Herr Kollege Arndt, ich bin der von Ihnen vielleicht nicht geteilten Ansicht, daß die Abrüstung der Weimarer Republik und die Parallelerscheinungen in der Welt dazu geführt haben, daß ein Friedenszustand in der Welt nicht eingetreten ist, und daß diese Situation der 14 Jahre von 1919 bis 1933 Wesentliches zur Herbeiführung der weltpolitischen Krisensituation beigetragen hat, die wir erlebt haben.
Aber sei es, wie es sei, meine Damen und Herren, es geht hier um die Frage, ob es richtig ist, bei Menschen, die vor der Notwendigkeit eines militärischen Dienstes stehen können, den Eindruck zu erwecken, als ob heute eine Sicherung unserer Freiheit, der Aufbau einer staatlichen Macht nicht mehr nötig sei.
Ich muß deutlich aussprechen, daß das nicht meine Überzeugung ist, und ich glaube, daß es alle nüchtern Denkenden in gleicher Weise ebenso sehen. Das ist kein erfreulicher Zustand, bei Gott nicht; aber es ist ein Zustand, der auf der Situation der Welt beruht, und diese Ansicht nimmt das ernst, was in Ost und West, was insbesondere aber im Osten vorliegt. Darüber ist heute bereits einiges gesagt worden.
Wir sind weiterhin der Meinung, daß es nicht geraten ist, mit dem Prinzip des Pazifismus zu versuchen, die Weltprobleme zu lösen.
Wir wehren uns weiterhin dagegen, daß man in einer falschen Gleichsetzung den Pazifismus und den Willen zum Frieden identifiziert.
Ich billige jedem und jenen insbesondere, die bei Ihnen in dieser Arbeit stehen — ich kenne die Herren ja sehr genau —, die ehrliche Überzeugung zu, daß sie durch ihr Verhalten und ihre pazifistischen Programme dem Frieden der Welt dienen wollen. Wir müssen aber erwarten, daß man nicht anderen, die in Erkenntnis einer bestimmten politischen und machtmäßigen Situation den Frieden und das Gleichgewicht der Welt auf andere Weise sichern wollen, unterstellt, daß sie damit nicht den Frieden, daß sie vielleicht sogar den Krieg wollten. Das ist nicht möglich.
Und das zweite, was mich eigentlich noch mehr bewegt: Der Herr Kollege Ollenhauer hat gesagt, es gehe darum und es sei möglich gewesen, nach dem Scheitern der EVG-Pläne einen neuen Start der deutschen Außenpolitik und insbesondere der Politik in Richtung auf die Wiedervereinigung
Deutschlands zu machen. Ich habe mit gespannter Aufmerksamkeit darauf geachtet, was uns denn nun heute als konkreter Inhalt eines solchen Handelns vorgetragen und geraten worden wäre, und ich muß zu meinem Bedauern sagen, daß das heute über die eindrucksvolle Bekundung des Willens zur Einheit wiederum nicht hinausgekommen ist und daß wir leider wiederum nicht gehört haben, wie die Vertreter der Bundesregierung in London, wie die Bundespolitik überhaupt und wir eine neue Chance für die Förderung der deutschen Einheit hätten schaffen können.
Die Forderungen von Herrn Kollegen Erler: Niemals sowjetisches Satellitensystem für Deutschland, niemals Abfinden mit der Spaltung, niemals Krieg, sind so selbstverständliche Grundprinzipien unserer Politik, daß wir sie alle mit dem gleichen Nachdruck aussprechen können.
Aber ich muß dasselbe sagen, was der Herr Kollege
Gerstenmaier soeben gesagt hat: Wir hätten gerne
gewußt, wie man diese Grundprinzipien anders
verwirklicht, als wir es uns nun seit einigen Jahren durch die Außenpolitik der Bundesregierung
und der Mehrheit des Bundestages zu tun bemühen.
Eines muß ich nun doch sagen. Herr Kollege Erler hat in einer Weise, die mich betrübt hat, weil sie eigentlich vielleicht etwas an den Dingen vorbeiging, gemeint, gegenüber der Zitierung des Wortes von den 50 Millionen durch den Herrn Bundeskanzler die bessere Verantwortung seiner politischen Freunde und seiner selbst für die 70 Millionen herausstellen zu müssen. Es gibt einige Beweise und Belege dafür, daß wir mit diesen Zahlen schon öfter im Bundestage gearbeitet haben und daß es nicht immer die Opposition gewesen ist, die das Wort von den 70 Millionen gebraucht hat. Mir ist in demselben Augenblick dasselbe eingefallen. Ich möchte hier aber doch einmal eines aussprechen, weil mir in der ganzen Diskussion der letzten Zeit die Gefahr zu bestehen scheint, daß wir die gegenwärtige Aufgabe der Bundesrepublik und die ihr aufgetragene Verantwortung bis zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung Deutschlands nicht ernst genug nehmen:
Wir haben keine Veranlassung, diesen Staat und seine Funktion zu bagatellisieren. Wir haben seine Verantwortung für die 50 Millionen Deutschen ernst zu nehmen, weil wir wissen, daß es für 70 Millionen Deutsche niemals eine Freiheit gibt, wenn sie nicht für die 50 Millionen sichergestellt wird.
Ein Weiteres. Mit einer gewissen Kritik ist von Herrn Kollegen Neumann in der „BZ" von heute und dann in Übereinstimmung mit ihm von Herrn Kollegen Erler gesagt worden, für Berlin sei j a gar nichts Neues erreicht worden; Berlin sei in der gleichen Situation wie vorher. Meine Damen und Herren, mir scheint es nach diesem gefährlichen Vakuum ein außerordentlich großer Erfolg zu sein, daß Berlin in der gleichen Situation wie vorher ist
und daß die Alliierten wiederum eindeutig die Versicherung abgegeben haben, daß sie einen Angriff auf Berlin als einen Angriff auf sich selbst betrachten werden. Wie die Dinge heute liegen, war bestimmt nicht mehr für Berlin zu erreichen. Dann sollten wir das aber auch nicht zum Gegenstand einer Polemik zwischen Opposition und Regierung werden lassen.
— Herr Kollege Brandt, den Wahlkampf in Berlin werden wir schon mit anderen Argumenten zu führen haben, darauf können Sie sich verlassen.
Ich glaube, die Deutschen im Osten sind über ihre Lage, über den Ernst und die Bedrohlichkeit ihrer Lage vielleicht besser im Bilde, als wir es manchmal sind, die in der Versuchung stehen, uns und ganz Deutschland schon wieder als viel zu gesichert anzusehen.
Sie wissen wahrscheinlich auch besser Bescheid über die heute höchst bescheidenen Möglichkeiten des praktischen Tuns auf politischem Gebiet, um den Gedanken der Einheit Deutschlands weiterzubringen, und sie wissen drittens über die äußere, militärmäßige und machtmäßige, politische und über die weltanschauliche Bedrohung, in der sie und wir mit ihnen stehen, besser Bescheid als wir, die wir aus der Distanz solche Dinge oft genug nur debattieren. Meine Damen und Herren, sie wissen aber auch eines: daß, wenn es eine politische Chance für sie gibt, sie in der Politik der Bundesregierung und der Bundesrepublik und ihren Erfolgen und in keinem anderen Moment liegt. Sie wissen— das ist nun doch sehr konkret zu sagen—, daß es keine Chance gäbe und daß das Wollen der deutschen Wiedervereinigung, das wir uns nun endlich einmal mindestens im Grundsatz gegenseitig zugestehen sollten, auf schwachen Füßen stände, wenn es auf dem isolierten politischen Willen und Können der Bundesrepublik Deutschland beruhen müßte.
Daß wir, wie die Dinge heute liegen, vom Osten keine Unterstützung darin haben werden, wissen wir. Wenn wir aber Unterstützung brauchen, dann werden und können wir sie nur vom Westen haben. Ich glaube, die Deutschen in der Zone haben alles Verständnis dafür, daß es gelungen ist, von 1945 über 1949 bis heute eine grundsätzliche Wandlung in der Anschauung und Politik des Westens herbeizuführen und das an politischen, verpflichtenden Zusagen zu erreichen, was in London wieder ausgesprochen worden ist und was ja doch nicht das Ergebnis einer zufälligen Konstellation, sondern das Ergebnis eines zielbewußten Handelns der Bundesrepublik und der Bundesregierung seit Jahren ist.
Wir wehren uns — das ist heute erfreulicherweise nicht in diesem Hause geschehen, aber es geschieht außerhalb dieses Hauses — gegen die Verharmlosung des Ostens. Besuchsreisen in Mos-
kau pflegen eine sehr oberflächliche Information zu ermöglichen und führen dazu — —
— Ich meinte nun niemand in diesem Hause, Herr Kollege Heiland, auch wenn Sie sich freuen.
— Allein der Name könnte mich ja schon veranlassen, Sie gern zu haben.
Ich sagte, Besuchsreisen in Moskau sind ein sehr unzureichendes Mittel. Wenn man darüber so berichtet, daß man plötzlich bei manchen leichtgläubigen Leuten den Eindruck zu erwecken wünscht, als ob der russische Bär keine Krallen mehr hätte, sondern sich zu einem friedlichen Zirkusbären entwickelt hätte, ist es kein guter Dienst, den man dem deutschen Volk und den Christen in Deutschland leistet. Das möchte ich einmal deutlich ausgesprochen haben.
Das heißt übrigens nicht, daß wir in eine Katastrophenstimmung hineinfallen wollten. Niemand wird uns vorwerfen dürfen, daß wir mit der Erzeugung von Katastrophenstimmungen glaubten, Stimmung für die Politik der Bundesregierung machen zu müssen. Es ist leider so, daß die Sachverhalte völlig ausreichen, Befürchtungen zu begründen, die uns ganz bestimmte Wege unserer Politik vorschreiben.
Das bedeutet nicht — um das immer noch einmal zu sagen —, daß wir jemals meinten, man käme mit den Sowjets zu einer vertraglichen Vereinbarung unter dem Zeichen einer Bedrohung ihrer Sicherheit. Wenn es denn — und es wird ja auch heute wieder davon gesprochen — eine russische Furcht vor einem Angriff gibt — es scheint mir im Augenblick im Blick auf Rußland und die Satellitenstaaten nicht so übermäßig substantiiert zu sein —, wird niemand mehr als wir, die wir wissen, was Sicherheit und Frieden sind, allen Anlaß nehmen, in den kommenden Zeiten dafür zu sorgen, daß durch wirkliche Systeme kollektiver Sicherheit diese Befürchtung ausgeräumt wird.
Wir werden ein Weiteres zu tun haben. Wir werden uns darüber klar sein müssen, daß es in Verhandlungen zwischen dem Westen und dem Osten — Herr Kollege Erler hat ja freundlicherweise darauf hingewiesen, daß wir eigentlich gar nicht verhandeln können, sondern daß die eigentlichen Partner Washington und Moskau sind darauf ankommen wird, daß sich das für die eine wie für die andere Seite lohnt, auch für den Osten. Ich bin sehr erstaunt gewesen, daß der Sozialdemokratische Pressedienst, als ich diesen banalen Satz vor einigen Tagen aussprach, geschrieben hat, das sei so vernünftig und decke sich so mit der Überzeugung der Sozialdemokratie, ja es sei mit der Regierungspolitik so wenig vereinbar, daß man eigentlich mit einem Dementi, einer Klarstellung oder etwas Ähnlichem rechnen müsse. Meine Damen und Herren, ich erkläre hier ausdrücklich, daß weder dementiert noch klargestellt wird. Es ist vielmehr meine ehrliche Überzeugung — und ich darf annehmen, die aller vernünftigen Menschen in der Bundesrepublik; auch der Herr Bundeskanzler hat das vorhin ja mit aller Deutlichkeit ausgesprochen —, daß wir nicht damit rechnen können, daß die Russen sich plötzlich in einen Weihnachtsmann verwandeln und uns die deutsche Einheit zum Geschenk machen, sondern daß sie es tun werden, wenn es sich für sie lohnt, 'auf ihre Macht in der sowjetisch besetzten Zone zu verzichten.
Jeder Vernünftige unter uns weiß, daß dieser Preis nicht allein von uns, vielleicht überhaupt nicht von uns gezahlt werden kann, sondern daß er nur auf weltweiter Basis ausgehandelt werden kann.
Wenn das aber richtig ist, dann heißt das doch, daß es nichts Vernünftigeres gibt als das, was die Bundesregierung getan hat, nämlich diese Verhandlungsposition zu schaffen, die Voraussetzungen dafür aufzubauen, damit — wenn Sie so wollen — die Waffen gleich und gleich sind, nämlich am Verhandlungstisch, und nicht die eine Seite der anderen etwas diktieren kann. Ich glaube, das ist das richtige System eines Gleichgewichts in Europa und in der Welt.
Aber dann erscheint es mir, verehrter Herr Kollege Schmid, auch nicht möglich, zu sagen, man könne das nur erreichen und die zukünftige Wiedervereinigung Deutschlands sei nur gesichert, wenn wir Bündnisse weder nach der einen noch nach der anderen Seite hätten. Ich glaube mich zu erinnern, daß wohlkonstruierte und gegeneinander. abgesicherte Bündnisse immer noch die vernünftigste Möglichkeit der Sicherung des Friedens und der Herstellung eines europäischen Gleichgewichts gewesen sind. Und wir werden das im Ergebnis wohl auch zu tun haben. Wir sollten uns nicht überschätzen.
Was mir am Herzen liegt, ist, noch einmal zu sagen: lassen wir doch endlich den ausgesprochenen oder unausgesprochenen Vorwurf, daß der eine weniger oder mehr die deutsche Wiedervereinigung wolle als der andere. Wir sind uns über die Wege nicht einig. Die Auswahl an aufgezeigten Wegen ist bis heute wirklich nicht groß.
Wir haben aber gesehen, daß wir auf dem Wege, den wir gegangen sind, bisher mindestens das eine erreicht haben, daß wir den uns zugänglichen Teil der Welt dazu veranlaßt haben, mit uns in dieser Frage an einem Strang zu ziehen.
Das ist sicher noch nicht das Ergebnis; aber es ist eine Voraussetzung für das Ergebnis.
Darum sollte uns eines hier und im Lande klar sein, daß wir diese Politik weiter betreiben müssen, daß wir auf der anderen Seite das, was in unseren Kräften steht, tun müssen, um den Deutschen im Osten zu helfen, über diese bittere Zeit des Wartens hinwegzukommen. Es gibt dazu viele ungenutzte Möglichkeiten. Vielleicht könnte es sogar eine Hilfe sein, wenn die dazu vorhandenen und eingesetzten Mittel aus dem Inland und aus dem Ausland noch sinnvoller und konzentrierter eingesetzt würden und wenn nicht manchmal diese Frage mit einer Art Trapper- und Indianerspiel verbunden würde. Das nutzt nicht der Zone, das
nutzt nicht den deutschen Menschen und nutzt nicht der deutschen Wiedervereinigung. Wir haben — nun muß ich, entschuldigen Sie, wieder davon sprechen, nicht, weil ich Oberkirchenrat bin, sondern weil ich mit einigen Kollegen der verschiedenen Fraktionen dort war — auf dem Leipziger Kirchentag erlebt, daß die inneren Kräfte unserer Brüder im Osten stärker sind, als sie nach dieser Belastung eigentlich noch sein könnten. Es geht also nicht nur darum, äußere, finanzielle, wirtschaftliche und technische Voraussetzungen zu schaffen, sondern darum, diese inneren Kräfte zu stärken. Das ist eine Forderung, in der es keine parteipolitische Scheidung, in der es nur eine Zusammenarbeit aller gibt. Es ist gerade ein Jahr her, daß man in Berlin in einer Feier der Übergabe der Freiheitsglocke gedacht hat, die die Amerikaner der Stadt Berlin geschenkt haben. Mir bleibt im Herzen — und das ist nun keine gefühlvolle Erinnerung —, daß Berliner Jungen in dieser Feierstunde zum Abschluß sangen:
Wo sich Männer finden, die für Ehr und Recht mutig sich verbinden, weilt ein frei` Geschlecht.