Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag steht nun schon das viertemal auf der Tagesordnung. Ich möchte nicht hoffen, daß dies etwa symbolisch sein könnte für die Rangordnung, in der die Betreuung des Spessartgebietes durch die staatlichen Stellen tatsächlich steht. Aber es ist zweifellos ein Verdienst des Herrn Kollegen Dr. Keller, daß er Gelegenheit gegeben hat, in diesem Hohen Hause einmal die Verhältnisse in einer Ecke anzuleuchten, die von einer erschütternden Armut gekennzeichnet ist, vergleichbar mit den Verhältnissen in der Hocheifel, im Bayerischen Wald, im Hunsrück oder etwa im Hümmling, im Emsland. Wir sind der Meinung, daß vielleicht jetzt noch Gelegenheit gegeben sein könnte, ein organisch zusammenhängendes Gebiet, die Ecke Rhön-Spessart, zu einem großen gemeinsamen Sanierungsgebiet zusammenzufügen.
Wie ist der Sachverhalt? Die Rhön ist zum überwiegenden Teil in das Sanierungsgebiet einbezogen, und .die Bevölkerung des Spessarts fühlt sich
nach meiner Ansicht mit vollem Recht — zurückgesetzt. Sie hat kein Verständnis für schematische Gesichtspunkte bei der Hereinnahme in Sanierungsgebiete. Sie versteht die Gesichtspunkte nicht, unter denen der Spessart ausgeschlossen wird.
— Die kenne ich, Herr Kollege Dittrich.
Die habe ich ausführlich gelesen. Aber meine beiden Vorredner haben darauf hingewiesen, daß die Statistik in diesem Falle wirklich einmal lügt und daß diese Richtlinien zu starr sind, als daß sie hier eine Wendung bewirken könnten.
Die Rhön liegt unmittelbar neben dem Spessart. Denken Sie nur an den Sinn-Grund, den Übergang von dem einen in das andere Gebiet. Die Rhön liegt nur — und das berechtigt ihre besondere Förderung — mehr in der Nähe der Zonengrenze. Sonst sind die strukturellen Gegebenheiten in Rhön und Spessart fast identisch, in wirtschaftlicher, in landwirtschaftlicher und vor allen Dingen auch in verkehrstechnischer Beziehung. Man kann nur stichwortartig hinweisen auf die Probleme: Mangelnde Bonität der Böden verhindert oder erschwert intensivere landwirtschaftliche Bewirtschaftungsmethoden, Bewirtschaftung kleinster Flächen, nur zu oft unter 2 ha, meist zwischen 2 und 5 ha; Besitztümer über 5 ha wird man im Spessart überhaupt kaum treffen. Mit Recht ist gefragt worden: Wovon soll eine Familie mit mehreren Köpfen leben, wenn der Jahresertrag nur etwa 400 bis 700 DM ausmacht? Wenn man in die Kleinarbeit hineinsteigt, erlebt man immer wieder mit einer Art Bestürzung, daß nach dem Bedürftigkeitsprinzip Renten unter dem Gesichtspunkt gestrichen oder abgelehnt werden, daß etwas landwirtschaftlicher Besitz vorhanden sei; ein Besitz, der allerdings zum Leben zuwenig und zum Sterben zuviel ist.
Nun sollte man meinen, der Holzreichtum im Spessart könne dort zu einer gewissen Belebung führen. In Wahrheit sind aber zunächst einmal zwei Drittel der Flächen Staatsforsten. Die wenigsten Gemeinden im Spessart haben größeren Waldbesitz. Vor allen Dingen fehlt jede Holzindustrie im Sinne be- und verarbeitender Betriebe. Es ist tatsächlich an dem, daß das Holz aus dem Spessart herausgefahren und an anderen Stellen be- und verarbeitet wird.
Noch nicht erwähnt worden ist die Tendenz zu Ein-Mann-Betrieben im Spessart, die einerseits Rationalisierung und Konkurrenzfähigkeit erschweren und die andererseits verhindern, daß ein entsprechender Nachwuchs für die Wirtschaft und für das Handwerk herangezogen wird.
Am wesentlichsten erscheint mir aber die mangelhafte verkehrsmäßige Erschließung. Die wenigen Betriebe sind überwiegend an die Bahnlinie Würzburg—Frankfurt gebunden. Die Industrieorte Obernburg, Aschaffenburg usw. strahlen nicht genügend aus, und die Plätze im Raum Gemünden-
Miltenberg sind nicht genügend entwickelt. Der Frankfurter Wirtschaftsraum liegt zu weit weg, und selbst da, wo eine Verflechtung vorhanden ist, sind die Fahrtkosten etwa aus dem Raum Alzenau derart hoch, daß sie auch für die Bevölkerung eine außerordentliche Last bedeuten. Die früheren Wirtschaftsverbindungen, die, wie in der Rhön, auch im Spessart bestanden haben, sind heute weggefallen.
Ebenfalls noch nicht erwähnt wurden die außerordentliche Wohnraumnot und die Belegung mit Flüchtlingen. Für 85 000 Haushaltungen stehen in diesem überwiegend landwirtschaftlich orientierten Gebiet nur 52 000 Wohnungen zur Verfügung.
Außerdem soll auch noch einmal gesagt werden, daß der Spessart in letzter Zeit anscheinend als Dauertruppenübungsplatz der US-Einheiten ausersehen ist. Wenn man bedenkt, daß Schadenersatz nur an Private, an juristische Personen und an Gemeinden geleistet wird, nicht aber an die Kreise, dann kann man auch ermessen, wie sich solche Schäden bei ausgedehnten Manövern für die Finanzen der Kreise auswirken.
Besonderen Nachdruck möchte ich auf eine Hilfsmöglichkeit legen. Als solche scheint mir der Fremdenverkehr einen außerordentlich guten Ansatzpunkt zu bieten. Ja, ich glaube, man könnte den Spessart zur Lunge Westdeutschlands machen. Meine Damen und Herren, verübeln Sie es mir nicht, wenn ich hier für diese Ecke ein bißchen Propaganda im Hinblick auf den Fremdenverkehr zu machen bemüht bin: eine ideale Lage, der Übergang sozusagen vom Norden nach dem Süden, die Main-Linie. Der Spessart könnte ein Erholungsund Feriengebiet ersten Ranges werden. Man sollte meinen, daß die größeren Verbände, daß Organisationen und Betriebe dort Erholungsheime errichten könnten, wie z. B. die IG Metall in den letzten Jahren in Lohr schon ein großes Schulungsheim aufgebaut hat. Der Spessart könnte tatsächlich als Fremdenverkehrsgebiet eine grüne Oase in Westdeutschland bedeuten. Darin liegt eine große Chance, allerdings nur dann, wenn eine zentrale und zügige Förderung bewirkt wird.
Die Erweiterung und die Modernisierung der Gaststättenbetriebe im Spessart kann aus eigener Kraft leider nicht auf die Beine gebracht werden. Dazu ist die Kraft sowohl des Regierungsbezirks als auch des Landes Bayern nicht genügend, und die Gemeinden selbst haben bei ihrer bedeutenden Zahl an Fürsorgeunterstützungsempfängern leider auch nicht genügend Möglichkeiten.
Es müßte eine weitergehende verkehrsmäßige Erschließung über die Bundesstraßen B 8 und 26 hinaus Platz greifen. Eine große Hoffnung ist die Autobahn Frankfurt—Nürnberg gewesen, von der in diesem Hause ja auch verschiedentlich gesprochen worden ist. Leider Gottes hat es hier eine große Enttäuschung gegeben. Denn vor drei Tagen ist mir ein Brief aus dem Bundesverkehrsministerium auf den Tisch geflattert, in dem der Baubeginn für das Jahr 1954/55 in Aussicht gestellt ist, und zwar zunächst nur etwa bis an den Rand des Spessarts. Der Aufstieg zum Spessart selbst kann eventuell erst im Jahre 1956 in Angriff genommen werden. Das bedeutet für die dortige Bevölkerung wirklich eine große Enttäuschung, nachdem man sich allein schon von den Bauarbeiten in diesem Gebiet eine große wirtschaftliche Belebung versprochen hatte.
Ich möchte hier eine Anregung an die Herren der Ministerien geben, die allerdings, soviel ich sehe, heute kaum vertreten sind — aber vielleicht liest man es doch, die Hoffnung habe ich —, nämlich daß man, wenn schon eine Autobahn gebaut wird, ein System von landschaftlich schönen Rasthäusern errichtet, vergleichbar etwa dem Rasthaus Irschenberg an der Autobahn München—Rosenheim; denn das würde viele Menschen, die dort durchfahren, zum Halten veranlassen und würde in etwa diesem Gebiet auch zusätzliche wirtschaftliche Belebung bedeuten.
Jedenfalls wünscht die Bevölkerung eines: nicht eine schematische Klassifizierung, sondern eine individuelle Betrachtung nach der tatsächlichen Lage. Der Ausschußbeschluß — Überweisung als Material — ist nach meiner Meinung mehr eine formelle Entscheidung. In der Sache selbst ist festzuhalten, daß Rhön und Spessart ein gleichgeartetes Gebiet sind und daß infolgedessen einheitliche Hilfsmaßnahmen für beide Ecken getroffen werden müssen.
Meine Damen und Herren, wenn ich lese „als Material zu überweisen", so habe ich genügend parlamentarische Praxis, um zu wissen, was „Material" bedeutet: meistens eine Beerdigung erster Klasse. Hier können wir nur einen Appell — ich glaube, darin sind sich die Abgeordneten, die die Verhältnisse genau kennen, einig, gleichgültig welcher Fraktion sie angehören — an die Bundesregierung, an Finanz-, Wirtschafts- und Verkehrsministerium richten, daß besondere Anstrengungen gemacht werden, damit dieses Gebiet nicht noch weiter absinkt. Die Verhältnisse dort sind des Schweißes der Edlen wert. Aber es müssen sofortige und zügige Maßnahmen erfolgen, wenn eine Wende zum Besseren bewirkt werden soll.