Herr Präsident Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Diskussion hat einen Grad erreicht, der es schwierig macht, die Situation, in der wir uns befinden, in aller Ruhe weiterzubesprechen. Wir haben den Wunsch, diese Situation in aller Ruhe mit Ihnen, vor Ihnen und vor dem deutschen Volk weiter zu klären. Es ist unser fester Wille — ich glaube, darin nicht nur für mich allein zu sprechen —, ein Maximum an nationaler Solidarität in diesem Augenblick herbeizuführen. Wir machen kein Hehl daraus, und wir haben das nie getan, daß mit dem 30. August 1954 ein entscheidender Abschnitt unserer politischen Entwicklung beendet wurde. Wir sind uns auch völlig klar darüber gewesen, daß dieser 30. August 1954 uns vor neue, außerordentlich schwere Aufgaben stellen wird.
Die große Gefahr, in die nicht nur Deutschland, sondern Europa durch den 30. August geraten ist, hat sich zunächst in einer allgemeinen Betretenheit, einer Ratlosigkeit, ja in einer Art von Desintegration angekündigt, die sogar für unsere Opposition etwas Bedrückendes gehabt hat. Ich glaube, daß ich das aussprechen darf, denn ich habe mit einer gewissen Anerkennung verzeichnet, daß kein sehr lauter Jubel über den 30. August 1954 bei der deutschen Opposition ausgebrochen ist. Ich würde es auch für verfehlt halten, wenn dieser Jubel nachträglich einsetzte. Denn das, was wir heute hier gehört haben sowohl vom Herrn Kollegen Ollenhauer wie soeben vom Herrn Kollegen Erler, läßt sich in vielem hören. Aber es steht alles in
einem Irrealis, in einer Generalkondition, die in den Worten des Kollegen Erler etwa so aussieht: Wenn wir eine Lösung des kollektiven Sicherheitssystems finden könnte n, dann läge darin die Sicherung für uns und unsere Nachbarn zu beiden Seiten, im Osten und im Westen. Ja, meine Damen und Herren, wenn das alles wäre, dann könnten wir diese Diskussion beenden und könnten sagen: in diesem frommen Wunsch vereinigen wir uns. Aber leider ist die Politik nun weder ein Verfahren, um gelegentlich einmal seinem Unmut Luft zu machen und gegenseitig abzurechnen — das ist nicht so furchtbar interessant —, noch ist die Politik ein allgemeines Wunschfeld. Ich bin mit dem Kollegen Erler völlig darin einig, und ich könnte ebenso sagen wie er: Deutschland niemals den Sowjets! Deutschland wird niemals seine Spaltung hinnehmen! Deutschland immer dem Frieden! Aber die Frage, um die es hier in Wirklichkeit geht, das Thema dieses Tages ist nicht die Feststellung solcher Kardinalüberzeugungen und -wünsche, sondern es ist die Diskussion des Weges, der zur Erreichung dieser Ziele gegangen werden muß.
Dabei ist uns nicht damit gedient, daß Herr Kollege Ollenhauer — übrigens in einer Form, die der Sache einfach nicht gerecht wird und auch den Tatbeständen widerspricht — uns noch einmal mit seinem globalen Sicherheitssystem im Rahmen der Vereinten Nationen kommt. Der Herr Kollege Ollenhauer hat geglaubt, es sei eine Unziemlichkeit, wenn man von dieser Stelle aus erkläre, wie ich es getan habe — wozu ich mich freimütig bekenne — und wie ich es auch heute zu tun gedenke, daß nach unserer immer wieder vorgenommenen Überprüfung das gegenwärtige globale Sicherheitssystem, so wie es in den Statuten der Vereinten Nationen vorgesehen und wie es im Weltsicherheitsrat der Verwirklichung nähergebracht worden ist, die enormen Belastungen der Auseinandersetzungen zwischen Ost und West nicht getragen hat, daß es diese Auseinandersetzungen nicht zu bewältigen vermochte. Nur dadurch kam es zu der Ersatzlösung der europäisch-atlantischen Verteidigungsgemeinschaft in Gestalt der NATO. Wenn wir Deutsche nun kommen und sagen: was uns betrifft, so werden wir an einem irgendwie gearteten Sicherheitssystem nur dann teilnehmen, wenn es global ist, dann heißt das, daß wir uns die Welt malen, wie man sie sich wünscht, aber die Welt nicht hinnehmen, wie sie ist. Das würde ich doch für ein höchst fatales Rezept für den Weg unseres Volkes in die Zukunft halten.
Ich persönlich stimme mit dem Herrn Kollegen Ollenhauer darin überein, daß das eine ideale Konzeption ist und daß wir uns von Herzen wünschen müßten, daß diese Konzeption — d. h. die Vereinten Nationen mit der Einrichtung des Weltsicherheitsrates — unsere Sicherheitsprobleme lösen könnte. Aber sie hat es nicht getan. Der Weltsicherheitsrat und die Statuten der Vereinten Nationen haben den russischen Vormarsch bis hinein nach Europa, bis tief hinein nach Südosteuropa nicht aufzuhalten vermocht. Das hat eben erst das Wort des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika im Frühjahr 1947 zu tun vermocht. Erst als Mr. Truman vor der russischen Invasion nach Griechenland gesagt hat: Bis hierher und nicht weiter! —, erst da kam die russische Walze in Europa zu einem Stillstand, um allerdings kurz darauf in Ostasien weiterzugehen.
Wir unterscheiden uns von dem Herrn Kollegen Ollenhauer — das hat auch der Herr Bundeskanzler schon angedeutet — ganz fundamental nicht nur in der Konstruktion. Diese Debatte zeigt, daß offenbar in absehbarer Zeit keine Aussicht dafür besteht, eine Einigung zu erzielen, obwohl ich persönlich bei allen meinen Vorbehalten gegen die Londoner Schlußakte doch einen Schimmer von Hoffnung hatte, daß sie wenigstens der SPD die doch eigentlich von ihr erwünschte und gewünschte Gelegenheit geben müßte, nunmehr einzutreten. Ich muß — bei all meinen Bedenken gegen die Londoner Schlußakte — doch sagen, daß diese Schlußakte ein Entscheidendes geleistet hat. Sie hat es fertiggebracht, daß das unerhört gefährliche Vakuum im Herzen Europas beendet wurde. Sie hat gezeigt, daß, auch wenn eine Konstruktion nicht durchkommt, wenn eine Konstruktion wie die EVG leider scheitert, dann wenigstens soviel europäischatlantische Solidarität vorhanden ist, daß sie in der Lage ist, das lebensbedrohende Vakuum zu füllen.
Infolgedessen muß man, wie man auch im einzelnen zu der Londoner Schlußakte steht, die Leistung und das Ergebnis als solche begrüßen, und zwar nicht nur begrüßen für die freie Welt, sondern insbesondere für das Leben und die Zukunft unseres Volkes.
An dieser Begrüßung hat es bei der Opposition ebenso gefehlt wie an der doch nun billigerweise zu erwartenden Zustimmung und Begrüßung des anderen: daß mit dieser Londoner Schlußakte der Besetzung Deutschlands und damit einem Kapitel der deutschen Geschichte ein Schlußstein gesetzt wird, das wir nur mit Scham und Trauer in unsere Erinnerung hinübernehmen können.
Die Diskussion hat gezeigt, daß wir nicht nur in der Beurteilung der Konstruktion, sondern auch in der Beurteilung der Lage weit auseinandergehen. Ich kann mich hier kurz fassen und kann nur noch einmal sagen: Herr Ollenhauer, Ihre Lagebeurteilung nehmen wir Ihnen nicht ab. War Genf so trostreich? Sind die bewaffneten Vorstöße — der Herr Bundeskanzler hat davon gesprochen — gegen Formosa so ermutigend? Sind die Abrüstungsverhandlungen ein Erfolg? Was hat Herr Molotow gestern in Berlin eigentlich Beruhigendes zur deutschen Situation und was hat er zur Beruhigung der Welt zu sagen vermocht?
Hat Herr Spaak in Straßburg die Lage nicht diametral anders und ebenso richtig beurteilt, wie sie Herr Ollenhauer hier falsch beurteilt hat?
Ist, meine Damen und Herren, die potentielle Aggression gebannt, weil seit Korea Moskau in Europa vorsichtiger geworden ist?
Ich habe heute in einer Zeitung eine Notiz gefunden, wonach sich der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes mit seinen Kritikern auseinandergesetzt und folgenden Satz ausgesprochen hat: „Wir sind nie begeisterte Militaristen gewesen, aber wir sind bereit, uns zu verteidigen, wenn Not uns dazu zwingt."
— Ja, die Not. Es scheint mir, Herr Ollenhauer ist mit seiner Fraktion der Meinung, daß jetzt nicht die Stunde der Not sei, sondern daß man die vielleicht abwarten müsse und daß man dann erwägen könne, auf die Linie zu treten, die Herr Freitag hier angedeutet hat.
Wir unterscheiden uns in der Lagebeurteilung von Herrn Ollenhauer. Wir sind im Sinne dieses Satzes des Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes der Meinung, daß uns die Not heute dazu zwingt, das nicht zu ignorieren, was in London neun Mächte zu gestalten versucht haben und von dem wir nur hoffen und wünschen können, daß etwas Konkretes und von diesem Haus zu Ratifizierendes daraus wird.
Lassen Sie mich noch ein Zweites dazu sagen. Ich glaube, daß man, ohne die Leistung von London zu schmälern, freimütig wird sagen können, daß noch besser als die Verlautbarung von London und die Londoner Schlußakte die Regierungserklärung gewesen ist, die der Herr Bundeskanzler diesem Hohen Hause kürzlich hier vorgetragen hat. Warum? Deshalb, weil sich in dieser Regierungserklärung ebenfalls gezeigt hat, daß die Kraft ungebrochen weiter am Werke ist, die unsere deutsche Politik in den letzten Jahren gestaltet hat. Wenn irgend jemand angenommen hat, daß wir am 30. August 1954 zerbrechen oder daß wir mit unserer Konzeption zerbrechen würden, dann hat er sich getäuscht. Man sollte uns auch nicht unterstellen, daß wir zu jeder Biegung und Wandlung bereit seien. Wir sind zu allem bereit, was notwendig ist in dieser Welt der harten Tatsachen, zu allem, was notwendig ist für die Lebenssicherung des deutschen Volkes. Aber wir sind nicht bereit zu einem Verzicht, der einen Bruch mit dem Charakter unseres politischen Verhaltens nach dem zweiten Weltkrieg überhaupt bedeuten würde. Das heißt, wir sind nicht bereit — auch trotz allem, was uns Herr Erler hier eben vorgerechnet hat —, dem Ziel abzusagen, zu dem wir uns bekannt haben und das wir wiederum an die Spitze der Entschließung gestellt haben, die wir diesem Hohen Hause zur Abstimmung vorlegen werden.
Es kann ja gar keine Rede davon sein, daß nunmehr die Politik der europäischen Integration gescheitert ist. Meine Damen und Herren, ich mache nicht den mindesten Hehl daraus, daß ich die Londoner Schlußakte kritisch betrachte. Warum? Weil sie — das sage ich offen und frei — für gewisse Leute, die im 19. Jahrhundert haften geblieben sind, die Möglichkeit bieten könnte, zurückzukehren zu den alten, verstaubten und sehr blutbefleckten Mitteln und Methoden des 19. Jahrhunderts. Sehr verehrter Herr Dr. Dehler, hier handelt es sich nicht um Mystik, nein, hier handelt es sich einfach - darum, daß wir bereit und entschlossen sind, aus den Erfahrungen von zwei Weltkriegen Konsequenzen zu ziehen, die wir nicht fahrenlassen, die wir nicht aufgeben, weil uns ein 30. August 1954 in den Weg kam.
Das tun wir nicht. Wir haben auch gar keinen Anlaß dazu, diese Sache zu bagatellisieren. Der 30. August 1954 hat uns gezwungen, Umwege zu machen. Wir sind auch gezwungen, uns in Geduld zu fassen. Wir sind gezwungen, nunmehr diese und jene Aushilfe zu benützen. Aber wir sind bei aller Bereitschaft, in dieser Geduld Schritt um Schritt
einen mühsamen Weg weiterzugehen, nicht bereit, die allgemeine Richtung, das große Ziel zu wechseln, zu ändern oder fallenzulassen!
Deshalb ist nicht nur für die Deutschen, sondern, wie ich meine, auch für unsere Vertragspartner von London und in der Zukunft von Wichtigkeit, was in der Regierungserklärung zu diesem Punkte gesagt worden ist. Ich glaube, für meine Freunde zu sprechen — ich denke, auch für die Koalition; unsere Entschließung bringt das zum Ausdruck —, wenn ich sage, daß wir diesem Punkt in der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers große Bedeutung zumessen. Wir glauben, daß es eine Pflicht und eine Aufgabe nicht n u r der deutschen Politik, aber vor allem der deutschen Politik ist, mit unseren französischen Freunden, mit allen anderen Bereitwilligen zusammen dafür zu sorgen, daß bei der Durchgestaltung der Londoner Schlußakte in die konkreten Vertragsinstrumente denkbar viel und alles getan wird, was möglich ist, um der supranationalen Entwicklung zum Sieg zu verhelfen.
Meine Damen und Herren, die Londoner Schlußakte hätte, so wie die Dinge stehen, der deutschen Sozialdemokratie eine Chance geboten, ihr unglückliches Verhältnis zum Integrationsgedanken zu revidieren.
Es hätte nicht so zu geschehen brauchen, daß sie dabei das Gesicht verloren hätte. Wir muten das niemandem zu, auch nicht unserer Opposition. Aber es hätte eines Schrittes mehr bedurft als den, den Herr Kollege Ollenhauer heute vollzogen hat. Er hat begrüßt, und ich respektiere das, daß der Verband gelockert, der supranationale Charakter auf ein Minimum, vielleicht sogar auf einen rein intergouvernementalen Charakter — entschuldigen Sie das schreckliche Wort, es ist eines dieser Fachworte geworden — reduziert worden ist. Durch diese Reduktion des supranationalen Charakters des EVG-Vertrags auf den intergouvernementalen Charakter der Londoner Schlußakte wäre doch der deutschen Sozialdemokratie eine Chance geboten gewesen, ohne Gesichtsverlust darauf einzugehen. Ich habe verstanden, daß Herr Ollenhauer es zwar begrüßt, daß. London sein Verhältnis zu den Kontinentalmächten, die an der Integration beteiligt waren, revidiert hat, daß es sich zu engerer Bindung entschlossen hat. Aber ich habe nicht gesehen, daß sich die deutsche sozialdemokratische Opposition bereit erklärt hätte, auf diesem Wege mit neuem Ansatz in eine Richtung mitzugehen, die nach meiner festen Überzeugung in ihrer eigenen Tradition mit angelegt sein müßte. Die Überwindung nationaler Grenzen, die Zusammenarbeit freier Völker, — ich kann mir nicht denken, daß das nicht mit ein Ideengut der klassischen deutschen Arbeiterbewegung gewesen wäre. Herr Marx, Herr Engels hin und her, — lassen wir sie fahren; aber, meine Damen und Herren, Sie können mir nicht sagen, dieser Gedanke sei eine Sache, der Sie nicht ebenso verpflichtet sein und dem gegenüber Sie nicht ebenso offen sein müßten wie wir.
Statt dessen haben wir heute noch einmal das betrüblichste Argument gehört, das wir uns überhaupt denken können, nämlich, daß man sich aus der Furcht vor einer zweiten Spaltung Europas an der alten Integrationsidee nicht habe beteiligen können
und daß man sich aus Sicherheitsgründen oder aus Gründen der Wiedervereinigung auch jetzt nicht bereitfinden könne, daran mitzuwirken. Es ist einfach eine politische Kultlegende, wenn man das Wort von der zweiten Teilung Europas vorbringt. Warum, meine Herren von der Sozialdemokratie, sind es denn gerade die Sozialisten des Westens, die mit fliegenden Fahnen als Fahnenträger der europäischen Integration neben uns gestanden sind? Und Sie haben gefehlt! Warum?
Herr Erler, Sie haben uns nun hier die kleinen Mittelchen und Mängel vorgerechnet, Sie halten ausgerechnet der Regierung, die ihre ganze Kraft dareingesetzt hat, die europäische Vereinigung dadurch zu erreichen, ja zu erzwingen, daß sie die Bastionen der nationalen Souveränität, nämlich die Nationalarmeen, aus der Welt schafft, halten dieser Regierung vor, daß sie am Schwanz der Europäer marschiere. Das ist ja geradezu grotesk. Sollen wir Ihnen etwa abnehmen, daß es besser gewesen wäre, europäische Briefmarken oder europäische Jugendpässe zu schaffen? Auch dafür sind wir. Wir sind für die europäischen Briefmarken, wir sind für die Jugendpässe, wir sind für alles, was Sie uns auf dieser Linie vernünftigerweise überhaupt vorschlagen und vorschlagen können. Aber wir wollen diese Verniedlichung nicht. Wir lassen uns dadurch nicht von der Erkenntnis abbringen, daß der Kampf um die Bastion geführt werden muß, und diese Bastion heißt: die Wehrverfassungen dieser Staaten.
Wie konnte Herr Erler uns das vorhalten! Ich muß schon sagen, das war wirklich unter dem Niveau eines Kollegen, der vier Jahre im Europarat neben uns saß. Es mag sein, daß in der Bürokratie der Bundesregierung, in unseren Ministerien die eine oder andere Vorlage ungebührlich lange unterwegs war. Gewiß, wir wünschen mit Ihnen, daß es schneller geht. Warum nicht? Insofern begrüße ich den Appell, insofern nehme ich das Monitum von Herrn Erler hier an, und insofern sollte es auch die Bundesregierung hier aufnehmen. Aber wir sollten uns doch dadurch keinen Augenblick davon abhalten lassen, auf den Kern der Sache zu sehen. Man kann mit lauter solchen kleinen Ausflüchten bequem um den Kern der Sache herumgehen. Aber dann ist nichts geschafft, selbst wenn wir die europäische Briefmarke haben.
Hier ist gesagt worden, daß die Furcht vor der sogenannten Nord-Süd-Teilung Europas, daß diese politische Kultlegende die Sozialdemokratie gehindert habe, mit anzutreten. Meine Damen und Herren, wir haben nie ein Hehl daraus gemacht, daß das Europa der Sechs auch für uns ein Notbehelf war. Wir haben niemals ein Hehl daraus gemacht, daß es nicht nach unserem Wunsch und Willen war, den EVG-Vertrag mit 6 statt mit 14 europäischen Nationen zu schließen. Wir haben auch niemals ein Hehl daraus gemacht, daß wir es für ein großes Unglück gehalten haben, daß die Statutenreform im Europarat gescheitert ist. Wir haben niemals ein Hehl daraus gemacht, daß es nicht unseren Wünschen entsprach, daß die kontinentale Integration ohne England vor sich gehen sollte, nachdem wir im August 1950 unter dem bestimmenden Eindruck gestanden hatten, daß der Mann, der im Anblick des Kanonendonners im Fernen Osten zum Hauptsprecher der Europaarmee in Straßburg geworden war, nämlich Winston Churchill, eine echte supranationale Organisation mit parlamentarischer Kontrolle damit gemeint hat. Daraufhin sind wir angetreten, und wir halten es auch heute noch für richtig, daß der Bundeskanzler auf diesem Wege weiterging, auch als die 14 sich auf 6 reduzierten. Wir waren der Meinung und sind es heute noch, daß die Bildung eines Integrationskernes nicht nur vertretbar, sondern einfach eine Notwendigkeit geworden ist.
Ich halte es für möglich, daß die Londoner Schlußakte sich in den Verhandlungen der nächsten Wochen bei einer richtigen Wahrnehmung der Chancen, die in der Londoner Schlußakte liegen, als Anstoß für den stockenden Straßburger Wagen auswirkt. Wir haben gar keine Absicht, die unbefriedigende Situation in Straßburg irgendwie zu beschönigen. Ich glaube, man kann sagen, daß London den stockenden Straßburger Wagen in Fahrt bringen kann. Uns soll es recht sein, nichts lieber als das! Aber wir sprechen hier auch mit aller Bestimmtheit aus, daß sich die Londoner Akte nicht zu einer Paralysierung der politischen, militärischen, wirtschaftlichen und sozialen Integration auswachsen darf. Der Londoner Beschluß könnte unter Umständen das eine oder das andere sein. Deshalb ist es, glaube ich, entscheidend, daß diese Grundsätze und dieses Material in dem Sinn, in dem Geist und in der Richtung geformt und gestaltet werden, wie es in der Regierungserklärung hier vor dieses Hohe Haus gestellt worden ist. London muß ein Ausgang zur Einigung Europas im Sinne supranationaler Gestaltung sein und werden.
Wir werden prüfen, und zwar sehr genau auch in diesem Hause prüfen, was die Londoner Schlußakte dafür leistet und was daraus in dieser Richtung zu machen ist.
Ich werde nun wahrscheinlich morgen oder übermorgen hören, daß man uns dafür Sturheit oder Wirklichkeitsfremdheit anhängen will. Ich habe in diesen Monaten beobachtet, daß eine Reihe von Leuten, die sich in den letzten Jahren scheintot gestellt haben, als wir darum kämpften, daß Europa und das Nationalbewußtsein der europäischen Völker einen anderen Charakter gewinnen als im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, jetzt ihre Zeit für gekommen halten, um aus den Löchern zu kriechen. Meine Herren von der Opposition, das ist nun doch ganz gewiß nicht zu Ihrer Freude; darin sind wir uns doch hoffentlich miteinander einig. So ist doch die Sache nicht gemeint, daß etwa durch den 30. August 1954 alle reaktionären Nationalisten von ehedem ihre Zeit und ihre Tage noch einmal am Horizont der europäischen Geschichte heraufdämmern sehen.
Wenn man aber das nicht will, meine Damen und Herren, dann ist es nicht genug, daß wir uns hier solche Redeschlachten liefern. Dann ist es auch nicht erlaubt, so, wie es der Herr Kollege Erler getan hat, den Versuch zu machen, uns ein Bein zu stellen, wie er es vorhin mit dem Bericht des Kollegen Bohy im Allgemeinen Ausschuß des Europarats tat. Es liegt mir nicht an der Polemik; aber es liegt mir alles daran, unseren entschiedenen Willen dafür zu bekunden, daß die größte politische Idee dieses Jahrhunderts nicht an Klippen solcher Art scheitern darf.
Ich glaube damit schon ausgesprochen zu haben, daß heute nicht die Stunde der Resignation ist, daß heute auch nicht die Stunde der eiligen Flucht
in den verstaubten und blutbefleckten Zauber der Militärallianzen, diplomatischen Abreden und politischen Koalitionen geschlagen hat. Auf Grund der Debatten dieses Tages muß ich aber doch fragen: Wo steht nun dabei eigentlich die SPD? — Meine Damen und Herren von der SPD, Sie müssen sich entscheiden! Es ist unerläßlich! Sie kommen uns mit dem Vorschlag der globalen Sicherheitskonzeption. Das liegt weit hinaus. Im übrigen, meine Damen und Herren, bin ich der Meinung, daß das Konzept des Kollegen Ollenhauer und das, was hier vorgetragen ist, sich gar nicht unbedingt auszuschließen brauchen. Es war nie ein Zweifel darüber, daß die vertragschließenden Mächte etwa der Londoner Schlußakte sich seit Jahr und Tag darum bemühen, die Konstruktion der Vereinten Nationen festzuhalten und den Weltsicherheitsrat zum Funktionieren zu bringen, also eine globale Weltsicherheitsorganisation nach wie vor und trotz der betrüblichen Erfahrungen der letzten zehn Jahre festzuhalten entschlossen sind. So, wie die Dinge liegen, meine Herren von der Opposition, hat es aber keinen Zweck, uns oder dem deutschen Volke zuzumuten, daß wir den dritten Schritt vor dem ersten und vor dem zweiten tun sollen.
Das ist vollkommen unmöglich, und ein solches Verfahren sollte man uns nicht mehr zumuten.
Wo steht also hier in dieser Sache und bei diesem Thema nun die SPD? Ich muß gestehen, daß mich weder die Rede des Kollegen Ollenhauer noch die Rede des Kollegen Erler darüber zu belehren vermochten.
Ich habe mir überlegt, ob man unterstellen soll, daß es eben. die konservativen Züge sind, die sich in einer Partei, die im Begriff ist, sich von Karl Marx abzusetzen, nun darin zu Wort melden.
Wir begrüßen solche konservativen Entwicklungen. Aber, meine Damen und Herren, wir würden es auch begrüßen, wenn sich neben diesen konservativen Zügen nun gewisse Züge der Aufgeschlossenheit und der Offenheit gegenüber einer großen, nach neuen Ideen zu gestaltenden Zukunft bemerkbar machen würden. Davon haben wir wenig bemerkt, wenig oder nichts. Denn mit europäischen Briefmarken ist es nicht getan!
— Ach, meine Herren, schreien Sie doch nicht!
Sie wissen doch selber, wie schwer Sie es damit haben. Ich will Ihnen etwas sagen. Neulich ist an diesem Pult ein Redner gestanden, der Uhland zitiert hat. Wenn ich daran denke, dann fällt auch mir wieder mein Landsmann Uhland ein und ein Gedicht, das einigen von Ihnen wohlbekannt ist. Herr Kollege Erler kennt es aus seinem schwäbischen Aufenthalt:
Untröstlich ist's noch allerwärts;
doch sah ich manches Auge flammen,
und klopfen hört` ich manches Herz.
So geht es mir mit einer gewissen Rührung, wenn ich die europäische Gesinnung in der deutschen Sozialdemokratie sehe.
Man sieht die Augen allerdings mehr flammen und hört die Herzen mehr klopfen außerhalb Ihrer Fraktion in Ihrer Partei; aber man kann sie flammen sehen und kann sie klopfen hören, und das ist für uns immerhin ein kleiner Trost und eine bescheidene Hoffnung. Vielleicht gelingt es auch noch, diese Augen und diese Herzen in Ihrer Fraktion zum Flammen und zum Klopfen zu bringen, und zwar in dieser Sache.
Hat die SPD mit ihrem Widerstand gegen die supranationale Konstruktion der Wiederbewaffnung wirklich einen ausreichenden Beitrag für diese Lebensfrage der Nation geliefert? Meine Damen und Herren, Sie müssen sich die Frage gefallen lassen! Haben Sie wirklich einen ausreichenden Beitrag geliefert zu dem, was auch nach Ihrer Auffassung von größter Wichtigkeit ist für Deutschland, von größter Wichtigkeit ist für Europa und von größter Wichtigkeit ist für den Frieden der Welt, nämlich einen ausreichenden Beitrag geliefert zur Läuterung und Festigung des gewandelten deutschen Nationalbewußtseins und des gewandelten deutschen Nationalgefühls? Wo bleibt die Befestigung dieser Wandlung? Niemand kann mir vorreden und niemand soll uns unterstellen, wir sagten das nur zur Beruhigung des Auslandes. Niemand soll uns vorwerfen, wir stellten nur aus Propagandagründen oder aus Gründen der Zweckmäßigkeit fest, daß sich in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, vielleicht schon im Dritten Reich und unter Qualen des Krieges etwas vollzogen habe, was man eine Wandlung des deutschen Nationalbewußtseins und des deutschen Nationalgefühls nennen kann. Ich persönlich bin der Meinung, daß es eine tiefe, fruchtbare und segensreiche Wandlung ist. Aber sie muß doch befestigt werden, sie muß doch eine konkrete, feste Gestaltung bekommen. Bei allem Respekt davor, daß sogar meine juristischen Freunde und Kollegen, auch einige in meiner eigenen Fraktion, die institutionellen Formen nicht zu überschätzen geneigt sind und über den Wert institutioneller Formen zurückhaltender denken als ich, der ich nicht Jurist bin, muß ich sagen, meine Damen und Herren: es ist gut, wenn man einen Inhalt, vor allem einen ätherischen Inhalt, einigermaßen verpacken und fassen kann. Infolgedessen meine ich, daß die Wandlung des deutschen Nationalbewußtseins einer entsprechenden Fassung, auch einer entsprechenden institutionellen Fassung, bedarf.
Was haben Sie dafür geleistet, meine Damen und Herren? Ich sage nicht, daß Sie nicht daran teilgenommen hätten. Ich sage sogar, daß die Wandlung des deutschen Nationalgefühls ohne die Mitwirkung der freiheitlichen deutschen Arbeiterbewegung, ohne die Mitwirkung der deutschen Sozialdemokratie gar nicht möglich gewesen wäre. Aber nun gilt es doch, sie zu bewahren und in die Zukunft zu bringen. Es ist doch nicht damit getan, Gesinnungen zu proklamieren. Und welchen Zweck hat es denn, meine Damen und Herren — ich frage noch einmal; ich habe es hier schon einmal gesagt —, über Nationalarmee, Militarismus usw. zu klagen und nach parlamentarischen Kontrollen zu rufen und sich anzustrengen, wie es z. B. der Ausschuß für Fragen der europäischen Sicherheit in diesem Hause wirklich mit Fleiß und anerkennenswertester Mühe tut, was hat es für einen Zweck, nach solchen Kontrollen usw. zu rufen, sich zu
sichern, darüber nachzudenken und danach zu trachten, daß um Gottes willen kein Unglück mehr geschehen könnte, was nützt das alles, wenn man nicht den richtigen Grundansatz findet und sich nicht zum richtigen Grundansatz entschließen will?
Meine Damen und Herren, es ist zu wenig, was Sie in dieser Hinsicht getan haben.
Ich weiß, daß immer wieder all diesen Thesen der Satz vom Primat der Wiedervereinigung entgegengestellt wird. Ich folge dem Herrn Bundeskanzler vollständig aus freier Überzeugung und sage, daß nach meiner Überzeugung die Politik, die deutsche Politik zur Wiedervereinigung, wie sie bisher von der Bundesregierung vertreten und durchgeführt worden ist, seit dem 30. August 1954 ebensowenig ungültig geworden ist wie ihre Integrationspolitik.
Ich erlaube mir deshalb, in diesem Zusammenhang zum Antrag der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei — Drucksache 863 — folgendes zu sagen. Wir sind völlig einig mit den Ziffern 1 und 2 dieses Antrags, und wir könnten uns möglicherweise auch über die Ziffern 3 und 4 verständigen; aber wir können das so lange nicht tun, als wir uns z. B. über die Beurteilung der Lage nicht mehr abgestimmt und nicht besser geeinigt haben, als uns das heute auf Grund der Rede von Herrn Ollenhauer zu tun möglich ist.
Die Ziffer 3 erfordert eine gewisse Übereinstimmung in der Beurteilung der Lage. Die Lagebeurteilung, die uns Herr Ollenhauer heute vorgetragen hat, kann uns im Blick auf die Wirklichkeit der Welt nicht befriedigen. Infolgedessen ist es uns heute nicht möglich, dieser Ziffer 3 frank und frei zuzustimmen. Ich werde mir daher nachher erlauben, zu beantragen, diesen Ihren Antrag an den Auswärtigen Ausschuß zu überweisen. Dort werden wir Gelegenheit haben, uns über diese Ziffer 3 im Zusammenhang mit einer genaueren Lagebeurteilung noch einmal zu unterhalten.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Mein sonst verehrter Freund und Genosse in Straßburg, Carlo Schmid, hat ein sehr unangenehmes Wort zu Herrn von Merkatz gesagt, das ich hier nicht einfach stehenlassen möchte. Erlauben Sie mir, diese Einzelheit dazwischenzuschieben. Er hat vom Causieren an Kaminen in einem Europa, das ein Kartenhaus ist, gesprochen. Meine Damen und Herren, das geht beim allerbesten Willen nicht.
Ich fasse zusammen und sage: Wir begrüßen auch im Lichte der Diskussion von heute aufrichtig das Ende des Besatzungsstatuts in der Londoner Schlußakte. Wo bleibt Ihre Anerkennung dafür? Wir sagen ja zu der Regierungserklärung, d. h. zu der Bewährung und Bestätigung unserer seitherigen außenpolitischen Grundsätze und Richtlinien in der Materie der Londoner Schlußakte, und wir wiederholen unsere Absage und unsere Warnung in bezug auf den Rückschritt. Bedenken Sie, meine Damen und Herren: Stillstand ist schon der erste Schritt nach hinten, und den tun wir nicht. Es ist deshalb ganz selbstverständlich, wenn wir wiederholen, daß uns die kurzgefaßte alte Formel unserer Politik auch heute eine absolut verpflichtende Richtlinie ist, nämlich das vereinigte Deutschland im geeinten Europa.
Meine Damen und Herren, es bleibt mir noch, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der FDP, des
Gesamtdeutschen Blocks/BHE und der Deutschen Partei betreffend die Regierungserklärung vom 5. Oktober 1954, Drucksache 864, formell einzubringen und Ihnen die Annahme dieser Entschließung zu empfehlen. Ich wiederhole, daß wir beantragen, den Antrag Drucksache 863 dem Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten zu überweisen.