stellen des Westens mit dem Ziel
der Spaltung und des Aufhetzens der bestehenden Rivalitäten. Namentlich in Frankreich versucht man fortgesetzt Verlockungen auszustreuen mit der Andeutung von Plänen einer gemeinsamen Kontrolle über ein gespaltenes Deutschland, mit dem Aufzeigen einer angeblichen deutschen Gefahr, mit dem Grundanliegen der Sicherung vor Deutschland auf ,dem Weg der Neutralisierung unter der Kontrolle der Sowjetunion und Frankreichs. Vergessen wird hierbei die hochmütige Behandlung Frankreichs durch die Sowjetunion nach dem Kriegsende.
Dem deutschen Volk gegenüber wurde der Trennungsschmerz weidlich ausgenutzt, die deutsche Sehnsucht nach Wiedervereinigung, die letztlich ja nur die Sowjetunion erfüllen kann, gröblich mißbraucht. Jedes Mittel der Versuchung und des Unsichermachens war und ist recht. Man schmeichelt dem deutschen Nationalismus, in der Erwartung, daß der wiedererstarkende Nationalismus in einem neutralisierten, d. h. vom Westen aufgegebenen Deutschland schließlich Anlehnung an die Sowjetunion suchen würde. Man spielt mit Tauroggen- und Rapallo-Komplexen. Man fördert den Ohnemich-Standpunkt. Man umwirbt die Sozialdemokratische Partei, um sie gleichzeitig als Todfeind des Bolschewismus zu beschimpfen. Man spielt mit dem religiösen Pazifismus, um gleichzeitig den bindungslosen Intellektualismus zur Spekulation und zum Pläneschmieden anzureizen. Man malt den angeblichen deutschen Militarismus an die Wand, um gleichzeitig die schwer in ihrem Ehrgefühl gekränkten deutschen Soldaten für die Ideale einer östlichen Gneisenau-Aktion zum Eintritt in die Volkspolizei zu werben. Während die Aufrüstung in Westdeutschland als das Wiederentstehen eines aggressiven Militarismus angeprangert wurde, bezeichnet man die Aufrüstung in der Zone, in der sogenannten DDR, als eine friedliebende Tat zur Verteidigung der demokratischen Errungenschaften. Es gibt leider zahlreiche Gutgläubige, die diese Widersprüchlichkeit und Verkehrung von Begriffen und Tatsachen kaum noch zu durchschauen vermögen, nicht nur in Deutschland.
Zusammenfassend muß man als Ergebnis dieser Entwicklung folgendes feststellen:
Die sowjetische Politik hat schon seit 1943 die Neutralisierung Deutschlands angestrebt, überwacht von einer übermächtigen Roten Armee und garantiert von den Westmächten. Darin sah und sieht die Sowjetunion im Kern die einzig ausreichende Garantie der europäischen Sicherheit nach ihrer Auffassung.
Diesen sowjetischen Zielen hat der Westen ein System gegenübergestellt, das auf einem Integrationsgefälle aufgebaut ist. Der westliche Gegenvorschlag zur Sicherheit, die vorerst nur im Atlantikpakt begründet ist und sonst nur in Plänen, papierenen Plänen besteht, hat in einer Entschließung des Europarates vom 17. September 1953, die von Spaak entworfen worden ist, einen sehr wichtigen und, ich möchte sagen, klassischen Ausdruck gefunden, und zwar in Ziffer 7 — angenommen im Herbst 1953 —:
Die Versammlung ist darum besorgt, den Friedenswillen, von dem sie erfüllt ist, offenkundig zu machen, und vertritt deshalb die Ansicht, daß es angebracht wäre, Rußland als Garantie einen Sicherheitspakt auf Gegenseitigkeit im Rahmen der Vereinten Nationen
vorzuschlagen, an dem die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten, Großbritannien und jene Länder, die der Europäischen Politischen Gemeinschaft zugestimmt haben, oder, wenn sie errichtet ist, diese Gemeinschaft als solche, und möglicherweise noch andere Staaten teilnehmen würden.
Alle diese Überlegungen bauen auf der aktiven Teilnahme der Vereinigten Staaten von Amerika und dem Weiterbestehen des Atlantikpaktes auf. Beides aber ist abhängig vom Schließen der Lücke im westeuropäischen Verteidigungssystem, wie es in dem vorgelegten Vertragswerk vorgesehen ist. Darin liegt der Ernst der Frage, die wir nun in den Ausschüssen zu prüfen und zu durchdenken haben.
Zweifellos ist die Wiederherstellung der deutschen Einheit von einer Einigung über ein auch von der Sowjetunion angenommenes System der europäischen Sicherheit abhängig. Selbst dann, wenn ein solches System gefunden werden sollte — und einige Ansätze haben sich in den Verhandlungen ja schon gezeigt —, hat die Sowjetunion bisher . noch nicht mit einem Wort erkennen lassen, ob und unter welchen Bedingungen, die die deutsche Freiheit nicht gefährden, sie dann eine Freigabe ihrer Zone zugestehen würde.
Ich glaube, es ist notwendig mit Rücksicht auf die Verantwortlichkeit unserer Entscheidung und nicht nur sozusagen als Gegenstand einer geschichtlichen Betrachtung, sondern als Maßstab der Prüfung unserer eigenen Verantwortlichkeit, wenn wir einen Blick auf die Verhandlungen über die Sicherheitsfrage auf der Berliner Konferenz werfen. Vorschlag und Diskussion des Plans Molotows vom 10. Februar 1954 nach dem Modell des Paktes von Rio de Janeiro, ein Vorschlag, den man mit der Deutschland-Note der Sowjetunion vom 10. März 1952, die also fast zwei Jahre älter war, kombinierend vergleichen muß, ergeben zusammengefaßt etwa folgendes Ergebnis, wenn man analysiert:
1. Neutralisierung Deutschlands als entscheidender Schritt zur Aufweichung des westlichen Verteidigungssystems,
2. endgültige Verhinderung der Einbeziehung Deutschlands in das westliche Staatensystem durch
a) vorläufige Aufschiebung der Wiedervereinigung Deutschlands,
b) Verweigerung der politischen Entscheidungsfreiheit der künftigen gesamtdeutschen Regierung,
c) Schaffung eines von der Sowjetunion beherrschten kontinentaleuropäischen Sicherheitssystems.
Dabei sollen den westlichen Mächten nur die papiernen Garantien des europäischen Sicherheitspaktes und die Garantien der Satzung der Vereinten Nationen verbleiben.
Bidault hat seinerzeit auf der Berliner Konferenz diesem Sicherheitsvorschlag Molotows eine westliche Konzeption gegenübergestellt. Kurz zusammengefaßt ist sie folgende:
1. Aufrechterhaltung der bestehenden Sicherheitsorganisationen, d. h. der Vereinten Nationen und des Nordatlantikpaktes,
2. eventuelle Errichtung eines noch nicht näher umschriebenen gesamteuropäischen Sicherheitssystems, als Voraussetzung dafür die Regelung der territorialen Probleme in Europa — er verstand darunter, wie ganz deutlich aus den Reden und den Darlegungen auf der Konferenz hervorging, Deutschland und Osterreich —,
3. Einbeziehung des wiedervereinigten Deutschlands in die westeuropäische Gemeinschaft, wodurch ein selbständiges militärisches Handeln Deutschlands ausgeschlossen wird, und schließlich Aufrechterhaltung der gegen Deutschland gerichteten zweiseitigen Beistandspakte mit der Sowjetunion,
4. Bemühungen um die Herbeiführung einer allgemeinen und kontrollierten Abrüstung.
Es ist sehr interessant, daß die Sowjetunion jetzt mit der Kündigung des französisch-sowjetischen Beistandspaktes gedroht hat.
Ich glaube, daß es nicht möglich ist, sich ein Urteil über den Wert und die Bedeutung der Verträge zu bilden, ohne sich die weiteren Zusammenhänge, ich möchte sagen: die politische Landschaft, in die sie eingebaut sind, klarzumachen. Die westlichen Außenminister haben in Berlin kompromißlos an der NATO festgehalten. Molotow — und das ist sehr interessant — hat auf diesbezügliche Fragen von Bidault nicht reagiert. Unter anderem hat Bidault einmal ganz direkt gefragt — ich will den Wortlaut zitieren „Hält die sowjetische Delegation den Vertrag über die atlantische Verteidigungsgemeinschaft" — also die NATO — „für vereinbar mit dem Projekt, das sie uns vorlegt" über ein europäisches Sicherheitssystem? — „Ja oder nein?" Molotow hat keine Antwort gegeben. In einer etwas späteren Phase der Konferenz ist Molotow auf diese Frage noch einmal zurückgekommen, und das ist für alle die Leute, die so sehr für Verhandlungen sind, eine wirkliche Belehrung; deshalb sei es zitiert. Molotow hat damals folgendes gesagt:
Die Herren Bidault und Eden hatten völlig recht, als sie sagten, daß wir die NATO verschieden einschätzen. Aber ich muß sagen, daß die NATO und die EVG
— die war damals noch aktuell —
nicht ein und dasselbe sind. Die erste Organisation besteht bereits, die zweite erst auf dem Papier.
Dann fährt er fort:
Es gibt einen weiteren Unterschied. Die NATO ist nicht zur Wiederherstellung des deutschen Militarismus geschaffen worden; die EVG ist geschaffen worden, um den deutschen Militarismus wiederherzustellen.
Er hat also hier EVG gegen NATO ausgespielt. Die Schlußfolgerung ist einfach:
— so sagt Molotow —
Wenn die EVG geschaffen werden wird, so werden unsere Meinungsverschiedenheiten zum Quadrat erhoben. Was die NATO angeht, so schätzen wir sie auf verschiedene Weise ein.
Also keine Antwort, es sei denn die Bewertung von Realitäten und Tatsachen. Aber es geht noch weiter: Auf der Berliner Konferenz ist tatsächlich einmal ein Versuch unternommen worden, um festzustellen, ob ein Verzicht auf die EVG die Sowjetunion zu einer Änderung ihrer Haltung bewegen würde. Das steht nicht in den offiziellen Dokumenten, aber in der „Le Monde", und es ist noch in einer anderen Zeitung veröffentlicht worden, so daß man es ziemlich genau nachprüfen kann. Es handelt sich um eine Äußerung von Bidault im Auswärtigen Ausschuß der Kammer. Das gleiche gilt wohl jetzt auch wieder von den Pariser Vertragswerken. — Die Antwort von Molotow lautete damals, daß eine solche Handlung, nämlich der Verzicht auf diese westeuropäische Verteidigungsorganisation, „als eine Geste der Entspannung zur Kenntnis genommen würde". Auch nicht ein Sterbenswörtchen des Anerbietens, etwas von der sowjetischen Position in Deutschland aufzugeben oder auch nur im geringsten nachzugeben!
Das sind Vorgänge, an denen der Deutsche Bundestag bei der Bewertung der Vertragswerke und bei seiner Entschlußfassung einfach nicht vorbeigehen kann. Die Berliner Konferenz hat eindeutig ergeben, daß es das Hauptziel der Sowjetunion zu sein scheint, die Neutralisierung Gesamtdeutschlands unter sowjetischer Kontrolle zu erreichen, und daß papierene Tatsachen, die dazu noch leicht verhindert oder verzögert werden können, keine Realitäten, also auch kein Preis für die Sowjetunion darstellen, irgend etwas zu unternehmen, was sie von den Grundzielen ihrer auswärtigen Politik abweichen ließe.
Der eigentliche Kernpunkt der Verhandlungen von Berlin war damals das sowjetische Ziel, die Atlantikpaktorganisation auszuhöhlen. Das konnte durch eine Offenhaltung der Lücke im europäischen Verteidigungssystem und damit durch die sowjetische Hegemonie über Europa nach Beherrschung Deutschlands geschehen. Aber auch mit dem dann nach der Berliner Konferenz gekommenen Vorschlag vom 31. März, mit dem der Eintritt der Sowjetunion in die NATO angeboten wird, wodurch der Sowjetunion die Mitkontrolle über diesen Kern der westlichen Verteidigung gewährt werden würde, wurde das gleiche Ziel verfolgt und würde in der Sache nur etwas zum Nachteil der europäischen Sicherheit geschaffen werden. Der Vorschlag vom 31. März beruhte darauf, daß in Berlin die Absicht der Verdrängung der Vereinigten Staaten und der Engländer vom Kontinent allzu durchsichtig gemacht worden war und damals von den Außenministern — wie die Presseberichte lauten — mit einem homerischen Gelächter quittiert worden ist. Die Sowjetunion suchte also mit diesem Zugeständnis des Eintritts in die NATO den damals in Berlin hervorgerufenen schlechten Eindruck zu verwischen. Sie operiert immer wieder mit der These, daß die Pläne des Westens auf die Schaffung von Militärblocks, d. h. Blocks, die gegeneinander gerichtet sind, hinausliefen. Die Sowjetunion selbst aber ist nicht gewillt, den von ihr geschaffenen übermächtigen, etwa 800 Millionen Menschen umfassenden Militärblock des Ostens, der durch RotChina in Asien und mit Einfluß auf die ganze Welt gewaltig verstärkt worden ist, auch nur im geringsten aufzulösen. Ohne daß in Anlehnung und zum Erhalten des Atlantikpakts, d. h. zum Erhalten der Hilfe Amerikas zunächst in Westeuropa Sicherheit nicht nur auf dem Papier, sondern wirkliche Sicherheit geschaffen wird, ist kein Verhandlungsergebnis für ein europäisches Sicherheitssystem zum Ausgleich der Spannungen zwischen Ost und
West zu erreichen, es sei denn, in Form der Kapitulation vor dem sowjetrussischen außenpolitischen Ziel. Das haben die Verhandlungen von Berlin und der anschließende Notenwechsel bis auf unsere Tage — in dem sich ja nichts gegenüber der Position von Berlin dem Grunde nach geändert hat — ganz deutlich ergeben.
Mit der westeuropäischen Sicherheit ist aber nur — das möchte ich auch noch analysieren — die Voraussetzung einer Konstruktion des Sicherheitssystems und damit vielleicht der Wiedervereinigung Deutschlands geschaffen, nicht aber schon die Lösung selbst. So stehen sich zunächst zwei Blöcke, wenn diese Systeme su bleiben, der Ostblock und der sich herausbildende Westblock, starr gegenüber. Das darf uns aber nicht daran hindern, bei der Verfolgung unseres deutschen Friedenszieles ganz fest zu bleiben, auch dann, wenn die Sowjetunion nunmehr droht, wie das in der letzten Note und vor allen Dingen in der Rede Molotows zum zehnten Jahrestag des französischrussischen Abkommens geschehen ist. Da hat die Sowjetunion — um es kurz zu machen — gesagt: Wenn ratifiziert wird, dann ist die Lösung der Frage einer Wiedervereinigung Deutschlands gegenstandslos geworden. — Sie hat nicht gesagt „völlig verbaut". Sie hat gesagt, daß dieses Thema dann gegenstandslos ist. Man muß in sowjetrussischen Noten die Worte, die ja nicht die gleiche Sprachbedeutung haben wie im Westen, sehr genau werten. Man muß es mindestens zehnmal lesen und dann mit der Vorgeschichte vergleichen, um ein Bild von dem zu bekommen, was eigentlich gesagt ist. Was dieser Ausdruck „gegenstandslos" heißt, das möchte ich jetzt hier nicht bis ins letzte darlegen; es heißt sicherlich: im Augenblick sieht sie keine Möglichkeit, ihre Politik in der bisherigen Methode fortzusetzen. Das bedeutet aber nicht, daß die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands bisher ein wirklicher Gegenstand sowjetischer Verhandlungen war oder sein sollte.
Hat die Sowjetunion bisher eine Bedingung der Vereinigung Deutschlands in wirklicher Freiheit — ich sagte es schon — auch nur angedeutet? Das ist einfach nicht der Fall. Ihre Angebote waren Angebote und Aufforderungen zur Kapitulation, ausschließlich sich ihrem Willen zu unterwerfen. Sie hat nur ein unfreies, ständiger Intervention ausgesetztes Gesamtdeutschland angeboten, — denn bekanntlich bleibt ja das Einmarschrecht der Besatzungstruppen in dem Vorschlag der Russen bestehen, und zwar nicht etwa an einen objektiven Tatbestand geknüpft, sondern an die willkürliche Entscheidung der bisherigen Besatzungsmacht. Wenn eine dieser Mächte behauptet, daß die Sicherheit wieder bedroht sei, z. B. es habe Streiks in Berlin gegeben usw.; so kann sie dann schon das Einmarschrecht in Anspruch nehmen. Das ist nach dem Vorschlag der Sowjetunion, der auf den 10. März 1952 zurückgeht, ausdrücklich gesagt. Es wird also ein Gesamtdeutschland der Unfreiheit angeboten, das nicht nur, um im Vokabular der Noten der Sowjetunion zu sprechen, „Aufmarschgebiet" — es heißt immer „Aufmarschgebiet des Westens", das brächten die Verträge mit sich —, sondern das ,,Schlachtfeld" zu werden droht, ein Deutschland, das dann verlassen wäre vom Schutz der freien Völker und erdrückt von der Übermacht des östlichen Koloß. Die Sowjetunion hat eine Lösung in Form einer regionalen Organisation Europas — um an meinen Ausführungen in ,
der letzten außenpolitischen Aussprache anzuknüpfen — als einer dritten Kraft, die aber nicht ihrer Vorherrschaft und Polizei unterworfen wäre, stets abgelehnt — schon Lenin und Stalin! —, denn sie will über ganz Deutschland und damit über den ganzen Kontinent herrschen.
Nun fragt man sich — denn das sind alles negative Feststellungen —: läßt sich vielleicht eine Lösung in Form einer Sicherheitsorganisation finden, die nach dem Konstruktionsprinzip eines Integrationsgefälles von West nach Ost und von Ost nach West aufgebaut wird und in der Deutschland — ich meine ein in Freiheit wiedervereinigtes Deutschland — einen besonderen Status erhalten könnte? Das ist die Frage an die Zukunft, die ,aber erst dann gestellt werden kann, wenn die Sicherheit in Westeuropa geschaffen worden ist, die zur Zeit bei weitem nicht besteht. Ein solches System der Sicherheit in Form stärkerer oder schwächerer Bindungen, also eines Integrationsgefälles nach der Mitte Europas zu — ergänzt durch eine kontrollierte allgemeine Abrüstung und eine wirksame Kontrolle atomarer Grundstoffe durch ein unabhängiges Amt, wie es Eisenhower vorgeschlagen hatte —, hätte zur Voraussetzung, daß auch der Ostblock die Integration seiner im Spannungsfeld liegenden Randgebiete in Osteuropa in dieses Integrationsgefälle mit hineingeben müßte. Osteuropa müßte aus dem Satellitenverhältnis weitgehend freigegeben werden.
Wir sind aber noch fern von der Erwägung einer solchen entspannenden Lösung. Wenn der Ostblock wirklich friedliebend wäre, wie er vorgibt, dann würde die Sowjetunion Deutschland und Österreich freigeben. Nichts dergleichen ist auch nur andeutungsweise geschehen.
Es geht um die Bedingungen der Koexistenz und damit um den Friedensschluß im Kalten Krieg zur Vermeidung eines heißen Krieges. Dem militanten Kommunismus gegenüber gibt es keine Koexistenz des freundschaftlichen Miteinander, sondern bestenfalls die Koexistenz des wachsamen Nebeneinander, das vorsichtig jede Verschärfung der Gegensätze vermeidet. Eine Koexistenz aber — und das möchte ich namens meiner Fraktion deutlich sagen — für den Preis der Spaltung Deutschlands wäre verhängnisvoll. Wir könnten uns niemals damit zufriedengeben. Diese Art der Koexistenz, gegründet auf die Spaltung Deutschlands, brächte die größte Gefahr mit sich, vor allem auch die Gefahr eines wiedererstehenden Nationalismus, den ich als eine Pestilenz des 19. und 20. Jahrhunderts bezeichnen möchte. Wir brauchen uns hier nicht über den Unterschied der Begriffe zu unterhalten. Nationalismus hat mit dem selbstverständlichen Nationalgefühl, d. h. dem Gemeinschaftsgefühl der Zugehörigkeit zu einem geschichtlichen Volk, also einer Nation, nichts zu tun. Nationalismus ist eine besondere Form des Massenwahns, eine Kollektivierung der Machtbedürfnisse der kleinen Einzelmenschen, die dann keine Maßstäbe und kein Maß mehr kennen, kein Gefühl für die wirkliche Welt und für die Wirklichkeiten dieser Welt haben und häufig auch gar kein konkretes politisches Ziel verfolgen, eine zügellose Gewalt, die dann allerdings in Händen von Volksführern und Diktatoren große Macht, vorübergehende Macht zu verleihen vermag, solange so ein Wahn herrscht.
Das etwa ist der Hintergrund unserer düsteren Welt, und auf diesem Hintergrund haben wir nun konkret die Bedeutung der Verträge zu prüfen.
Man kann dem Herrn Bundeskanzler nur zustimmen, wenn er festgestellt hat, daß die Sowjetunion mit dem Scheitern der EVG auf dem europäischen Schauplatz ihren größten Erfolg im Kalten Krieg errungen hat. Sie hat damit erreicht, daß die Lücke im atlantischen Verteidigungssystem nicht geschlossen worden ist. Damit ist nicht nur die europäische Sicherheit bedroht, sondern die Wirksamkeit des Atlantikpakts für Europa ist so lange in Frage gestellt, als diese Lücke nicht geschlossen werden kann.
Betrachtet man die geographische Position der westeuropäischen Länder, dann liegt auf der Hand, daß in der Mitte Westeuropas ein Verteidigungskern, ein wirksamer Kern der europäischen Integration geschaffen werden muß. Unter Integration verstehe ich Vorgänge und Zustände sowie Verfahren und Institutionen, die aus Unzusammenhängendem ein Gemeinsames machen. Nur wenn aus dem Unzusammenhängenden ein Gemeinsames gemacht wird, kann die automatische Beistandsverpflichtung, die ja zum Unterschied zur NATO in dem Paktsystem der Westeuropäischen Union vorgesehen ist, auch militärisch zuverlässig funktionieren Gewiß sind die Pariser Abkommen eine diplomatische Notlösung. Man hat sie so bezeichnet. Sie sind mit Rücksicht auf die Französische Union gegen das Konzept einer supranationalen Gemeinschaft errichtet und organisiert worden. Um eine lose Koalition aber handelt es sich dennoch nicht. Wenn die Westeuropäische Union eben nicht ein wirksamer Kern der europäischen Integration wird, dann wird dieser Pakt in jeder Krise vom Zerfall bedroht sein. Dann würde er nicht Sicherheit, sondern Unsicherheit mit sich bringen.
Wir haben uns nun zu fragen, ob die Westeuropäische Union ein Ausgangspunkt, eine Zwischenlösung oder eine Endlösung ist. Die einmalige geschichtliche Möglichkeit wird die Entscheidung in der Frage sein, ob die Pariser Abkommen über die Westeuropäische Union eine Integration Europas mit sich bringen werden oder die Restauration der Nationalstaaten bedeuten.
In der Konstruktion des Paktsystems sind Gefahrenelemente enthalten. Ich will sie nicht verschweigen. Sie liegen meines Erachtens im Charakter der Nationalarmeen, im Fehlen einer wirksamen parlamentarischen Kontrolle, vielleicht auch in der Art der Sonderstellung, die Großbritannien in dieser engeren Koalition einnimmt. Wenn Großbritannien seine Verpflichtungen eng auslegt — und einige Bestimmungen des Vertrages wie auch das Verhalten der britischen Abgeordneten im Europarat deuten darauf hin —, dann muß zwischen den sechs ehemaligen Mitgliedern der EVG, d. h. zwischen den sechs Kontinentalstaaten, ein engerer Zusammenschluß als Gegengewicht im Auge behalten werden.
Ich sprach von einer engeren Koalition. Besser sollte man das System der Westeuropäischen Union eine integrierende Kooperation nennen. Im Pakt sind supranationale Ansätze festzustellen, und zwar in der Organisationsgewalt, die dem Ministerrat der Westeuropäischen Union zusteht, und im System der Mehrheitsbeschlüsse. Hierbei ist zu erwähnen, daß Mehrheitsbeschlüsse in einem rein internationalen Rahmen stets Machtentscheidungen sind, während in der Form supranationaler, also übernationaler Entscheidungen die Schärfe natiolaler Konflikte und Gegensätze vermieden wird. In dieser Hinsicht sollte der Pakt in der Praxis fortentwickelt werden.
Mängel des Vertrages sind das Fehlen einer Organisation der politischen und der wirtschaftlichen Angelegenheiten der Union. Mit dem Fehlen einer wirksamen parlamentarischen Kontrolle ist ein Mangel der Integrationsdynamik in die Vertragswerke hineingekommen.
Bei dieser Lage bietet sich der Ausweg eines Systems abgestufter Rechte und Pflichten an. Dieses System würde es möglich machen, daß auch solche europäischen Staaten dem Verteidigungspakt beitreten können, die nicht mit der Pflicht zum automatischen Beistand aufgenommen oder belastet werden können. Es gibt neuralgische Punkte in Europa, für die automatische Beistandsverpflichtungen zu übernehmen die einzelnen europäischen Staaten zögern werden. Also ist auch hier ein abgestuftes System notwendig und nicht zu umgehen. Der Weg zu dieser Fortentwicklung wäre durch die Möglichkeit und den Abschluß multilateraler Abkommen vorgezeichnet. Ferner scheint mir, wie gesagt, ein Ausbau der parlamentarischen Kontrolle unerläßlich zu sein, und schließlich dürfte auch im Institutionellen der Organisation ein Ausbau in Richtung auf eine stärkere Integration möglich werden.
Das Integrationsziel ist von den vertragschließenden Mächten stets anerkannt worden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die geographische, politische und wirtschaftliche Lage der kontinentaleuropäischen Länder, nämlich in der Mitte Westeuropas, eine andere ist als die Großbritanniens und der übrigen NATO-Mitglieder. Die Notwendigkeit und Möglichkeit multilateraler Abkommen zur Ergänzung und zum Ausbau der Westeuropäischen Union zu einer wirklichen europäischen Gemeinschaft und als Kristallisationskern für Gesamteuropa beruhen auf der Intensität des europäischen Bewußtseins, dem ein politischer Rahmen gegeben werden muß und das nach einem politischen Rahmen verlangt. Nur durch eine solche Gemeinschaft kann eine Entspannungspolitik in weltweitem Maßstab betrieben werden. Ich möchte das ausdrücklich unterstreichen: Kein europäischer Staat, auch keine europäische Großmacht, auch nicht Großbritannien auf sich allein gestellt, kann heute noch eine wirkliche Entspannungspolitik in der Welt betreiben. Wenn man die Politik des Friedens und der Entspannung sucht, dann ist es unumgänglich — nicht hier aus einer gefühlsmäßigen Emotion heraus gesprochen, sondern aus ganz nüchternen und klaren Gründen —, daß wir zu einer europäischen Gemeinschaft kommen müssen. Und wir kommen nur dann dazu, wenn der in seinen Interessen wirklich zu integrierende kontinentale Kern — und das waren die sechs Staaten —, wenn dieser Kristallisationskern für das Ganze geschaffen wird, wenn also diese Politik der europäischen Einigung fortgesetzt wird. Sie ist nicht eine Politik des KleinEuropas, nicht eine Politik des Separierens, nicht eine Politik des Partikularismus, sondern sie ist eine Politik des Schaffens des magnetischen Kerns der Anziehung für die Verschiedenheit und Abgestuftheit der europäischen Struktur.
Die Lücken der Westeuropäischen Union können auf folgenden Gebieten ausgefüllt werden: Institutionelle Ausgestaltung, Vereinbarung auf dem
Gebiet der Rüstungsproduktion — ich halte es da für möglich, noch sehr viele integrierende Funktionen zu finden —, fortschreitende wirtschaftliche Integration in möglichster Anlehnung an die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl — die wir nicht zu einem technokratischen Apparat herabsinken lassen dürfen, sondern die ihren politischen Kern und Wert behalten muß — und schließlich eine Fortsetzung der Bemühungen, eine echte demokratische parlamentarische Kontrolle zu schaffen, um die Dynamik der Integration damit in Gang zu halten.
Meine Damen und Herren, es ist — ich komme zum nächsten Gegenstand der Vertragspakete, die uns vorgelegt worden sind — etwas viel verlangt, das deutsch-französische Abkommen über die Saar befriedigend zu finden. Ich glaube, es ist niemand hier in diesem Saal — wo er auch sitzt —, der dieses Abkommen befriedigend nennen kann.
Meine Fraktion behält ihren zurückhaltenden Standpunkt hinsichtlich der Entscheidung über die Ratifikation zum Zustimmungsgesetz zum Abkommen bei, bis die vom Herrn Bundeskanzler erwähnten notwendigen Klärungen für die Durchführung der Anwendung des Abkommens nach Treu und Glauben und auf der Grundlage einer gesicherten Autorität gefunden werden können. Andererseits kann ich den Dissensus, also das Auseinandergehen der Auslegung zwischen der Auffassung der französischen Regierung und der Auffassung der deutschen Regierung hinsichtlich der Interpretation der Bedeutung des Abkommens, nicht so gewichtig nehmen, wie das gestern aus den Darlegungen der Opposition hervorgegangen ist. Es handelt sich um einen Dissensus, um ein Auseinandergehen der Meinung, mehr um die Frage der vertraglichen Voraussetzung als um den Vertrag selbst, mehr um eine Frage der Qualifikation des Zustandes an der Saar als um den Zustand an der Saar selbst.
Ich möchte ein etwas komisches Beispiel dazu bilden: Hier ist eine Gemse. Die einen sagen: „Eine Gemse? Nein, die Gemse da ist eine bessere Gazelle". Die anderen sagen: „Nein, das ist eine Ziege". — Ja, meine Herren: es i s t eine Gemse!
Wir haben bei der Bewertung des Abkommens davon auszugehen, daß eine autonome Zusammenfassung von Volk und Gebiet an der Saar unter französischer Oberhoheit vor dem Abkommen geschaffen worden ist. Alle Schlüsselfunktionen in diesem Gebiet werden von Frankreich direkt oder indirekt kontrolliert. Ein eigener freier demokratischer Wille, der diesen von Frankreich geschaffenen Zustand etwa nicht anerkennen würde, darf und kann sich nicht entfalten. Wirtschaftlich ist Volk und Gebiet an der Saar vollkommen in der Hand Frankreichs, Diesen Zustand können wir weder politisch noch rechtlich noch moralisch anerkennen. Aber von diesem Zustand, der de facto besteht, muß ausgegangen werden, um die Bedeutung des Abkommens richtig einzuschätzen. Es geht nicht — lassen Sie mich das hier einmal sagen — um Zugeständnisse Deutschlands, denn Deutschland hat de facto nichts in der Hand. Es geht um Zugeständnisse Frankreichs. Dabei sind nun zahlreiche Auslegungsfragen aufgetreten, die die Gefahr in sich bergen, daß aus dem Abkommen nicht Frieden und Versöhnung, sondern Streit und Unfrieden hervorgehen.