Rede von
Erich
Ollenhauer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Kollege Gerstenmaier, wir müssen diesen Teil der Unterhaltung von heute vormittag noch einmal anfangen, wenn ich Ihre Frage beantworten soll. Ich habe heute morgen ausgeführt, daß das wiedervereinigte Deutschland Teil eines europäischen kollektiven Sicherheitssystems werden soll. Ich habe hinzugefügt, daß die Leistung, die dieses wiedervereinigte Deutschland in diesem europäischen Sicherheitssystem als Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft übernehmen solle, von den interessierten beteiligten Mächten in Übereinstimmung mit der gesamtdeutschen Regierung festgelegt werden sollte, und zwar in einer Weise, daß die Mitgliedschaft eines wiedervereinigten Deutschlands in einem solchen kollektiven Sicherheitssystem weder von der einen noch von der anderen Seite als eine Bedrohung angesehen werden kann. Ich habe hinzugefügt — ich glaube, ich zitiere wörtlich —: „Das bedeutet allerdings, daß ein wiedervereinigtes Deutschland nicht Mitglied einer militärischen Allianz der einen oder anderen Seite sein kann". Das ist eine sehr klare und präzise Bestimmung der Position.
Lassen Sie mich gleich zu Ihrer zweiten Frage etwas sagen. Vielleicht erspart es Ihnen die dritte. Sie haben die Frage gestellt: Soll man ein solches Zugeständnis hinsichtlich dieser Allianzfreiheit einer gesamtdeutschen Regierung v o r der Zusage und vor der Durchführung von freien Wahlen in Gesamtdeutschland machen? Sehen Sie, Herr Gerstenmaier — das ist auch eine Bemerkung zu einigen Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers —, da liegt die Krux. Es ist heute mit Recht wiederholt gesagt worden — es tut mir leid, daß ich hier noch einmal auf die Dinge eingehen muß; aber ich glaube, sie sind wichtig genug —: es ist die Auffassung nicht nur der deutschen Sozialdemokraten, sondern auch vieler anderer. in der Welt, daß man in Berlin auf der letzten Vier-Mächte-Konferenz zu keiner wirklichen Verhandlung über das deutsche Problem gekommen ist.
Denn was war denn die Verhandlungssituation? Wir alle ohne Ausnahme hier, die deutschen Parteien, die deutsche Bundesregierung und die Westmächte waren uns einig, daß eine Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit auf einer anderen Basis als auf der freier Wahlen nicht möglich ist. Es gibt niemand unter uns — ich meine, bei den Sozialdemokraten —, der von diesem Grundsatz abzugehen bereit ist. Aber was hat sich in dieser sehr interessanten Berliner Konferenz als ein echtes internationales Problem herausgestellt, das gelöst werden muß, wenn weitere Vier-Mächte-Verhandlungen über die deutsche Frage vorankommen sollen? Das Problem ist doch einfach das: Natürlich weiß die Sowjetunion vorher mit derselben Sicherheit wie wir, daß, wenn freie. Wahlen in den vier Zonen von Deutschland und damit auch in der Sowjetzone akzeptiert werden, das Resultat dieser Wahlen den Verzicht der Sowjetunion auf ihre Machtposition in der von ihr besetzten Zone bedeutet. Sie können doch nicht bestreiten, daß, wenn das so ist, jede Verhandlung über die deutsche Frage, die von der anderen Seite die Vorleistung der Blankozusage zu freien Wahlen verlangt, sich totläuft,
außer wenn wir bereit sind — und das ist der Sinn eines der Punkte in unserem. Antrag —, d. h. wenn der Westen und die Bundesrepublik, die Bundesregierung, bereit sind, zu akzeptieren, daß die Frage der freien Wahlen, die wir kompromißlos fordern, und die Frage des Status eines wiedervereinigten Deutschlands in einem internationalen oder europäischen Sicherheitssystem als ein Ganzes mit dem vierten Partner behandelt werden.
Ich glaube, das ist eine sehr realistische Beurteilung der Situation. Sie hat überhaupt nichts mit Sympathie oder Antipathie für die eine oder andere Seite zu tun. Wenn es um die Frage der Sympathie geht, dann muß ich feststellen, daß wir in bezug auf die Sowjetunion und die Kommunisten außerordentlich schlechte Partner für die andere Seite sind, und wir gedenken es auch zu bleiben. Aber hier geht es um eine ganz reale Machtverteilung.