Rede von
Dr.
Franz
Böhm
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind heute zum drittenmal in diesem Jahre hier in diesem Hohen Hause mit Fragen der Wiedergutmachung beschäftigt. In den letzten Sitzungen sind Fragen gestellt worden, so die Frage: Wo bleiben die Rechtsverordnungen?, die Frage: Wo bleibt die in Aussicht genommene Novelle?, die Frage: Wie kommt es, daß die Wiedergutmachung in diesem ersten Jahre nach dem Erlaß des Bundesentschädigungsgesetzes ins Stocken geraten ist?, die Frage, die heute gestellt worden ist: Warum sind die Ansprüche, die in diesem ersten Jahre befriedigt werden sollen, bis heute noch nicht aufgerufen worden?, ferner: Warum sind in den Bundeshaushalt 1954/55 keine Mittel eingesetzt worden und warum auch in den Bundeshaushalt 1955/56 wiederum keine? Angeklungen ist die Frage, warum angesichts der tatsächlich ganz ungewöhnlichen Überbeanspruchung der in den Bundesressorts mit der Wiedergutmachung befaßten Beamten die Zahl dieser Beamten nicht erhöht worden ist.
Das Ausland hat im Laufe der letzten Monate insbesondere und mit großem Nachdruck immer wieder die Frage gestellt: Warum wird von der Bundesrepublik der Israel-Vertrag so mustergültig erfüllt, und warum führt die gleiche Bundesrepublik — Bund und Länder zusammen — das Bundesentschädigungsgesetz so schleppend und so schlecht durch? In den Kreisen der Verfolgten ist eine, milde ausgesprochen, große Beunruhigung, eine große Unruhe ausgebrochen. Man kann wohl sagen, daß sich diese Unruhe mit der Zeit zu einer Verbitterung gesteigert hat. Die Abgeordneten dieses Hohen Hauses, die in den letzten Monaten in den Vereinigten Staaten waren, sind, soweit ich sie gesprochen habe, alle aufs höchste beunruhigt und mit einiger Bestürzung über die Klagen und Vorwürfe wegen des Verlaufs der individuellen Wiedergutmachung zurückgekehrt.
Im Plenum dieses Hohen Hauses hat sich ganz einheitlich und ohne Unterschied der Fraktionen die allergrößte Sorge verbreitet, und es ist auch Kritik von allen Seiten des Hauses geübt worden. In der letzten Sitzung, in der wir diese Frage hier besprochen haben, hat auch Herr Staatssekretär Hartmann eine möglichst wirksame Abhilfe der berechtigten Beschwerden zugesagt.
Wie Herr Staatssekretär Hartmann schon ausgeführt hat, ist allerdings seither mancherlei geschehen. Auch Herr Kollege Arndt hat das betont. Zwei Rechtsverordnungen sind in Kraft gesetzt worden, die durchweg in der Öffentlichkeit und auch von den Verfolgten gut beurteilt worden sind. Eine dritte Rechtsverordnung ist im allgemeinen fertig. Diese aber ist doch von allen Seiten her einer mehr oder weniger scharfen Kritik unterzogen worden. Wir haben hier gehört, daß dieser Kritik Rechnung getragen werden soll und daß auch die Wünsche der Länder diesmal so vollständig und rechtzeitig berücksichtigt werden sollen, daß bei den Beratungen im Bundesrat keine abermalige Verzögerung eintritt.
Ferner sind die Arbeiten an der Novelle in Gang gekommen, und zwar in ganzen Ketten von Sitzungen unter dem Vorsitz des Ministerialdirektors Wolf f vom Bundesfinanzministerium und unter Beteiligung von Abgeordneten aller Fraktionen dieses Hauses, von sämtlichen Bundesressorts und von vier Ländern aus dem Kreise des Bundesrates.
In diesen Sitzungen ist bisher ein, man kann wohl sagen, mustergültiges Arbeitstempo eingeschlagen und bereits ein recht erhebliches Arbeitspensum bewältigt worden. Der Herr Bundesfinanzminister hat übrigens auf Wunsch aus diesem Hause den Ministerialdirektor Wolff eigens für diese Zwecke auch noch nach seiner Pensionierung mit der Leitung dieser Arbeiten betraut.
Trotzdem haben wir heute eine große Anfrage und einen Antrag der Fraktion der SPD Ganz zweifellos handelt es sich hier sowohl um eine Große Anfrage als auch um einen Antrag, die beide ihre sachlichen Gründe haben, die wohl von keiner Fraktion dieses Hauses bestritten werden dürften. Diese Große Anfrage und der Antrag und eine neue Debatte im Plenum dieses Hauses über die Wiedergutmachung sind zweifellos nicht überflüssig. Sie sind sachlich nicht überflüssig; sie sind politisch nicht überflüssig. Leider sind sie es nicht!
Wenn wir fragen: Werden das die letzten Anstände auf dem Gebiet der inneren individuellen Wiedergutmachung sein, mit denen wir uns hier
zu befassen haben?, so werden wir sagen müssen: Vermutlich werden es nicht die letzten gewesen sein. Die individuelle Wiedergutmachung ist zu einem Anlaß unserer Dauersorge geworden. Es ist wohl Zeit, in diesem Hohen Hause einmal die Gründe zu untersuchen, auf die dieses beängstigende Zurückbleiben unserer individuellen Wiedergutmachung hinter der mustergültigen Erfüllung des Israel-Vertrags zurückzuführen ist. Die Anmahnung einzelner Verzögerungen und einzelner Maßnahmen reicht zweifellos nicht aus, dem Problem gerecht zu werden. Der Bundestag muß sich der ganzen Frage annehmen.
Ich will zunächst nur zu dem Antrag der SPD Stellung nehmen, nachdem wir in bezug auf die Große Anfrage die Antwort des Vertreters des Herrn Bundesfinanzministers gehört haben. Es handelt sich bei dem Antrag um die Einstellung einer Viertelmilliarde DM in den Bundeshaushalt 1955/56. Es fragt sich, wie diese Ziffer zu beurteilen ist. Daß Mittel in den Bundeshaushalt eingestellt werden müssen, ist selbstverständlich, weil sowohl nach dem Bundesentschädigungsgesetz als auch nach der Veränderung, die der § 77 im Finanzanpassungsgesetz am 19. November erfahren hat, selbst wenn sie in den Verhandlungen des Vermittlungsausschusses beibehalten werden sollte, vom Bund Lasten übernommen werden, die natürlich haushaltsmäßig gedeckt werden müssen. Hier möchte ich aber darauf aufmerksam machen, daß nach der bisherigen Fassung des § 77, also vor der Änderung, die Länder die Lasten der Wiedergutmachung nur vorläufig übernehmen sollten. In Abs. 2 dieses Paragraphen war vorgesehen, daß durch ein Bundesgesetz vor Ablauf dieses Jahres eine endgültige Verteilung der Lasten zwischen Bund' und Ländern vorgenommen werden sollte. Es war dort weiter vorgesehen, daß gewisse Leistungen den Ländern schon für dieses erste Jahr erstattet werden sollten.
Nun ist in § 6 des von uns am 19. November verabschiedeten Finanzanpassungsgesetzes, gegen das noch der Vermittlungsausschuß angerufen ist, zum allgemeinen Erstaunen vorgesehen, daß die Entschädigungslasten endgültig bei den Ländern bleiben sollen und daß von denjenigen Lasten, die der Bund den Ländern erstatten sollte, erstens eine Kategorie weggestrichen wird und zweitens bezüglich der übrigen Kategorien die Pflichterstattung des Bundes an die Länder von 90 % auf 75 % ermäßigt wird; also eine sehr weitgehende Abschiebung in der endgültigen Lastenverteilung vom Bund auf die Länder. Wir haben das im Zusammenhang mit dem Finanzanpassungsgesetz so angenommen.
Ich möchte aber vom Standpunkt der Wiedergutmachung doch einmal auf eines aufmerksam machen. Die Verbrechen, die Verfolgungen von Millionen von unschuldigen Menschen sind nicht von den Ländern, sondern vom Reich verübt worden. Es war die Politik des Reiches und nicht die Politik der Länder, die diese Schäden zugefügt hat.
Nun haben wir aber nach 1945 zunächst nur die Länder als staatsrechtliche Gebilde und Träger irgendeiner Verpflichtung zur Wiedergutmachung gehabt. Die Länder mußten einspringen und sind auf Grund des sogenannten Territorialprinzips eingesprungen. Nun haben wir aber seit dem Jahre
1949 eine Bundesrepublik, und die Bundesrepublik hätte nunmehr die Lasten aus dieser Wiedergutmachungspflicht übernehmen können. Das ist aus naheliegenden Gründen zunächst nicht geschehen, und zwar deshalb, weil die Länder eingearbeitete Wiedergutmachungsapparate hatten und weil sie gewohnt waren, gewisse Mittel hierfür in ihre Haushalte einzusetzen.
Meine Damen und Herren, die Verteilung der Zuständigkeiten auf Bund und Länder ist mit eine der Hauptursachen der Kalamität auf dem Gebiete der inneren Wiedergutmachung.
— "Zahlte keiner von den beiden", Herr Abgeordneter Schröter, ich stimme Ihnen voll bei. So ist die Lage entstanden. Das ist nicht die richtige Verteilung von Lasten und Verantwortlichkeiten, und darin besteht auch der hauptsächlichste Unterschied — ich werde gleich darauf zu sprechen kommen — zwischen dem Israel-Vertrag und der individuellen Wiedergutmachung. Daraus erklärt sich auch, warum der Israel-Vertrag mustergültig erfüllt wird und warum es bei der Erfüllung der individuellen Wiedergutmachung in einem so bestürzenden Ausmaß hapert. Das liegt zum Teil in unvermeidlichen Schwierigkeiten der Sache selbst, die wir durch kein Gesetz, durch keine Anstrengungen und durch keine Maßnahmen beseitigen können. Das liegt aber zu einem großen Teil auch in einer organisatorischen und gesetzlichen Fehlanlage unserer gesamten inneren Wiedergutmachung, nicht so sehr im materiellen Recht — obwohl auch da Mißstände vorhanden und Fehler gemacht worden sind — als vor allen Dingen auf dem organisatorischen Gebiet. Wir haben eine Zersplitterung der politischen Verantwortlichkeiten, wir haben eine Zersplitterung der Lastentragung mit dem Ergebnis, daß, sooft wir hier im Bundestag zu dieser Frage auch sprechen und so einheitlich die Stellungnahme aller Seiten des Hauses zu diesen Fragen ist, das Resultat ist, als ob man das Meer peitschte. Wir haben einfach keine Verantwortlichen vor uns.
Der einzige Verantwortliche, der bisher von uns in Anspruch genommen worden ist, ist der Herr Bundesfinanzminister als Vertreter der Bundesregierung. Aber die Verantwortlichkeit der Bundesregierung, des Herrn Bundesfinanzministers ist nur eine beschränkte Verantwortlichkeit. Darüber hinaus sind für den Vollzug der Wiedergutmachung eine ganze Reihe von Stellen verantwortlich, und zwar sowohl politisch verantwortliche Stellen bei den Ländern, die ihren Landesparlamenten verantwortlich sind, als auch Stellen, die keine politische Verantwortung tragen, nämlich die Gerichte, die nur dem Gesetz gegenüber verantwortlich sind. Dieses Hand-in-Hand-Wirken von unzähligen Stellen mit geteilter Verantwortung führt nicht nur dazu, daß keiner zahlt, weil keiner dulden will, daß der andere für ihn zahlt, sondern auch dazu, daß praktisch niemand vorhanden ist, der für die Wiedergutmachung verantwortlich ist, weil keiner haben will, daß der andere für ihn eine Verantwortung trägt.
Das ist der Punkt, an dem wir meines Erachtens
ansetzen sollen. Diese Fehlanlage hat dazu ge-
führt, daß ein Betriebsunall nach dem anderen eingetreten ist. Sie hat dazu geführt, daß ein bestürzend schlechter Gesamteindruck entstanden ist und daß der tatsächliche Zustand nicht erträglich ist. Sie hat dazu geführt, daß soviel guter Wille im einzelnen bei allen Ressorts, auch bei dem von uns bisher ausschließlich kritisierten Ressort, dem Bundesfinanzministerium, weder die Sache gerettet hat und retten kann noch den guten Eindruck wiederherstellen kann. Aber wir haben schon in der Kritik von Herrn Kollegen Arndt von der Veröffentlichung eines Beamten des Bundesjustizministeriums gehört mit ,der irreführenden Überschrift von den 95 %, die erfüllt worden sein sollen. Wenn man den Artikel liest, kommt man allerdings, wenn die Tatsachen zutreffen — und ich persönlich habe keinen Zweifel daran, - daß sie zutreffen —, auch hier zu der Feststellung, daß ein bestimmtes Bundesressort auf einem Teilgebiet, nämlich der Wiedergutmachung gegenüber den Bediensteten des öffentlichen Dienstes, in seinem sehr beschränkten Sachbereich eine bewundernswerte und rühmliche Arbeit geleistet hat. Aber auch das ist ein Tropfen auf einen heißen Stein. Es heißt Sand in die Augen der Öffentlichkeit streuen, wenn man diese günstigen Bilanzposten, die wir tatsächlich aufzuweisen haben — ich betone das ausdrücklich —, in den Vordergrund schiebt, um damit einer berechtigten nationalen und internationalen Kritik zu begegnen. So liegen die Dinge nicht. Wir müssen hier die Karten offen auf den Tisch legen und müssen sagen, wie sich die Dinge verhalten, ganz nackt und realistisch.
Die Gegenüberstellung der Guterfüllung des Israel-Vertrages und der Schlechterfüllung der Individualwiedergutmachung zeigt, wo die Schwierigkeiten zu suchen sind. Beim Israel-Vertrag gibt es einen Gläubiger, das ist der Staat Israel, und einen einzigen Schuldner, das ist die Bundesrepublik. Im Israel-Vertrag ist der Gesamtbetrag der Wiedergutmachungsleistung in der Form einer einzigen Geldsumme ausgedrückt. Die Jahresleistungen sind im Vertrag standardisiert. Jedes halbe Jahr zahlt der Herr Bundesfinanzminister auf das Konto der Israel Mission bei der Bank deutscher Länder den genau bezifferten Betrag ein. Damit kauft die Israel Mission deutsche Waren nach Maßgabe einer Warenliste, die von Jahr zu Jahr durch Sachverständigenstäbe beider Beteiligten unter Berücksichtigung der Interessen der beiden Beteiligten festgestellt wird. Das alles vollzieht sich im vollen Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit. Hier sind ganz eindeutige politische Verantwortlichkeiten festgestellt. Es handelt sich um eine eindeutige Bundessache, und hier, meine Damen und Herren, funktioniert es ganz ausgezeichnet.
Ich habe keinen Zweifel: wenn die Dinge bei der Individualwiedergutmachung genau so einfach lägen und die politische Verantwortlichkeit genau so eindeutig festgestellt wäre und das Licht der Weltöffentlichkeit das ganze Gebiet ebenso stark durchstrahlen könnte, würden wir auch in der Individualwiedergutmachung eine mustergültige Erfüllung erleben. Aber hier handelt es sich um viele Hunderttausende von Gläubigern und um viele Schuldner, und diese Schuldner teilen sich in zwei Gruppen: es sind Privatpersonen und es sind, was das Bundesentschädigungsgesetz betrifft, Staaten, deutsche Staaten, und zwar zum Teil die Bundesrepublik, im übrigen aber und vornehmlich die Länder. Die Schuld, um die es sich da handelt, ist nicht im Gesetz festgestellt, sondern es sind nur abstrakte Rechtsnormen aufgestellt, und über diese Rechtsnormen wird in jedem einzelnen Wiedergutmachungsfall Streit oder werden mindestens Verhandlungen geführt, und jede einzelne Verhandlung muß mit einer Entscheidung enden, entweder eines Wiedergutmachungsamtes oder eines Gerichts. Die Tatbestände, um die es sich handelt, sind in mehreren Gesetzen aufgezeichnet, in den Rückerstattungsgesetzen, in dem noch zu erwartenden Gesetz über die rückerstattungsrechtlichen Geldverbindlichkeiten des Reiches, in den Entschädigungsgesetzen. Die Entschädigungsgesetze wieder zerfallen in das Bundesentschädigungsgesetz für die Bediensteten des öffentlichen Dienstes und in das Bundesentschädigungsgesetz für die übrige Menschheit. Die Gesetzanwendung ist dezentralsiert auf zwei Säulen, teils auf die Verwaltung — das sind die Wiedergutmachungsämter, und zwar viele und in jedem Land anders organisiert —, teils auf die Wiedergutmachungsgerichte. Sodann sind die Zuständigkeiten in höchst unklarer, unsicherer, provisorischer Weise zwischen Bund und Ländern verteilt, derart, daß die Länder in immer zunehmenden Maße an einer Verminderung ihrer Entschädigungslasten interessiert werden.
Es kommt nun aber dazu, und das bitte ich besonders zu bedenken, daß sich, was die Wiedergutmachung betrifft, der Staat in einer doppelten Rolle befindet, sowohl der Bund als auch die Länder: sie sind auf der einen Seite Träger des Wiedergutmachungsernstes, des moralischen Willens, schwer beleidigtes und gekränktes Recht wiederherzustellen, furchtbare Wunden des Unrechts zu heilen, Schadensersatz für Untaten nach allgemeinen Prinzipien des Rechts aller Völker zu leisten, sie sind aber zweitens auch die Schuldner, die Hauptschuldner der Wiedergutmachungspflicht; und als solche sind sie am möglichst geringen Umfang der Wiedergutmachungsschuld interessiert. Sie sind an einer einengenden Auslegung der Gesetze interessiert. Sie sind daran interessiert, sich die fiskalischen Lasten an diesem Aufkommen gegenseitig zuzuschieben.
Hinzu kommen die Probleme, die sich aus der Rangfolge ergeben, die das Gesetz vorsieht. Wir können nicht alle Wiedergutmachungsansprüche in einem Jahr erledigen und bezahlen. Infolgedessen ist eine Rangfolge eingeführt worden, in der naheliegenderweise insbesondere alte Personen, kranke Personen und erwerbsbeschränkte Personen mit einem Vorrang ausgestattet sind. Das hat nun aber die Wirkung, daß die Wiedergutmachungsämter und die Gerichte zur Zeit fast nur Anträge von Alten, Kranken und Gebrechlichen bearbeiten. Jeder, der einen Anspruch hat, wird also zunächst einmal gefragt, ob er nachweisen kann, daß er über 60 Jahre alt ist, daß er krank ist, daß er bedürftig ist oder daß er erwerbsbeschränkt ist. Also Personen, die zehn oder zwölf Jahre lang verfolgt worden sind und die nach Aufhören der Verfolgung weitere neun Jahre gewartet haben, wird jetzt von den Wiedergutmachungsämtern gesagt: Wir können Ihren Antrag nicht bearbeiten, weil Sie noch keine 60 Jahre alt sind, weil Sie Ihre Bedürftigkeit oder Ihre Erwerbsbeschränkung nicht nachgewiesen haben! Die Betroffenen fragen sich mit Recht: Haben wir nun ein Recht auf die Entschädigung, oder ist die Entschädigung eine Wohlfahrtsleistung?
Meine Damen und Herren, es läßt sich nicht vermeiden, daß wir so in der Reihenfolge vorgehen. Daraus läßt sich aber die Folgerung ableiten, daß wir nicht die ganzen finanziellen Belastungen der Wiedergutmachung auf die Jahre von jetzt bis zum Endjahr 1962 gleichmäßig verteilen, sondern daß wir in den ersten Jahren sehr viel mehr leisten müssen als später. Die bevorrechtigten Gruppen müssen beschleunigt bearbeitet werden, sie müssen beschleunigte Entscheidungen bekommen, und die Entscheidungen müssen sofort erfüllt werden. Alle ersten Rangstufen sollten in einem Jahr oder höchstens in zwei Jahren sämtlich befriedigt werden, so daß dann die normale Entschädigung aller übrigen Fälle einsetzen kann.
Gegenwärtig ist die Tendenz eher umgekehrt, nämlich ein Hinausschieben. Ein Artikel, der von ausländischer Seite in einer deutschen Zeitung erschienen ist und der das Motto trägt: „Morgen, morgen, nur nicht heute!", hat leider einen gewissen Wahrheitsgehalt. Die Ressorts und die Träger der Wiedergutmachung schieben sich nicht nur gegenseitig die Lasten zu, sondern sie schieben auch ihre jährlichen Lasten immer auf die Zukunft hinaus.
Man kann heute schon voraussehen, daß sich der Bundestag im Jahre 1962 einer Regierungserklärung gegenübersehen wird, daß die Fülle der Anträge nicht so rasch habe bearbeitet werden können und daß ,die gesetzliche Frist verlängert werden solle. Man hat nicht den Eindruck, daß eine wirkliche, ernstliche Anstrengung gemacht wird, zeitlich fertig zu werden, und sie wird deshalb nicht gemacht, weil die Verantwortlichkeit zersplittert ist.
Das gilt auch für die Länder selbst. Überall treffen wir auf die Tatsache, daß die Wiedergutmachungsämter oder -ressorts der Fülle der Arbeitslast nicht gewachsen sind. Bei den Wiedergutmachungsämtern der Länder kommt hinzu, daß sie sich aus Beamten oder aus Angestellten
ohne jede Verwaltungserfahrung rekrutieren. Wenn man in letzter Zeit versucht hat, die Zahl der Bediensteten zu erhöhen, so hat man die Erfahrung machen müssen, daß sich kein Mensch gemeldet hat. Es fehlt überall an Kräften. Die Wiedergutmachung ist ein Massenproblem. Nirgends ist dieses Massenproblem auch nur organisatorisch ernsthaft in Angriff genommen worden. Es gehören hierzu organisatorisch begabte Vorstände dieser Wiedergutmachungsämter; ihnen müßte man bis zu einem gewissen Grade freie Hand in der Organisation ihrer Behörden geben. Es sind das aber natürlich geschulte Verwaltungsbeamte, die in der Tradition der üblichen Verwaltungsorganisation aufgewachsen sind und von ihrer Erfahrung her die organisatorischen Fähigkeiten zur Bewältigung eines solchen Massenproblems nicht im vollen Ausmaße besitzen; und von den wenigen Persönlichkeiten, die diese Eigenschaften aufgewiesen haben, sind einige infolge ihres Temperaments in politische Schwierigkeiten geraten und haben inzwischen die Stellen der aktiven Wiedergutmachung verlassen.
Alle diese Dinge haben einen bestürzenden Gesamteindruck hervorgerufen, und es existiert kein Adressat, den wir für diesen bestürzenden Gesamteindruck verantwortlich und haftbar machen können.
Infolgedessen scheint es mir unter allen Umständen notwendig zu sein, daß die Verantwortlichkeit konzentriert wird und daß die Zuständigkeiten konzentriert werden. Wir haben im Bunde eine ganze Reihe von Ressorts, die mit Wiedergutmachungsfragen befaßt sind; zunächst einmal mit dem Bundesentschädigungsgesetz und einer Reihe anderer Arbeiten das Bundesfinanzministerium. Das Bundesfinanzministerium sieht sich für die Dauer etwa eines Jahres einem so gewaltigen Stoßbedarf gegenüber, daß seine Beamten nicht ausreichen, alle diese. Arbeiten gleichzeitig und termingemäß zu fördern. Wir haben aber gleichzeitig die Zuständigkeit anderer Ressorts, z. B. mitzeichnende Zuständigkeit des Bundesjustizministeriums, dann die Zuständigkeit für den öffentlichen Dienst, die sich auf verschiedene Ressorts verteilt: auf das Bundesjustizministerium, das Bundesministerium des Innern, das Bundesarbeitsministerium usw.
Auf dem Gebiete der Wiedergutmachung für den öffentlichen Dienst entwickelt sich die Jurisprudenz und die Auslegung der Begriffe verschieden von der Auslegung der gleichen Begriffe im Bundesentschädigungsgesetz. Allenthalben sehen wir uns einer Sprachverwirrung gegenüber. Alle diese Beamten, alle diese Tätigkeiten müssen auf irgendeine Weise, die ich der Bundesregierung und ihrer Initiative überlassen möchte, zusammengefaßt und einer einheitlichen Dienstaufsicht unterstellt werden. Es müßte innerhalb des Kabinetts die Verantwortlichkeit des Gesamtkabinetts, vertreten durch den Herrn Bundeskanzler, auf das allerschärfste zur Geltung gebracht werden, und ich möchte wünschen, daß auch in den Ländern die Verantwortlichkeit der Ministerpräsidenten für den Vollzug der Wiedergutmachung stärker als bisher in den Vordergrund gerückt wird.
Es ist ferner die Frage aufgetreten, welchem von den anderen Ressorts man die Federführung geben sollte. Im Bund ist es der Herr Bundesfinanzminister. In manchen Ländern sind es ebenfalls die Finanzminister. Aber hier stehen wir vor der Tatsache, daß die zwei Seelen in der Brust, von denen ich gesprochen habe, in ein und demselben Minister in starkem Widerspruch zueinander stehen. Es ist der Widerspruch zwischen dem Interesse an der fairen Durchführung der Wiedergutmachung und dem Interesse an der möglichsten Geringhaltung des Wiedergutmachungbetrages, dem fiskalischen Interesse. Es ist kein Vorwurf, den man einem Finanzminister machen muß, sondern es ist eine Tugend eines Finanzministers, daß er der Ausgabefreudigkeit nicht nur des Parlaments und der Parteien, sondern der Ausgabefreudigkeit überhaupt mit Stärke und Charakter entgegenwirkt, und es ist verständlich, daß der Bundesfinanzminister und die Finanzminister der Länder dasselbe Prinzip auch in bezug auf die Wiedergutmachung vertreten. Aber wir müssen klar und realistisch sehen, daß ausgerechnet der Minister, der verfassungsmäßig dazu bestellt ist, das Schuldnerinteresse des Bundes wahrzunehmen, mit der Aufgabe betraut wird, die Wiedergutmachung so vollständig und so eindrucksvoll wie möglich durchzuführen. Je länger ich mir das überlege, desto mehr komme ich zu dem Ergebnis, daß die Federführung in Wiedergutmachungsangelegenheiten weder beim Bund noch bei den Ländern in die Hände der Finanzminister gelegt werden sollte; denn sie kommen damit in einen Interessenkonflikt,
dem wir sie nicht aussetzen sollten und der auch der Sache nicht bekommt, selbst bei der größten Gewissenhaftigkeit nicht.
Es ist die Frage, wie es mit den anderen Ressorts wäre. Da zeigt sich auf Grund der Erfahrungen der Länder, daß bei einem Übergang auf ein anderes Ressort die Finanzminister mit sehr viel verstärkter Wucht das fiskalische Interesse innerhalb des Kabinetts zur Geltung bringen und daß die Finanzminister bei der sehr starken Stellung, die sie überall nach den Geschäftsordnungen der Kabinette haben, dort häufig durchdringen. Es scheint mir deshalb unerläßlich zu sein, daß die Leiter der Politik, also der Bundeskanzler im Bund und die Ministerpräsidenten in den Ländern, sich und ihren Einfluß in irgendeiner Form stärker in die Wiedergutmachung einschalten.
Eine derartige organisatorische Änderung und eine Vermehrung der Beamten in denjenigen Ressorts und denjenigen Referaten, in denen gegenwärtig wie beim Bundesfinanzministerium ein solcher Stoßbedarf vorhanden, ist, daß das Referat nicht nachkommt, scheiner mir unbedingt erforderlich zu sein. Ich will keine präzisen Vorschläge machen und auch in bezug auf einen Bundesbeauftragten keinen Antrag stellen, obwohl ich gestehen muß, daß durch die Konzentration der gesamten Aufgaben in der Hand eines Beamten, den man dann nennen kann, wie man will, wenigstens eine Verantwortlichkeit für die gesamte individuelle Wiedergutmachung nach außen hin statuiert werden würde.
Ich will mich also hier auf bestimmte organisatorische Anträge oder Vorschläge nicht festlegen; aber es muß etwas geschehen, und ich bin der Meinung, daß wir allerdings, wenn nichts geschieht, bestimmte Vorschläge machen und Anträge stellen müssen, um die Verantwortlichkeit für die individuelle Wiedergutmachung zu vereinheitlichen und klarzustellen, sie an der Staatsspitze zu konstruieren und überall da, wo die Wiedergutmachung an einem zu großen Mangel an Personen und Beamten hängt, Wandel zu schaffen, indem in die Referate, wenn auch nur vorübergehend, d. h. für die Zeit des Stoßbedarfs, Sachkenner eingestellt werden.