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    1. tocInhaltsverzeichnis
      2. Deutscher Bundestag — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Oktober 1954 2235 47. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 7. Oktober 1954. Geschäftliche Mitteilungen . . . . 2235, 2320 A Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung vom 5. Oktober 1954 (Londoner Konferenz) (Anträge Drucksachen 863, 864): 2235 C Ollenhauer (SPD) 2235 A, 2306 C, 2308 B, 2309 A, 2314 B Dr. von Brentano (CDU/CSU): zur Sache .. 2242 B, 2248 B, 2305 A, B zur Geschäftsordnung .. . . . 2286 C Erler (SPD) . . 2248 B, 2287 A, D, 2290 D, 2291 C, 2292 A, B, 2294 A, 2317 D, 2318 C Dr. Dehler (FDP) 2249 D Haasler (GB/BHE) 2249D Dr. von Merkatz (DP): zur Sache 2257 D zur Geschäftsordnung. . . . 2286 A, D Dr. Baron von Manteuffel-Szoege (CDU/CSU) 2264 D Stegner (Fraktionslos 2267 B Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) . 2269 B, 2277 D, 2316 C Kiesinger (CDU/CSU) . . . 2274 A, 2290 C, 2291 C, 2293 D Dr. Adenauer, Bundeskanzler . . 2282 A, 2287 D, 2305 C, 2311 D, 2315 C, 2317D, 2318 C, D Mellies (SPD) (zur Geschäftsordnung) 2286 B Euler (FDP) : zur Geschäftsordnung 2286 C zur Sache . . . . . . . . 2319 C D. Dr. Gerstenmaier (CDU/CSU) . 2292 A, C, 2294 D, 2304 B, 2308 A, 2309 A, C, 2319 B D. Dr. Ehlers (CDU/CSU) . . 2299 C, 2300 C, 2310 B, 2311 B Dr. Arndt (SPD) 2300 C, 2303 A, 2304 C, 2305 B, C Wehner (SPD) 2309 D Heiland (SPD) 2311 A Dr. Becker (Hersfeld) (FDP) . . . 2312 C Dr. Kather (GB/BHE) 2319 A Überweisung des Antrags Drucksache 863 an den Auswärtigen Ausschuß . . . . 2320 C Annahme des Antrags Drucksache 864 2320 C Nächste Sitzung 2320 C Die Sitzung wird um 9 Uhr 5 Minuten durch den Präsidenten D. Dr. Ehlers eröffnet.
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      Rede von Dr. Carlo Schmid


      • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
      • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

      Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Redner der zweiten Runde einer parlamentarischen Debatte haben in erster Linie die Aufgabe, auf das vor ihnen Gesagte einzugehen, in mehrfacher Weise: sie haben die vorgebrachten Argumente auf ihre Schlüssigkeit zu prüfen. Sie haben vielleicht auch das eine oder andere Gesagte richtigzustellen, und schließlich kann es auch notwendig sein, das von den Vorrednern angefangene Gewebe weiterzuweben.
      Ich will mich also zunächst einigen meiner Vorredner zuwenden, zunächst dem Kollegen Dr. Dehler — der leider nicht anwesend ist —, der uns in so sympathischer Weise als Praeceptor Germaniae Lektionen erteilt hat, wie wir uns in diesem Hause verhalten sollten. Er hat das in wirklich sehr sympathischer Weise getan, ganz in der
      Art seines großen Landsmannes Jean Paul, dem wir die Figur des Schulmeisterleins Wuz verdanken.

      (Heiterkeit.)

      Er hat sehr darüber geklagt, daß man in diesem Raume Thesen und Antithesen aufstelle und gewissermaßen plädiere. Nun, ich glaube nicht, daß wir so empfindlich sein sollten. Das Aufstellen von Thesen und Antithesen ist doch schließlich das Lebensblut der parlamentarischen Diskussion, es ist doch vielleicht das Lebensblut der Demokratie überhaupt!

      (Sehr gut! bei der SPD.)

      Ich meine, wir sollten uns auch nicht davor fürchten, uns gelegentlich die Wahrheit oder was wir dafür halten, recht deutlich zu sagen. Auch davon können wir nur profitieren. Und wenn wir hier profitieren, glaube ich, profitiert von einem solchen Prozeß das ganze deutsche Volk.

      (Zuruf von der Mitte: Wir profitieren ja nicht!)

      — Wir sollten es versuchen, Herr Kollege! Auch hier beginnt man am besten zu Hause.

      (Beifall und Heiterkeit bei der SPD.)

      Ich hatte, als der Kollege Dehler sich meldete, nach den Reden und Interviews der letzten Wochen und Monate eigentlich eine Fanfare von ihm erwartet.

      (Heiterkeit. — Zuruf von der SPD: Er durfte nicht!)

      Statt dessen hat er reichlich elegisch gesprochen. Er hat sogar einen großen lateinischen Elegiker zitiert, den Dichter Terenz, der manchem von uns in seiner Gymnasialzeit sehr viele Schwierigkeiten gemacht hat — nicht nur grammatikalische —;

      (Heiterkeit.)

      denn Terenz spricht ja von Dingen, die man, wenigstens zu meiner Zeit, in der Obersekunda in ihrer ganzen Tragweite noch nicht zu übersehen vermochte.

      (Erneute Heiterkeit. — Zuruf von der Mitte: Kommt erst später!)

      Herr Kollege Dehler hat geglaubt, den Begriff der Integration Terenz entlehnen zu können. Nun, mich hat sein Zitat erfreut. Aber vielleicht sollte man doch, wenn man von Integration spricht, nicht meinen, daß der politische Begriff sich mit dem elegischen völlig decke. In der Liebe handelt es sich — Terenz sagt uns das — im wesentlichen um die Stillung von Gemütsbedürfnissen.

      (Heiterkeit.)

      In der Politik handelt es sich darum, daß man die Verantwortung für Pläne zu übernehmen hat, von denen Wohl und Wehe der Völker abhängen können.

      (Sehr gut! bei der SPD.)

      Darum muß man sich auch fragen, ob das Bauwerk, das man errichten will, hält oder nicht hält; und da genügen im allgemeinen, im Gegensatz zu der Welt des Terenz, gute Gefühle und ein gemeinsames Kopfkissen nicht.

      (Heiterkeit.)

      Ich glaube, daß man sich da mehr dem anderen Begriff der Integration zuwenden müsse, dem, den wir — in der Schule sagten wir: zu unserem Leidwesen — Sir Isaac Newton und Leibniz verdanken, dem mathematischen Begriff nämlich, also


      (Dr. Schmid [Frankfurt])

      den Rechnungsmethoden, deren sich die Statiker bedienen, wenn sie einen Entwurf daraufhin durchrechnen, ob er trägt oder nicht. Ich glaube, daß man diesen Aspekt des Integrationsproblems vielleicht nicht genug im Auge behalten hat, als man an diese Vertragswerke ging.
      Herr Dehler hat auch gesagt, er bereue nichts. Er soll auch gar nicht bereuen. Warum auch? Mit Reue kommt man in der Politik nicht viel weiter. Aber er sollte vielleicht etwas aus seinen Mißerfolgen lernen, und dazu sind wir hier.

      (Sehr gut! bei der SPD.)

      Er sagte, „unsere Politik ist nicht gescheitert" — auch Herr von Brentano hat das gesagt —; „denn immerhin haben von sechs Vertragspartnern fünf zugestimmt". Nur einer habe ja nein gesagt. Damit kommen wir zum alten Problem der Kette und der Kettenglieder. Wenn ich mir vornehme, eine Kette zu schmieden, die sechs Glieder braucht, um zu halten, und ich täusche mich bei der Einschätzung des Metalls eines dieser sechs Kettenglieder, dann nützen mir alle anderen fünf Glieder nichts; dann ist die Kette eben nicht zustande gekommen, und ich kann nichts daran aufhängen!

      (Beifall bei der SPD.)

      Und in einem solchen Fall spricht man davon, daß ein Vorhaben gescheitert ist. Man braucht das nicht als Beschimpfung zu nehmen, es ist auch keine Schande. Man kann sich in der Politik wirklich auch bei bestem Wissen, bei bestem Wollen täuschen.
      Man hat sich bei dieser Integrationspolitik — wenn ich das Beispiel von den Kettengliedern weiter ausführen darf — in einem besonders getäuscht. Man hat geglaubt, es genüge, mit dem Mann einig zu sein, der sich nach den Kompetenzverteilungen der französischen Verfassung im Augenblick gerade als Sprecher des „legalen" Frankreichs fühlen durfte. Mit so jemand kann man in den laufenden Geschäften recht viel tun; es ist aber sehr schwer möglich, mit so einem Vereinbarungen zu treffen, die an den Bestand der Nation selber gehen, und die Integrationspolitik sollte das ja tun. In diesem Falle wird man im allgemeinen nur dann Erfolg haben, wenn der Mann, der „le pays légal", wie die Franzosen sagen, vertritt, auch gleichzeitig der Sprecher des „pays réel" ist, der der nicht nur „legalen" sondern „realen" Wirklichkeit des Volkes, der Wirklichkeit des Landes.
      Man hat sich schon einmal in diesem Punkte getäuscht, 1919, als man glaubte, in Präsident Wilson den Mann zu sehen, der Amerika sei. Er war es aber nicht; er war nur der Vertreter der juristischen Person „Vereinigte Staaten von Amerika", und eben nicht die Verkörperung dessen, was das Volk der Vereinigten Staaten umtrieb. Deswegen hat ihm der Senat die Ratifikation des Versailler Vertrags und der Völkerbundssatzung verweigert.
      Dabei sollte man eines nicht übersehen — das ist schmerzlich für uns; aber ich glaube, es ist eine Tatsache —, daß, während uns Deutschen der Fortschritt vom Nationalstaat zum Supranationalen, zum Universellen als ein Fortschritt schlechthin erscheint, den Franzosen — und das ist eine lange, alte Tradition — die Entwicklung aus dem europäischen Universellen zum Nationalstaat als der eigentliche Fortschritt in der Geschichte erscheint und das Allgemeinere, das Universelle als etwas
      Vergangenes, Unvollkommenes gedeutet wird. Deswegen, sagen die Franzosen, liebten die Deutschen das Universelle so sehr, eben weil es das Unvollkommene, das „Werdende" sei. Das können wir bedauern, wir müssen es sogar bedauern, es ist aber eine Realität, die zur Wirklichkeit Frankreichs gehört, eine Wirklichkeit, mit der man hätte besser rechnen müssen.
      Man hat das, glaube ich, nicht in genügendem Maße getan. Auch das sage ich nicht, um Vorwürfe zu erheben, sondern um etwas ins richtige Licht zu stellen.
      Nun zu den Texten, die uns vorliegen! Ich habe nicht die Absicht, die Einzelbestimmungen der Texte zu diskutieren. Dazu sind sie zu allgemein. Nur eines möchte ich kurz anführen: Es ist doch bezeichnend, daß überall, wo es sich um Verpflichtungen Deutschlands handelt, die Texte sehr konkret sind; überall aber, wo es sich um Verpflichtungen der anderen handelt, sind die Texte sehr allgemein, sehr interpretationsfähig und sehr offen gehalten. Das gibt keine besonders gute Verhandlungsposition für das Aushandeln der „Texte".
      In der Londoner Akte selber ist eine Bestimmung, deren Tragweite ich nicht recht verstehe. Vielleicht sind meine Bedenken unbegründet, aber ich möchte Aufklärung haben. Es heißt da, daß die Bundesregierung berechtigt sei, „für Deutschland als Vertreterin des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten zu sprechen". Wenn das so zu verstehen ist, daß die Bundesregierung Treuhänderin für die gesamtdeutschen Interessen sein soll, ist die Bestimmung ausgezeichnet. Aber das bedeutet dann, daß die Bundesregierung zwar für Gesamtdeutschland Rechte geltend machen kann, wo auch immer solche Rechte zu wahren sind. daß sie aber nicht über die Befugnis eines Treuhänders hinaus, also über Provisorisches hinaus Bindungen für Gesamtdeutschland eingehen kann. Ich bin stutzig geworden, weil ich in einer angesehenen Schweizer Zeitung einen Ausspruch des belgischen Außenministers Spaak zitiert gefunden habe. Wenn die Zeitung richtig berichtet, hat er dem Sinne nach gesagt: Für uns ist die Bundesregierung die gesamtdeutsche Regierung. Wenn die Bestimmung in der Londoner Akte so verstanden werden sollte, dann müßte ich diese Formulierung für eine schlimme Sache halten. Das würde dann bedeuten, daß zum mindesten einzelne der Vertragspartner der Meinung sein könnten, daß die Bundesregierung rechtlich in der Lage sei, Bindungen dauernder Art für ein künftiges wiedervereinigtes Deutschland zu übernehmen. Das ist zwar rechtlich eine Unmöglichkeit — das wissen wir —, aber auch Fiktionen können sich ja politisch auswirken und Ursachenreihen in Gang setzen, die man am Anfang vielleicht übersehen hat. Für manche mag in einer solchen Bestimmung ein Anreiz liegen, in diesem Vertragswerk einen Trend dahin erkennen zu wollen: Gesamtdeutschland werde einmal als Ausweitung des Gebiets der Bundesrepublik entstehen. Das wäre nicht nur im Widerspruch zu unserem Grundgesetz, sondern auch, was die Substanz des Politischen betrifft, eine höchst verhängnisvolle Auffassung; denn die Wiedervereinigung Deutschlands, oder sagen wir besser — hier stimme ich Herrn von Merkatz völlig zu —: die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands kann doch nur durch einen Gesamtakt der ganzen deutschen Nation erfolgen und nicht durch Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Bonner Grundgesetzes.


      (Dr. Schmid [Frankfurt])

      Ein anderes Wort in den Texten, das mich bedenklich gemacht hat: die Art und Weise, wie dort das Wort „Grenze" verwendet wird. Es wird in einer Weise verwendet, die den Anschein erweckt, als wolle man mit diesem Wort wirklich eine echte Staatsgrenze bezeichnen. Ich hoffe, daß ich mich täusche, und daß dieser Ausdruck eben nur in einer ganz allgemeinen Weise verwendet worden ist. Wir haben im Bundestag — Herr von Merkatz wird sich erinnern — mit vollem Bewußtsein diesen Ausdruck immer vermieden. Wir haben sogar das Wort „Gebiet der Bundesrepublik" vermieden und immer nur vom „Anwendungsbereich des Grundgesetzes" gesprochen, nicht weil wir griffelspitzende Juristen gewesen wären, sondern weil wir vermeiden wollten, daß man dem Provisorium Bundesrepublik echte Staatsattribute zuordnete, die nur einem endgültigen Staatswesen zukommen; daraus ergäben sich doch' Konsequenzen sehr weittragender Art, die für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands Voraussetzungen schaffen und bestehende Voraussetzungen nehmen würden, die wir einfach nicht verantworten könnten.
      Ich habe in der Regierungserklärung vermißt, daß bei der Diskussion des Brüsseler Paktes, des modifizierten Brüsseler Paktes, auf die Frage nicht eingegangen wurde, ob die zwischen Frankreich und Sowjetrußland und die zwischen Großbritannien und Sowjetrußland bestehenden Bündnisverträge noch als weiter geltend betrachtet werden oder ob man sie als stillschweigend außer Kraft getreten ansieht. Im einen wie im anderen Fall muß dazu eine ganz klare Erklärung der Bundesregierung diesem Hause gegeben werden. Denn die Möglichkeiten, mit den neuen Verträgen wirksam und auf sicherem Grunde Politik zu machen, hängen entscheidend davon ab, ob nicht der eine oder andere Vertragspartner zu den Bindungen aus diesem Vertrag an uns noch weitere Bindungen an eine andere Macht hat, nämlich die Sowjetunion.
      In der Debatte ist erfreulicherweise manches Grundsätzliche über den möglichen Ansatz einer deutschen Politik, einer Politik, die auf die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands ausgeht, gesagt worden. Der Ausgangspunkt für die Politik, die zu den Vertragswerken geführt hat, ist im allgemeinen der gewesen — in Straßburg konnten wir das vor einigen Wochen noch erleben —, daß man auf der anderen Seite fragte: Kann man und muß man die Deutschen wieder bewaffnen — es sei dies die einzige Frage, auf die es ankomme —, und wenn ja, was muß geschehen, um die Deutschen daran zu hindern, mit ihren Waffen Böses anzurichten? Auf der deutschen Seite, auf Ihrer Seite, ist bald die Fragestellung: Wir brauchen jetzt, weil wir bedroht sind, zu unserer und des ganzen freien Westens Sicherheit Waffen auch in Deutschland. Bis zu welchem Preis dürfen wir gehen, um diese Waffen zu erhalten?
      Ich glaube, daß die ganze Fragestellung falsch ist, zumindest wenn man sie zum Ansatz der Gleichung machen will, mit der man die Lösung sucht. Denn hierbei wird ein sekundäres Element zu einem primär en Problem gemacht. Politisch gesehen muß man doch so fragen: Was für eine Politik muß getrieben werden, damit der Kalte Krieg zu Ende gehen kann, dieser Kalte Krieg, der ein kalter Weltkrieg ist?

      (Sehr richtig! bei der SPD.)

      Wir wissen doch genau: man kann ihn nicht dadurch

      ( durch einen Friedensschluß derer, die dabei im Streite liegen. Alle Nöte, gegen die wir Vorsorge treffen wollen, alle Gefahren, gegen die wir Barrieren aufrichten wollen, haben doch ihren Ursprung darin, daß dieser Kalte Krieg besteht und daß dieser Kalte Krieg noch weiter dauert. Die Beantwortung der Frage, was geschehen muß, um ihn zu beendigen, regiert auch die Frage: Was muß geschehen, um eine richtige Wiedervereinigungspolitik zu treiben, und was muß geschehen, wenn man Europa in wirksamer und dauerhafter Weise anders denn nur als Aufmarschgebiet im Kalten Krieg organisieren will? Die Spaltung Deutschlands, diese Zustände in anderen Teilen der Welt, die für diesen Kalten Krieg charakteristisch sind, sind doch keine Probleme für sich, sondern sind doch Schlachtfelder im Kalten Krieg. Und die politischen und militärischen Positionen, die die einzelnen Parteien dieses Krieges dort einnehmen, sind doch strategische Positionen in diesem kalten Weltkrieg! Keine Macht der Welt, die es verhindern kann, wird eine solche Stellung räumen, solange dieser Weltkrieg nicht durch einen Friedensschluß beendet ist. Wir wollen das doch ganz klar aussprechen, so bitter diese Erkenntnis für uns auch sein muß, — denn es ist eine bittere Erkenntnis für uns. Dieser Friedensschluß kann nicht anders erfolgen als dadurch, daß die Großen, die nach dem zweiten Weltkrieg übriggeblieben sind, die Staaten, die man noch als Weltmächte bezeichnen kann, sich über die Ordnung der Machtverhältnisse einigen, wie sie der zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg geschaffen haben. Der Fehler, den man auf der Seite der Sieger nach diesem zweiten Weltkrieg gemacht hat, ist doch wohl der gewesen, daß man angenommen hat, man brauche nichts zu ordnen, es genüge, daß man die traditionellen Bösewichte Deutschland und Japan außerstand setze, noch zu schaden; alles andere werde sich dann von selbst ergeben, und wo gewisse Probleme noch nicht gelöst seien, werde man sich schon zusammenraufen. Statt eine Abschlußbilanz und eine Eröffnungsbilanz zu machen, wie man das früher nach Weltkatastrophen gemacht hat, hat man es darauf ankommen lassen, was aus den Dingen werden könnte. Die Folge ist gewesen, daß die Verbündeten von gestern sich umdrehten und zu Gegnern in einem neuen, wenn auch kalten Kriege geworden sind. Nun leiden wir alle unter diesem Zustand, und alle sind wir daran interessiert, daß dieser Zustand sich ändert. Solange diese Vereinbarung der Großen über die Neuverteilung der Machtverhältnisse in der Welt' nicht erfolgt ist, wird keine dieser Mächte das Risiko übernehmen, das mit der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands für ihr Machtpotential geschaffen wird. Das wird sie nur tun, wenn sie weiß, in welches Koordinatensystem der Macht dieses neue Gebilde hineingebracht wird. Ob das nun so erfolgt oder auf andere Weise, in jedem Falle geht damit eine wesentliche Veränderung und Verschiebung der Machtverhältnisse vor sich. Da gibt es keinen Staat, der zustimmte, solange er nicht weiß, in welche Rechnung dieser neue Posten hineingestellt werden soll. Eine solche Vereinbarung wird natürlich nur einen Sinn haben, wenn die Beteiligten sie durch vertragliche Systeme kollektiver Sicherheit absichern. Ich brauche hier nur auf das hinzuweisen, war Herr von Merkatz ausgeführt hat. Kollektive Sicherheit schafft an noch nicht dadurch, daß man Bündnissysteme schafft und diese Bündnisblöcke einander gegenüberstellt. Wenn man von kollektiver Sicherheit spricht, dann muß man das im Sinne des Sprachgebrauchs tun, der dieses Wort geschaffen hat, dann muß man Verträge zu schaffen versuchen, bei denen die potentiellen Gegner durch den Mechanismus des Vertrags verbunden sind. Nun werden einige vielleicht sagen, das wird man nicht erreichen, das wird nicht geschehen, dazu werden wir nie kommen, mit den Russen kann man das nicht machen, und was solche Redewendungen mehr sind. Das mag sein; dann aber um so schlimmer für uns. Denn dann sehe ich in der Tat keine Möglichkeit, wie wir auf gutem Wege zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands kommen sollen. Jene unter Ihnen, meine Damen und Herren, die wirklich der Meinung sein sollten, mit den Russen könne man eben nicht, mit denen könne man eben mal keine Verträge schließen — vielleicht haben Sie recht. Aber wenn Sie glauben, recht zu haben, dann müssen Sie das sagen und dann müssen Sie auch dem deutschen Volke sagen, welche Konsequenzen sich aus diesem Tatbestand ergeben! Was können wir tun, um das Richtige zu fördern? Es ist schon viel darüber gesprochen worden, daß wir zunächst einmal verhindern können, daß vollendete Tatsachen geschaffen werden, die die Wahrscheinlichkeit, daß eine Verhandlungssituation entsteht, noch geringer machen, als sie heute schon ist. Aber ich glaube, man kann auch etwas Positives tun. Damit, daß wir uns bemühen, mit den Staaten, die uns näherstehen als anderen, nach Formeln für den Status eines wiedervereinigten Deutschlands zu suchen, nach Formeln, die für a 11 e akzeptabel sind, können wir vielleicht das Klima mitschaffen, in dem es zu dem planetarischen Generalakkord kommen könnte, von dem ich gesprochen habe. Was diesen Status des wiedervereinigten Deutschlands betrifft, so gibt es doch hier auch einige sehr einfache und für uns nicht sehr angenehme Feststellungen. Dieser Status kann nicht geschaffen werden etwa durch eine Vereinbarung der Bundesrepublik mit dem Westen allein, so wenig wie durch Vereinbarungen Pankows mit dem Osten allein. Ich glaube, er kann nicht einmal durch Vereinbarungen der vier Besatzungsmächte allein geschaffen werden. Er kann nur durch Vereinbarung der vier Besatzungsmächte mit einer gesamtdeutschen Regierung geschaffen werden, die auf Grund eines gesamtdeutschen Mandates verhandeln kann. Was bei diesen Verhandlungen herauskommen wird, kann heute niemand sagen, der nicht über die Gabe der Prophetie verfügt. Man kann bestenfalls sagen — das sollte man sich fragen —: mit welchem Auftrag soll ein gesamtdeutscher Außenminister in solche Verhandlungen gehen? Auf was hin soll er verhandeln? Ich glaube, da gibt es wohl kaum eine andere Formel als die: er müßte versuchen, seine Verhandlungspartner dazu zu bringen, sich mit ihm auf eine Formel zu einigen, in der keiner der Beteiligten eine politische und militärische Bedrohung zu erblicken braucht. Weder werden sich die Amerikaner und die anderen westlichen Staaten mit einem Gesamtdeutschland abfinden, das von den Russen beherrscht oder auch nur wesentlich bestimmt ist, noch wird sich die Sowjetunion mit einem Gesamtdeutschland abfinden, das ein in die Automatik eines atlantischen Bündnissystems einbezogener Staat wäre. Ich glaube, daß dies eine ganz einfache Überlegung ist. Das muß man sich klarmachen. Dann erweisen sich manche Dinge von vornherein als Unmöglichkeiten. Beide Teile aber könnten es hinnehmen, daß dieses Gesamtdeutschland normale nachbarschaftliche Beziehungen nach allen Seiten unterhält und auf diese Weise — und hier komme ich zu Ihrem glücklichen Begriff von der Entspannungspolitik, Herr von Merkatz — die beiden Blöcke ein bißchen weiter auseinander hält, als sie es wären, wenn sie unmittelbar aneinander grenzten. Daß das deutsche Volk nicht Lust hat, sich satellitisieren zu lassen, und daß es auch nicht nur eine Sekunde lang daran denkt, sich aus der Freundschaft und aus der Solidarität der freien Völker zu lösen, das brauche ich hier nicht besonders zu sagen. Aber das ist doch etwas anderes, als sich zu verpflichten, zu einem Bestandteil eines mehr oder weniger automatisch funktionierenden militärpolitischen Blocks in der einen oder anderen Himmelsrichtung zu werden! Es müßte also, glaube ich, ein solcher deutscher Außenminister daraufhin verhandeln, daß dieses Gesamtdeutschland frei von Bündnisverpflichtungen sein soll, nicht frei zu Bündnissen, sondern frei v o n Bündnissen. Wenn Sie mir sagen sollten: ja, damit begeben wir uns doch einer ganz entscheidenden Prärogative eines freien Staates, erwidere ich: im Brüsseler Pakt verzichtet man ja auch auf Bündnisfreiheit im vollen Sinne; denn man verpflichtet sich doch dort, keine Bündnisse zu schließen, die sich gegen einen der Paktteilnehmer richten könnten. Auch hier stimme ich Herrn von Merkatz völlig zu, wenn er statt von Souveränität von der Freiheit der Völker, der Staaten spricht, sich mit ihren Nachbarn in zweckentsprechender Weise einrichten zu können. Was ich vorschlage, scheint mir eine solche zweckentsprechende Methode, sich mit seinen Nachbarn einzurichten, zu sein. Was nun den Schutz der Grenzen anbetrifft, so müßte dieses vereinigte Deutschland — aber das müßte ja auch erst aus den Verhandlungen mit den anderen herauskommen —, so glaube ich, stark genug sein, um nicht einen Nachbarn in Versuchung zu führen, aber nicht so stark, daß, wenn es auf die eine oder andere Seite sollte übergehen wollen, diese Seite eine überwältigende Überlegenheit über die andere bekommen könnte. Wie gesagt, ich weiß nicht, ob ein solches Ergebnis erzielt werden kann, aber ich glaube, daß man deutscherseits mit einiger Aussicht auf Erfolg auf Grund dieses Schemas verhandeln könnte. Mag es so sein oder anders, eines ist sicher — und ich wiederhole mich hier —, daß keine Macht eine Lösung akzeptieren wird, die sie als eine militärische Bedrohung ihrer selbst empfinden wird. Nun, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, Sie sind der Meinung: Unsere Westpaktpolitik treiben wir ja gerade zu dem Zweck, dieses Ziel zu erreichen; das ist unserer Meinung nach der bessere Weg, um zu dem zu kommen, was du hier ausführst! — Sie wissen, daß wir glauben, daß Sie sich hier täuschen. Wir sagen: eine solche Westpaktpolitik — ich gebrauche absichtlich dieses ver schwommene und allgemeine Wort — ist bestenfalls als eine provisorische Notlösung möglich, die man vielleicht braucht, wenn durch das Verhalten der Sowjetunion die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands sich als vorderhand schlechthin unmöglich erweisen sollte und man der Meinung sein müßte, daß uns von der Sowjetunion Gewalt droht. Diese Probe muß gemacht werden. Ich glaube nicht, daß man bisher in genügend wirksamer Weise versucht hat, sie zu machen. Man muß sie auf dem Grunde einer beweglichen Politik und nicht durch Dogmatisieren vielleicht früher — in anderen Situationen — gefaßter Beschlüsse oder geschriebener Noten zu machen versuchen. Sie sagen: Auf diese Weise stellten wir die Frage, wann wir uns denn endlich schützen werden, zur Disposition des Herrn Malenkow. Aber das ist doch wirklich zu einfach gesehen! Nein, wir werden das schon selber feststellen, ob wir die Überzeugung haben müssen, daß die Russen wirklich nicht wollen. Das werden wir dann schon allein feststellen! Was Sie sagten, ist genau so scharfsinnig, als wenn ich sagte: Sie stellen die Frage, wann die Menschenrechte im Saargebiet eingeführt werden sollen, zur Disposition der französischen Regierung! Ich sage das nicht, aber dann dürfen Sie auch solche Dinge nicht uns entgegenhalten. — Der Vergleich hinkt, wie die meisten Vergleiche hinken. Natürlich geht es im Saargebiet nicht so zu wie in der Sowjetzone, aber das Grundverhältnis ist dasselbe. Sie warten darauf, bis die Franzosen geneigt sind, mit Ihnen über diese Dinge zu verhandeln. So ist es doch! Selbst wenn es nötig sein sollte, eine solche Westpaktpolitik zu machen, müßte die Politik, die Voraussetzungen für die Wiedervereinigung Deutschlands trotzdem zu schaffen, weitergehen. Sie müßte aber, glaube ich, dann neben dieser Westpaktpolitik weitergehen; sie würde kaum innerhalb dieser Politik weiter betrieben werden können. Nun hat Herr von Merkatz gesagt: Man kann doch nur verhandeln, wenn man stark ist. — Das ist richtig. Er hat sich auch gegen den Mythos der Verhandlungen gewandt. Gut. Man kann aber auch die Politik der Stärke mythisieren, Herr von Merkatz, ja, das kann man auch! Sie sagen, man müsse hart sein, — gut, natürlich geht es in der Politik hart zu. Sie werden sich erinnern, Herr von Merkatz, daß wir Ihnen gelegentlich vorgehalten haben, daß Sie im Westen, statt harte Politik zu machen — genauer gesagt: statt auf Grund der harten Tatsachen Politik zu machen —, sich damit begnügten, an den Kaminen eines Europas zu causieren, das noch nicht einmal als Kartenhaus stand. Sie sprechen von dem Risiko, das zu jeder Politik gehöre. Gewiß, aber die Frage ist doch die: wo stecken Sie das Limit für Ihr Risiko? Wieviel wollen Sie riskieren? Wie weit wollen Sie im Aufsichnehmen eines Risikos, das Sie ja auf militärische Macht abstützen wollen, gehen? Da werden Fragen sehr dramatisch, Herr von Merkatz, und ich möchte darum das hier Angedeutete nicht weiter ausführen. Man darf vor allen Dingen nicht aus dem Auge lassen, daß man, mag man im einzelnen tun, was man will, niemals eine Verhandlungssituation wird schaffen können, wenn man nicht zum mindesten die Frage des Statuts Gesamtdeutschlands offenläßt. Nun werden Sie sagen: Das ist doch offen, denn die gesamtdeutsche Regierung ist frei, sich so oder so zu entscheiden, da die Bundesrepublik, die Bundesregierung sie nicht binden kann. Gewiß! Aber es können doch gewisse Bindungen der Bundesrepublik bestehen, die es ihr unmöglich machen, das für die Wiederherstellung der Einheit Notwendige auch wirklich im Bereich der Realitäten zu tun. Wir fürchten, gewisse Bindungen der Bundesrepublik gehen so weit, daß eine deutsche Wiedervereinigungspolitik so sehr an die Zustimmung westlicher Partner gebunden wird, daß sie als deutsche politische Möglichkeit schlechthin nicht mehr besteht. Sie selbst haben die Auffassung vertreten, daß nur durch eine Einigung der großen Mächte auch die deutsche Frage gelöst werden kann. Formell juristische Bindungen der Bundesrepublik hin oder her, ohne die faktische Zustimmung der westlichen Mächte wird die deutsche Frage nie gelöst werden können. Sie haben vollkommen recht, Herr Kiesinger, darüber besteht kein Zweifel. Aber nicht nur nicht ohne die Zustimmung der westlichen Mächte, sondern auch nicht ohne die Zustimmung der östlichen Macht! Nun ist die Frage, ob die westlichen Mächte ihre Zustimmung verweigern werden, wenn man die Bindung der Bundesrepublik lockerer hält, als sie heute ist. Ich glaube, bei der offensichtlichen Bereitschaft der westlichen Mächte, alles zu tun, was die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands fördern könnte, müßten sie doch zustimmen können, wenn es ihnen deutscherseits nur genügend deutlich gesagt wird! (Zuruf von der Mitte: Das ist aber das Entscheidende!)


      (Beifall bei der SPD.)


      (Dr. Schmid [Frankfurt])


      (Sehr wahr! bei der SPD.)


      (Lebhafter Beifall bei der SPD.)


      (Beifall bei der SPD.)


      (Dr. Schmid [Frankfurt])


      (Beifall bei der SPD.)


      (Abg. Kiesinger: Der Vergleich hinkt!)


      (Beifall bei der SPD.)


      (Beifall bei der SPD.)


      (Abg. Kiesinger: Darf ich eine Frage stellen?) — Ja, bitte, stellen Sie eine Frage!


    Rede von Dr. Kurt Georg Kiesinger
    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
    • insert_commentNächste Rede als Kontext
      Rede von Dr. Carlo Schmid


      • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
      • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)


      (Zustimmung bei der SPD.)

      Wir sollten uns von der militärpolitischen Seite unserer politischen Situation nicht hypnotisieren lassen. Natürlich besteht dieser militärpolitische Aspekt durchaus; das läßt sich nicht leugnen. Aber das Allgemeinpolitische steht doch nach wie vor über dem Militärpolitischen, und es ist es doch, was unser Verhalten regieren soll und regieren muß.
      Deswegen, meine Damen und Herren, können wir Ihrer Resolution, so wie sie jetzt ist, nicht zustimmen. Sie wird den Notwendigkeiten, die ich hier zu entwickeln versucht habe, nicht gerecht. Wenn ich die Resolution richtig deute und verstehe, machen Sie auch die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands davon abhängig, daß Europa, wie Sie sich das vorstellen, vorher geschaffen wird. — Sie schütteln den Kopf, Herr Kiesinger. Aber so steht es für den unbefangenen Leser im Text.
      Das scheint uns nicht der richtige Weg zu sein. Ich glaube, wir müssen den umgekehrten Weg gehen. Wir müßten, wie es in unserem Resolutionsentwurf gesagt ist, zunächst versuchen, unsererseits alles zu tun, was die Verhandlungssituation für die


      (Dr. Schmid [Frankfurt])

      Beendigung des Kalten Krieges verbessern kann. Man hat in der Londoner Schlußakte Kommissionen für alle möglichen Dinge vorgesehen. Nur für eine Aufgabe, die sich die Paktmächte gesetzt haben, die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands, hat man keine Kommission vorgesehen, um gemeinsame Richtlinien auszuarbeiten. Mir scheint aber gerade das eine sehr vordringliche Notwendigkeit zu sein; denn ohne ein Gremium, das versucht, die Politik der Paktmächte zu koordinieren, wird es doch kaum je möglich sein, einen gemeinsamen Generalnenner für die vertraglich vorgesehene Wiedervereinigungspolitik zu finden. Ich glaube, daß unsere Resolution den besseren Weg geht, und ich fordere Sie darum auf, diesen Weg mit uns zu gehen.

      (Lebhafter Beifall bei der SPD.)