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ID0204701300

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    2. Deutscher Bundestag — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Oktober 1954 2235 47. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 7. Oktober 1954. Geschäftliche Mitteilungen . . . . 2235, 2320 A Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung vom 5. Oktober 1954 (Londoner Konferenz) (Anträge Drucksachen 863, 864): 2235 C Ollenhauer (SPD) 2235 A, 2306 C, 2308 B, 2309 A, 2314 B Dr. von Brentano (CDU/CSU): zur Sache .. 2242 B, 2248 B, 2305 A, B zur Geschäftsordnung .. . . . 2286 C Erler (SPD) . . 2248 B, 2287 A, D, 2290 D, 2291 C, 2292 A, B, 2294 A, 2317 D, 2318 C Dr. Dehler (FDP) 2249 D Haasler (GB/BHE) 2249D Dr. von Merkatz (DP): zur Sache 2257 D zur Geschäftsordnung. . . . 2286 A, D Dr. Baron von Manteuffel-Szoege (CDU/CSU) 2264 D Stegner (Fraktionslos 2267 B Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) . 2269 B, 2277 D, 2316 C Kiesinger (CDU/CSU) . . . 2274 A, 2290 C, 2291 C, 2293 D Dr. Adenauer, Bundeskanzler . . 2282 A, 2287 D, 2305 C, 2311 D, 2315 C, 2317D, 2318 C, D Mellies (SPD) (zur Geschäftsordnung) 2286 B Euler (FDP) : zur Geschäftsordnung 2286 C zur Sache . . . . . . . . 2319 C D. Dr. Gerstenmaier (CDU/CSU) . 2292 A, C, 2294 D, 2304 B, 2308 A, 2309 A, C, 2319 B D. Dr. Ehlers (CDU/CSU) . . 2299 C, 2300 C, 2310 B, 2311 B Dr. Arndt (SPD) 2300 C, 2303 A, 2304 C, 2305 B, C Wehner (SPD) 2309 D Heiland (SPD) 2311 A Dr. Becker (Hersfeld) (FDP) . . . 2312 C Dr. Kather (GB/BHE) 2319 A Überweisung des Antrags Drucksache 863 an den Auswärtigen Ausschuß . . . . 2320 C Annahme des Antrags Drucksache 864 2320 C Nächste Sitzung 2320 C Die Sitzung wird um 9 Uhr 5 Minuten durch den Präsidenten D. Dr. Ehlers eröffnet.
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    Rede von Dr. Thomas Dehler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Außenpolitische Aussprachen in diesem Hause stimmen mich traurig. Sie wären sinnvoll, wenn sie Wille und Kraft hätten, gestaltend zu wirken, auf der einen Seite zu lockern, auf der anderen Seite zu gewinnen. Statt dessen hören wir Streitgespräche wie in einem Prozeß bei Gericht: These, Antithese

    (Zuruf von der SPD: Und Synthese!)

    und Verdächtigungen des Willens der anderen,
    dann Beifallskanonaden, als ob man durch die


    (Dr. Dehler)

    Lautstärke der Zustimmung die Kraft von Argumenten ersetzen könnte. Ein schlechter Stil! Zeichen einer schlechten Situation, einer schlechten Verfassung unseres Volkes nach außen, daß wir nicht die Kraft haben, uns außenpolitisch über die Lebensfragen unseres Volkes in dieser Lage zu verständigen.
    Ich habe heute Nacht

    (Abg. Kunze [Bethel] : Dann wird's gefährlich!)

    in meinem Streben, zu wissen, was hinter diesem „Eisernen Vorhang" vorgeht, womit wir wohl rechnen müssen, in dem Buch des früheren Generals und Botschafters und bisherigen Unterstaatssekretärs Walter Bedell Smith „Meine drei Jahre in Moskau" geblättert. Er zitiert darin — und das hat mich sehr beeindruckt — einen Bericht des Marquis de Custine aus dem Jahre 1839, der von Moskau geschrieben hat. Und was sagt er?
    In den zivilisiertesten Ländern machen unsere Zeitungen auf alles aufmerksam, was in unseren Ländern vor sich geht oder gar erst geplant wird. Zum andern stellen wir schonungslos jeden Morgen unsere eigenen Schwächen zur Schau, statt sie klug zu verbergen. Ihre byzantinische Politik dagegen arbeitet im Schatten und verheimlicht sorgfältig alles, was in ihrem Land gedacht, getan und befürchtet wird. Wir marschieren im hellen Licht des Tages, sie rücken unter Tarnung im Zwielicht vor. Das Spiel ist einseitig. . Die Unwissenheit, in der sie uns halten, macht uns blind, während unsere Offenheit sie aufklärt.
    Und jetzt kommt ein herrlicher Satz, den meine Kritiker in der mir liebwerten, koalitionsbefreundeten CDU-Fraktion als Waffe gegen mich benutzen mögen:
    Wir haben die Schwäche des Schwätzens, sie haben die Stärke des Schweigens.

    (Abg. Frau Dr. Weber [Aachen] : Wer schwätzt?! — Große Heiterkeit.)

    — Ja, das ist die Frage! Ich bin nicht empfindlich.
    Aber daß ausgerechnet meine Freundin Helene
    Weber sofort die Waffe, die ich ihr gebe, schwingt,
    nun, das ist nicht ganz gut, ist keine Nächstenliebe!

    (Heiterkeit.)

    Nein, meine Damen und Herren, ernstlich: Ich glaube, wir sollten uns bemühen um einen anderen Stil. Dann würde vielleicht manchmal auch, liebe Frau Helene Weber, ein etwas kühnes Wort nicht zur unrechten Zeit und nicht am unrechten Platze gesprochen werden.
    Herr Kollege Ollenhauer, Sie haben es sich doch eigentlich arg leicht gemacht, finde ich, ein bißchen zu einfach gemacht: „Scheitern der Außenpolitik!" „Wir, die Sozialdemokraten, haben es immer recht gesehen, haben immer die richtigen Vorschläge gemacht,

    (Zurufe von der SPD: Ist auch so! — Stimmt auch!)

    Ihr wart verblendet!" Nun, so ungefähr hat er's doch gesagt. So einfach ist es nicht! Ich habe schon einmal gesagt: Es ist ein Gesetz der Geschichte, daß sie Möglichkeiten, die sie Chancen immer nur einmal gibt. Und es ist die große Aufgabe des Politikers, das Gefühl für die Chance zu haben und sie zu nützen. Es ist doch sehr charakteristisch, was Herr Mendès-France selbst gesagt hat: vor 15 Monaten wäre der EVG-Vertrag in der französischen Nationalversammlung angenommen worden. Was haben wir vor 15 Monaten getan? Nun, wir haben, genau so wie heute, uns gezankt und gestritten, haben rechthaberische Prozesse geführt und vieles andere. Und die Chance ist vertan worden, vielleicht eine einmalige große geschichtliche Chance. Inzwischen haben sich Änderungen der Einsichten vollzogen. Das, was unter dem Schock von Korea angesichts der ungeheuren Bedrohung, die uns bewußt wurde, ein erstrebenswertes Ziel war, das schwand, das wurde blaß, das schien nicht mehr erstrebenswert. Es war an sich keine einfache Entwicklung vom Plevenplan bis zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gewesen. Sicherlich bestand zunächst bei den Franzosen aus dieser jähen Einsicht des Koreaschocks eine Bereitschaft für die europäische Form. Wir haben sie — auch für meine Freunde sage ich das — mit einem starken Glauben aufgenommen. Wir haben anknüpfend an uralte deutsche Haltungen geglaubt, es sei möglich und es gelte, einem neuen Europabürgertum die staatliche Form zu schaffen. Der Initiative unserer Freunde von Brentano, Becker und anderen ist der kühne Wurf gelungen, eine Verfassung für eine europäische politische Gemeinschaft zu schaffen. Ich möchte ausdrücklich sagen: ich bereue gar nichts. Ich bereue nicht, hinter diesem Gedanken mit meiner ganzen Kraft gestanden zu haben,

    (Beifall bei der FDP)

    wenn ich auch mit etwas Wehmut an den Leidensweg zurückdenke, an diesen Kampf von vier Jahren, an meine Bemühungen um die schwierigen Bestimmungen des Vertragswerks, an den Leidensweg der Ratifikation dieser Verträge. Ich denke auch mit Wehmut an meinen Kampf mit Ihnen, mit Kurt Schuincher, mit Arndt. Was habe ich da an Seelenkraft und Nervenkraft zugesetzt! Dafür habe ich dann Mißbilligungsanträge von Ihnen am laufenden Band geerntet,

    (Abg. Mellies: Etwas übertrieben!)

    — manchmal vielleicht auch zu Recht. — Immerhin einige!

    (Heiterkeit.)

    Wenn ich zurückdenke: was ist das für ein Einsatz, für eine Hingabe gewesen! Es wäre schon bitter, wenn man heute wirklich auftreten und erklären könnte, alles sei fehlgetan.
    Aber über etwas muß man sich, glaube ich, auseinandersetzen. Wir wissen, das ist in Straßburg aufgeklungen, das erscheint auch in einigen Formulierungen der Londoner Niederschrift, das hat Herr von Brentano deutlich zum Ausdruck gebracht: der Glaube an die europäische Integration, der Glaube an die Möglichkeit, supranationale Formen in Europa zu schaffen, der Glaube, den Gedanken der Montan-Union immer noch auf die militärische, auf die politische Ebene übertragen zu können, ist noch vorhanden. Ich glaube, man muß wenigstens zu deuten versuchen, welche Problematik deutlich geworden ist. Unser Kollege Gerstenmaier hat in Straßburg etwas ironisch von der Mystik des 19. Jahrhunderts gesprochen, die wieder hochkomme; Herr von Brentano spricht gar von der Gefahr des Nationalismus, der sich zeige. Ich glaube, wir müssen die Dinge nüchtern sehen, nicht zu sehr von unserem Standpunkt als von dem Standpunkt der anderen Welt aus. Wir waren immer aufgeschlossen für Formen über den Staat hinaus. Viele von uns kennen Friedrich Meineckes „Weltbürgerturn und Nationalstaat" — deswegen auch unsere


    (Dr. Dehler)

    echte Bereitschaft zu neuen Formen. Aber ich glaube, wir haben vergessen, daß die Dinge im übrigen Europa anders aussehen, haben gerade die Möglichkeiten, die in Frankreich nach seiner geschichtlichen Entwicklung vorhanden sind, überschätzt, haben vergessen, daß gerade in der Abwehr der europäischen Einigungsbestrebungen Karls V. König Franz I. die wesentlichen nationalen Grundlagen des nationalen Frankreichs geschaffen hat. Wir haben diese Möglichkeiten überschätzt und haben den möglichen Zeitpunkt nicht erfaßt. Darin liegt die Tragik der letzten Jahre. Viele Freunde, die in Straßburg waren, denken sicherlich noch daran, was unser verstorbener Freund von Rechenberg emphatisch erklärt hat: wir brächten die deutsche Jugend nicht zu den Waffen, wenn sie nicht mit einem neuen Ideal erfüllt wäre, wenn wir ihr nicht das Ideal Europas gäben. Wie haben sich die Dinge seit dieser Zeit geändert!
    Ich bin der Meinung — und darin sehe ich den großen Gewinn der Londoner Vereinbarungen —, daß das Europa sich als Gemeinschaft des Rechtes organisieren wird, des freiwilligen, des vertraglichen Rechtes, auf jeden Fall eher als in der Form einer institutionellen Gemeinschaft. In dieser Sicht erkennen meine Freunde und ich das, was in London erreicht worden ist, durchaus an und bedauern nichts von dem, was vorher geschehen ist, auch nichts an der gläubigen Hingabe, die die Regierung, die die Koalitionsmehrheiten diesem Gedanken noch in einer Zeit, in der die Verwirklichung nicht mehr real war, gegeben haben.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Auf der Bühler Höhe habe ich mit dem Herrn Bundeskanzler ein nettes Gespräch geführt über das Wesen — —

    (Heiterkeit und Zurufe.)

    — Er ist ein besonders scharmanter Mann, trotz allem;

    (erneute Heiterkeit)

    die letzte Kabinettssitzung klammere ich dabei aus.

    (Große Heiterkeit und Beifall rechts.)

    Wir haben uns beim Essen auf der Bühler Höhe über den Sinn des Wortes Integration unterhalten, über seine Bedeutung. Ich habe nicht die Möglichkeit gehabt, ihm zu sagen, daß ich auf ein so reizendes Wort vom römischen Dichter Terenz gestoßen bin, das heißt: „amantium irae amoris integratio"; wenn die Liebenden sich zürnen, dann erneuert, dann vertieft, dann verstärkt sich die Liebe.

    (Heiterkeit.)

    Fast möchte ich das als ein Wort über die Entwicklung der letzten Wochen und Monate setzen. Gott, was da alles geschehen ist vor und nach Brüssel, vor und nach dem 30. August! So viel ira! Aber das möchte ich in London sehen: die integratio, die Erneuerung des Willens zur Gemeinschaft. Dieser Wille hat sich erneuert und verstärkt.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Deswegen kann sich von dem, was doch in einem erstaunlichen Impetus in London geschaffen worden ist, ein neuer Kraftstrom auf die europäische Politik ergießen. Wir begrüßen das Ergebnis — das sage ich namens meiner Fraktion — und wir schließen uns dem Dank, den der Kanzler, den Herr von Brentano den maßgebenden beteiligten Staatsmännern gezollt haben, durchaus an. Unser Dank gilt
    den Vereingten Staaten, seinem Präsidenten und
    dem Mann, der doch beinahe zum guten Mentor
    Europas geworden ist, dem Staatssekretär Dulles.

    (Sehr gut! rechts.)

    Wir huldigen dem großen Winston Churchill, der die geistigen Voraussetzungen für das, was wir erstreben, wesentlich mit geschaffen hat. Der Kanzler und ich, Helene Weber und manche anderen werden es unvergeßlich in Erinnerung haben, wie er bei dem Europäischen Kongreß im Mai 1948 in Den Haag mit seherischer Kraft das aufgezeigt hat, an dessen Erfüllung wir jetzt mit größerem Grunde glauben können. Wir sehen in dem Engagement Großbritanniens an den europäischen Dingen, an dieser großen Geste, die der Außenminister Anthony Eden machen konnte und gemacht hat, die Voraussetzung für die Ordnung der europäischen Dinge. Und wenn man, wie es Herr Kollege Ollenhauer tut, an der Praktikabilität von EVG mäkeln will, nun, dann muß man eben feststellen, daß das Fehlen Großbritanniens, das eines der großen psychologischen und militärtechnischen Schwierigkeiten der EVG war, überwunden wurde. Wir sehen darin einen gewaltigen Vorteil. Wir wollen nicht vergessen, daß der Mann, der an der Spitze unserer Regierung steht, mit Genugtuung auf das, was wesentlich auch durch seinen Einsatz erreicht worden ist, jetzt zurückblicken kann. Auch wir danken ihm für seine Hingabe.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich möchte mich ein kleines bißchen kritisch mit dem auseinandersetzen, was Herr Ollenhauer gesagt hat. Das kann man nur unter der Voraus- setzung der Würdigung der Gesamtlage. Es gibt wenige Aktiva in der Weltpolitik nach 1945. Wir brauchen uns über die Fehler, die gemacht wurden, nicht zu unterhalten. Ein Aktivum ist, daß die Vereinigten Staaten nicht den Fehler von 1918/19 wiederholt haben, nicht sich aus der Weltpolitik, aus der Europa-Politik zurückgezogen haben, daß sie vielmehr erkannt haben, daß Sieg vor allem Verpflichtung und Verantwortung ist, daß dem Sieger die Aufgabe zugefallen ist, Hüter des Friedens und der Ordnung der Welt zu sein. Daß Amerika in so großer Form von Roosevelt, Truman bis Eisenhower diese Verpflichtung auf sich genommen hat und daß wir die Gewißheit haben können, daß diese Linie auch im Falle von politischen Änderungen in Washington eingehalten wird, das ist das große Positivum.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Daß wir die Hand des Siegers, die uns entgegengestreckt ist, nicht ausschlagen, sondern mit der beherrschenden Macht der Welt zusammen versuchen, das Richtige zu tun, ist doch so selbstverständlich wie nur etwas.
    Die Vereinigten Staaten haben auch den Fehler, den sie nach 1945 gemacht haben — abzurüsten, also ihre militärische Stärke und Überlegenheit nicht zu behaupten —, wiedergutgemacht. Bei diesem Versuch fällt uns die Aufgabe der Mitwirkung zu, die wir des Friedens der Welt wegen und unserer Sicherheit wegen zu erfüllen haben.
    Es ist ein weiteres Aktivum, daß Großbritannien auch entgegen seiner Haltung nach dem Ersten Weltkrieg und entgegen der Haltung, die es 1945 zunächst eingenommen hat, jetzt seine geschichtliche europäische Verpflichtung anerkennt und in den Kreis der europäischen Mächte im Rahmen des Brüsseler Pakts getreten ist.


    (Dr. Dehler)

    Herr Ollenhauer sagt, die Situation sei ganz anders geworden, als sie vor einigen Jahren war; die Konflikte in Korea und Indochina seien beseitigt worden; wir hätten jetzt die Verpflichtung, zu prüfen, ob nicht ganz andere Chancen für die Wiedervereinigung gegeben seien, ob sich nicht die Tendenzen zur Entspannung erheblich verstärkt hätten, ob deswegen nicht auch die Frage eines Verteidigungsbeitrages in einem ganz anderen Lichte erscheine. Ich bin nicht dieser Ansicht. Ich teile die von den europäischen Mächten in London vertretene Anschauung — die auch von den Parteifreunden des Herrn Ollenhauer vertretene Anschauung —, daß Europa die Verpflichtung hat, für seine Sicherheit zu sorgen, daß Europa die Verpflichtung hat, einen russischen Angriff zum mindesten riskant zu machen und dadurch zu verhindern. In der Politik hilft nicht die Spekulation, hilft nicht die Wahrscheinlichkeitsrechnung, daß Rußland nicht aggressiv werden würde. Wer politische Verantwortung trägt, der hat die Verpflichtung, dafür zu sorgen, daß auch in einem unwahrscheinlichen Falle Hemmungen eingeschaltet werden.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Das ist der Sinn der europäischen Aufrüstung und der Sinn der Verpflichtung, die wir übernehmen müssen, das Unsere zu tun.
    Aber ich möchte sagen, daß ich die Fragestellungen des Herrn Ollenhauer durchaus bejahe, daß wir bei jedem Anlaß uns besorgt fragen: Nützt eine Maßnahme dem Ziel, dem wir uns alle unterordnen — ,der Wiedervereinigung Deutschlands —, oder schadet sie diesem Ziele? Ich glaube, wir wollen doch diesen Wettstreit, daß der eine die Wiedervereinigung stärker, mit heißerem Herzen anstrebt als der andere, endlich einmal kupieren.

    (Lebhafte Zustimmung bei den Regierungsparteien.)

    Er ist unwürdig. Ich habe immerhin vier Jahre mit dem Bundeskanzler 'im Kabinett gesessen, ich habe von ihm nie ein Wort, nie eine Silbe gehört, aus der man hätte folgern können, daß er nicht genau so wie wir in der Wiedervereinigung das wesentliche, das aktuelle Ziel sieht, daß er nicht alle Möglichkeiten wahrnimmt, dieses Ziel zu erreichen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich habe auf jeden Fall aus seinem Munde nie eine so vorsichtige, zurückhaltende Formulierung gehört, wie sie kürzlich Herr von Brentano geäußert hat. Wir sollten uns darauf einigen, Wiedervereinigung ist in seiner Tragweite das Kernproblem der deutschen Politik und, ich glaube, auch das Kernproblem der europäischen Politik. Ich bin der Meinung, unser Volk verlangt mit Recht, daß unsere ganze Politik auf die Wiedervereinigung ausgerichtet ist und daß — ich möchte es einmal so formulieren — keine Möglichkeit einer Verwirklichung unseres Rechtes auf Wiedervereinigung ausgelassen wird, sofern sie nicht die Freiheit und den Bestand der Bundesrepublik gefährdet. Auf diese Prämisse muß man sich, glaube ich, und könnte sich die Opposition einlassen.
    Wir sind uns auf der anderen Seite wohl auch darin einig, daß es keine Wiedervereinigung ohne Einvernehmen mit den Sowjets gibt. Herr Ollenhauer hat erklärt, das Londoner Abkommen sei geeignet, die Wiedervereinigung zu gefährden, und verlangt deswegen, die weitere Behandlung des Abkommens zurückzustellen, keine Ratifikation herbeizuführen, sondern zunächst mit den Sowjets zu verhandeln, die Einberufung einer ViererKonferenz zu veranlassen. Diese Auffassung entspricht nicht der meiner Freunde. Wir sind der Ansicht, was in London erreicht worden ist, muß mit aller Konsequenz realisiert werden.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Die Wiederaufrüstung, die im Rahmen des Brüsseler Paktes vorgesehen ist, bedeutet für die Sowjets keinerlei Gefahr und kann sie nicht hindern, ein ernstes Gespräch über die Wiedervereinigung zu führen. Was hier geschieht, ist ja nur ein kleiner Schritt gemessen an dem, was in der Sowjetzone schon vollzogen ist, dort unter dem Vorzeichen der Volkspolizei und einer weitgehenden Aufrüstung, verbunden mit vormilitärischer Ausbildung beider Geschlechter, mit militärischer Ausbildung der Werktätigen beider Geschlechter. Den Sowjets steht also kein durchschlagendes Argument zur Verfügung, sich der Londoner Vereinbarungen wegen der Erfüllung der auch ihnen obliegenden Pflicht zu entziehen, der Wiedervereinigung Deutschlands zuzustimmen. Aus diesem Grunde halten wir die Forderung der Opposition, die Verwirklichung des Vertragswerkes von London aufzuschieben, für unbegründet.
    Ich habe in der Öffentlichkeit, als die ersten Mitteilungen von der Rede Wyschinskis in der UNO-Versammlung kamen, die Frage erörtert, ob sich hier nicht eine Chance für ein Gespräch der westlichen Welt besonders im Rahmen zunächst der UNO, später im Rahmen einer Vierer-Konferenz abzeichnet, zu einer globalen Entspannung zu kommen, die wir alle erhoffen. Wir wissen, es wird keine Wiedervereinigung geben, wenn sich die Weltspannung nicht zumindest lindert, die durch die beiden großen Machtblöcke geschaffen worden ist. Ich will es mir versagen, auf die technischen Details dieser Vorschläge einzugehen. Ich würde nur in der Verbindung der Vereinbarung über die Erweiterung des Brüsseler Paktes — mit seinen bestimmten Beschränkungen der Rüstung und Kontrollen der Rüstung — mit den Vorschlägen Wyschinskis eine solche Lösungsmöglichkeit sehen; diese muß man auf jeden Fall einmal behandeln. Natürlich ist es undenkbar, daß man, wie es in dem Vorschlag Wyschinskis enthalten ist, von dem Stand der Rüstung vom 31. Dezember 1953 auch für Europa ausgeht. Denn das würde ja in Wirklichkeit bedeuten, daß dieses Europa, dessen stärkste Militärmacht, glaube ich, immer noch die Schweiz ist, tatsächlich ungerüstet bliebe. Nur die Verbindung der beiden Vereinbarungen könnte zu einer Verständigung führen, und man muß — das ist meine Überzeugung— doch jede Chance nützen. Die Vorschläge Wyschinskis sind doch verblüffend konkret. Im Gegensatz zu früheren Vorschlägen wird nicht mehr gefordert, daß zunächst die Atomwaffe abgeschafft und die Produktion kontrolliert wird, ein Vorschlag, der dazu geführt hätte, daß die westliche Welt im wesentlichen schutzlos gewesen wäre, während Sowjetrußland im Besitze seiner gewaltigen Landmacht, Luftwaffe und auch Seemacht geblieben wäre. Jetzt wird vorgeschlagen: stufenweiser Abbau aller Waffen und Einrichtung internationaler Institutionen. Hier hat, glaube ich, die westliche Welt wirklich die Pflicht — ich habe es so formuliert —: den Russen beim Wort zu nehmen und zu klären, ob sich hier eine Chance der Entspannung ergibt.
    Ich sage: Wiedervereinigung, — wirklich ein ernstes Ziel, und ein schlechter Politiker, der nicht


    (Dr. Dehler)

    Tag für Tag und bei jeder Maßnahme sich prüft, ob er dieses Ziel richtig anstrebt und ob er nichts tut, was hemmt! Er soll vielleicht nicht jeden Tag seine gerade gewonnenen Erkenntnisse äußern!

    (Heiterkeit.)

    Aber es hängt von dem Geschick des Mannes ab, der gerade ein Interview von ihm will. Und das Schicksal teilt ja der Herr Bundeskanzler mit mir, daß Interviews oft Glücksache sind!

    (Heiterkeit und Beifall. — Abg. Schoettle: Herr Kollege Dehler, Interviewer haben gelegentlich das Glück, jemand im unbewachten Augenblick zu erwischen!)

    — Nein, sagen wir: in einem gelösten Augenblick, obwohl ich den guten Frankenwein in Würzburg erst nachher getrunken habe!

    (Erneute Heiterkeit.)

    Ich muß es doch einmal wiedergeben, nachdem Herr Kollege von Brentano mit etwas sehr streng erhobenem Zeigefinger und Querfalten in der Stirn mich getadelt hat.

    (Heiterkeit.)

    Es war wirklich ein lockeres Gespräch mit einem Pressemann, der mich fragte: Bitte, wie stellen Sie sich die Wiedervereinigung vor? — Es geht nicht ohne Verständigung mit Rußland. Es geht am Ende nicht ohne freie Wahlen. — Ja, und wenn keine freien Wahlen gewährt werden? — Eine sehr schwierige Fragestellung; ich habe oft darüber nachgedacht.

    (Abg. Frau Dr. Weber [Aachen] : Was haben Sie geantwortet?)

    — Frau Kollegin Weber, ich bin wirklich nicht so blöd, daß ich nicht freie Wahlen wollte und daß ich diese Forderung nicht unterschriebe!

    (Abg. Dr. von Brentano: Warum sagen Sie dann das Gegenteil?)

    Ich glaube, das ganze Kabinett unterstellt, daß ich ungefähr mit der Intelligenz eines 15jährigen ausgestattet sei; zumindest mit der Verantwortung eines 50jährigen, glaube ich, bin ich erfüllt.

    (Heiterkeit und Beifall.)

    Ich meine, daß man dann die Frage wägt: was geschieht, wenn die letzte Möglichkeit der freien Wahlen nicht gegeben ist? Ist sie überhaupt gegeben? Wie wird sie geschaffen? Schaffen Kontrollorgane von Neutralen ernstliche Freiheit, wenn der Russe, wenn Pankow noch vorhanden sind? Ich weiß die Wirkungen, die Querwirkungen, die kommen. Aber kein verantwortlicher Politiker, der nicht einmal versucht, diese Dinge zu Ende zu denken!
    Ich darf immerhin daran erinnern, daß Eden auf der Berliner Konferenz in Abweichung von unserem Wahlvorschlag einen Vorschlag gemacht hat, der durchaus zu dieser Konsequenz führt. Sie wissen, unser Vorschlag ging auf die Herstellung eines Wahlkreises für Gesamtdeutschland, mit Listen für ganz Deutschland. Eden hat in Berlin einen abweichenden Vorschlag gemacht: das alte Weimarer Reichstagswahlrecht zugrunde zu legen mit der Konsequenz, daß die Freiheit bei den Wahlen in der Sowjetzone immerhin beschränkt erscheinen müßte, daß also die Garantie für eine restlose Freiheit, auch für eine restlose innere Freiheit, für das Verscheuchen von Angst, nicht gegeben wäre. Mehr wollte ich doch nicht sagen!
    Wir sind uns doch einig, daß wir das Ziel der Freiheit haben. Die Frage ist: welches Risiko können wir tragen? Ich habe gesagt: ich bin überzeugt, daß die Menschen hier in der Bundesrepublik nun in einer Art mit ihrem Staat verknüpft sein werden, ein solches Bollwerk der Demokratie und der Freiheit darstellen werden, daß sie am Ende auch ein Risiko tragen können, daß sie am Ende auch eine kleine bolschewistische, eine kleine kommunistische Minderheit — ich habe den bayerischen Ausdruck gewählt — „verkraften" können. Und wie die Stimmung, wie der Geist in der Sowjetzone ist, wir wissen es doch! Wir wissen es seit dem 17. Juni vorigen Jahres und haben, glaube ich, aus dieser Aufwallung des Volkes nun auch die Überzeugung gewonnen: wir können uns auf die Deutschen drüben verlassen!

    (Beifall bei der FDP und beim GB/BHE.)

    Bedeutsam für unsere weitere Entwicklung ist unser Verhältnis zu Frankreich. Ich möchte hoffen, daß die Beziehungen zu Frankreich, fernab der aktuellen parteipolitischen Situation drüben, sich freundschaftlich entwickeln. Unser Verhältnis zu Frankreich ist das Rückgrat Europas. Hier dürfen keine taktischen Fehler geschehen. Wir haben manche Dinge in den letzten Monaten nicht ganz verstanden. Wir hoffen, daß der Geist von London das verscheucht hat und daß die Möglichkeit besteht, wirklich zu einem Fundament der Gemeinschaft und der vollen Verständigung mit Frankreich zu kommen.
    Zur Saarfrage! Die Vorstellung der Europäisierung der Saar ist am 30. August als irreal festgestellt worden. Diese Form wird es nicht geben. Frage: ist es nicht an der Zeit, den Versuch, den unglücklicherweise der damalige amerikanische Staatssekretär Byrnes im Jahre 1947 unternommen hat, Frankreich gewissermaßen mit der Saar abzufinden, als untauglich festzustellen und davon abzukommen? Meine Fraktion hat in dieser Frage von Anfang an einen klaren Standpunkt eingenommen. Wir sind bereit zu jedweder wirtschaftlichen Verständigung. Wir haben gerade auch bei der Beratung des Naters-Plans durch unseren Freund Pfleiderer Möglichkeiten aufgezeigt. Dazu stehen wir. Wir sind nicht gewillt, ein politisches Zugeständnis zu machen.

    (Beifall bei der FDP und beim GB/BHE.)

    Wir können das nicht nur der Saar wegen nicht, wir können das auch deswegen nicht, weil eine solche Entwicklung eine Wunde schaffen würde, die an unserem Volkskörper schwären und die Gefahr heraufbeschwören würde, daß wir dann wirklich von einem unheilvollen Nationalismus vergiftet würden.
    Wir sehen in dem Zugeständnis — ich darf einmal das Wort gebrauchen — der Souveränität — oder richtiger: in der Abschaffung des Besatzungsregimes — eine notwendige Konzession, die überfällig ist. Ihre Verzögerung war der Kaufpreis, den wir für die langverzögerte Behandlung des EVG-Planes zahlen mußten. Daß der Wille, uns die Souveränität im möglichen Rahmen zurückzugeben, an sich schon 1950/1951 vorhanden war, brauche ich Ihnen nicht in die Erinnerung zurückzurufen. Und der Gedanke, daß vier Sieger ein neues, ein besseres, ein anderes, demokratisches Deutschland im Wege der Neuerziehung schaffen könnten — nun, der hat sich ja wirklich als utopisch erwiesen. Das wissen wir besser, und wir haben es früher schon besser gewußt, welche politische Aufgabe uns


    (Dr. Dehler)

    Deutschen gestellt ist, daß nur aus eigener seelischer und geistiger Kraft die neue deutsche Armee, ich meine eine neue deutsche Demokratie — ich war schon einen Gedanken weiter! —

    (anhaltende Heiterkeit und Zurufe)

    — ach, auf die Armee kommt's auch an, warten Sie nur, die Armee als wesentlichen Teil einer deutschen Verfassungswirklichkeit! —, die deutsche Demokratie geschaffen werden kann.
    Der Wegfall der Notstandsklausel! Herr Ollenhauer, ich glaube nicht, daß Sie die Sorge haben müssen, daß ein neuer Art. 48 der Weimarer Verfassung vorbereitet wird.

    (Abg. Dr. von Brentano: Nein!)

    Aber was werden wir uns zugestehen müssen? Ich glaube, nicht einmal Herr Kollege Arndt wird darin eine Änderung der Verfassungsordnung sehen, wenn ich sage, daß die Notstandsklausel Pflicht und Recht jeder Regierung über die geschriebene Verfassung hinaus ist.
    Daß die Bindungsklausel fällt — wir erwarten das —, erfüllt uns mit Freude. Wir, meine Freunde, haben schon vor der Unterzeichnung der Verträge in letzter Stunde erreicht, daß der Automatismus in Art. 7 wegfiel. Die Voraussetzungen für diese Bindungsklausel sind endgültig gefallen und können daher gerade als ein Hindernis für die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes nicht mehr bestehen.
    Herr Kollege Ollenhauer, ich möchte auch noch Ihre Bemerkung aufgreifen, soziale Leistungen seien wichtiger als Divisionen. Ist das die Sprache, die wir sprechen können?

    (Sehr richtig! bei den Regierungsparteien. — Zuruf von der CDU/CSU: Die alte Platte!)

    Es hat keinen Staat in der Welt gegeben und hat kein Volk in der Welt gegeben, die nicht die Last der Rüstung getragen haben, und Sie werden doch nicht glauben, daß für Deutschland nach 1945 mit einem Male die Gesetze der Geschichte aufgehört haben, daß wir in der bedrängten Situation unseres Volkes im Herzen Europas nicht die Verpflichtnug haben, uns im Rahmen des Möglichen zu schützen und die Opfer, die das erfordert, zu tragen.

    (Beifall rechts.)

    Ich glaube, es ist ein gefährlicher Zungenschlag, hier soziale Leistungen und Aufwand für die Rüstung gegenüberzustellen. Es ist auch sachlich sehr irreführend. Das führt wieder zu der These, mit der man lange Jahre die deutsche Wirtschaft als solche diffamiert hat, indem man behauptet hat, sie habe die Aufrüstung Hitlers mitgemacht

    (Zurufe von der SPD: Hat sie auch!)

    um der Profite willen. — Ach Gott, wie kümmerlich, sage ich Ihnen! Die deutsche Wirtschaft hat sich mit Händen und Füßen gesträubt, die Auflagen zu übernehmen.

    (Lachen bei der SPD.)

    Lesen Sie die Tatsachen nach! Zeigen Sie mir den Fabrikanten, der sich danach drängt, Kriegswaffen zu produzieren!

    (Abg. Meitmann: Das sagen Sie als Demokrat, Herr Dehler? Wissen Sie nichts von Hitlers Inthronisierung durch die Schwerindustriellen auf Villa Hügel? Ignorieren Sie die Millionenbeträge, die der NSDAP aus diesen Kreisen zuflossen?)

    Aber davon ganz abgesehen: wie kann man solche Lebensfragen auf diesen Nenner bringen?! Eine deutsche Wehrmacht setzt voraus, daß der Arbeiter zu ihr gehört und zu ihr gehören will, daß er eine deutsche Wehrmacht als seine Wehrmacht empfindet. Das ist ja das Beklemmende in der heutigen Auseinandersetzung, daß dieser Zwiespalt sich auftut, daß wir uns über dieses Notwendige nicht verständigen,

    (Beifall bei der FDP)

    daß wir am Ende auch nicht gewillt sind, die Konsequenzen aus den Urgesetzen der Demokratie zu ziehen und das, was aus höchster Verantwortung Regierung und Mehrheit des Bundestags für richtig halten, im Interesse unseres ganzen Volkes und im Interesse auch des deutschen Arbeiters anzuerkennen und auszuführen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Da tut sich eine wichtige Frage auf — das war der falsche Zungenschlag, der mir vorhin unterlaufen ist —: die Frage der richtigen Wehrverfassung. Darum müssen wir nun kämpfen; hier kommen ein Recht und eine Pflicht des Parlaments zur Geltung. Ich sagte schon: die Wehrverfassung ist ein wesentlicher Teil der Verfassungswirklichkeit. Sie bestimmt weitgehend die Haltung der jungen deutschen Menschen zum Staat. Die allgemeine Wehrpflicht — ein Satz des Herrn Bundespräsidenten — ist das legitime Kind der Demokratie. So wie die Wehrmacht aussehen wird, wird weitgehend unser Staat, wird weitgehend unsere Demokratie aussehen. Frage, welche Erziehungsgrundsätze angewandt werden, welcher Geist in dieser Truppe herrscht. Es ist die Frage, ob wir nicht den Geist Scharnhorsts, Gneisenaus, Boyens berufen müssen, ob wir ihre Ideen nicht neu beleben müssen, Fehlentwicklungen während der letzten, man kann fast sagen 100 Jahre beseitigen müssen. Und das soll geschehen ohne Sie, ohne die .Sozialdemokratie?! Ich hoffe doch, nicht. Hier müssen wir uns zusammenfinden in der Erfüllung einer echten, im besten Sinne nationalen Aufgabe, die wir haben.

    (Beifall bei der FDP und in der Mitte.)

    Ich möchte noch ein persönliches Wort sagen. Die CDU-Presse hat mich in den letzten Tagen schlecht behandelt.

    (Heiterkeit in der Mitte.)

    Man hat sogar befürchtet oder erwartet, ich würde politisch entmündigt oder unter politische Vormundschaft gestellt werden; so ähnlich hat man sich wohl ausgedrückt.

    (Erneute Heiterkeit.)

    Das ist einer der Gründe, warum ich hier stehe. Es geht über den „Fall Dehler" hinaus. Ich habe das merkwürdige Geschick, die Gemüter zu erregen,

    (Heiterkeit in der Mitte)

    häufig ohne Grund, manchmal mit Grund. Aber was ich in den letzten Tagen erlebt habe, das rührt auch an unseren Lebensstil. Ich habe mich schon in der Weimarer Zeit politisch bekannt, und viele auch in Ihren Kreisen, glaube ich, erkennen an, daß ich mutig meinen Mann gestanden habe, mich nach meinen Kräften bemüht habe, das Unglück des Nationalsozialismus von unserem Volk fernzuhalten. Ich habe mich nach 1945 nicht geschont, bin in den Kampf gegangen, in meiner Heimat und hier. Daß ein Wort, daß ein unglücklich


    (Dr. Dehler)

    herausgekommener Satz genügt, mich in einer solchen Weise aller politischen, fast möchte ich sagen, persönlichen Ehre zu entkleiden, hat mich zutiefst betroffen.

    (Beifall bei der FDP.)

    Wenn es eine Koalitionsfrage gibt, dann gibt es auch die Frage dieses Stils!

    (Lebhafter Beifall bei der FDP. — Unruhe bei der CDU/CSU. — Abg. Schoettle: Herr Dr. Dehler, da teilen Sie jetzt nur unser Schicksal!)



Rede von Dr. Carlo Schmid
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Abgeordnete Haasler.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Horst Haasler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (GB/BHE)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der schwerste Vorwurf, der gegen den Londoner Pakt erhoben worden ist, sagt, er beinhalte einen Verzicht auf aktive Politik einer deutschen Wiedervereinigung. Es scheint mir der Mühe wert, diesen Vorwurf einmal sehr genau zu untersuchen. Er bezieht sich ja schließlich auf unser wichtigstes nationales Problem. Will man behaupten, daß der Pakt sinngemäß unvereinbar sei mit einer aktiven Politik deutscher Wiedervereinigung? Ich glaube, daß solche Behauptungen in Anbetracht des sehr klaren Textes abwegig sind. Denn dieser Text geht ja gerade davon aus, daß es grundlegender Anstrengungen aller Vertragspartner bedürfen wird — die auch gewährt werden sollen —, um die deutsche Wiedervereinigung herbeizuführen.
    Ist die Behauptung, der Pakt bedeute einen Verzicht auf die Politik der Wiedervereinigung, aufgestellt, weil man etwa das Kabinett und die hinter dem Kabinett stehenden Parteien in dem Verdacht hat, daß sie die Wiedervereinigung nicht intensiv genug betreiben? Man hat sich darüber nicht so sehr genau geäußert.

    (Zuruf des Abg. Wehner.)

    Aber ich glaube, nicht nur ich allein, Herr Wehner, hatte den Eindruck, daß dieser Verdacht mitklang. Auch mein Vorredner, Herr Dehler, ist bereits darauf eingegangen und hat hier für das Kabinett und den Kanzler aus eigener Anschauung eine Ehrenerklärung abgegeben. Ich glaube, Herr Wehner, hinzufügen zu können, daß keine der Parteien dieses Hauses, auch keine der Koalitionsparteien, die Frage der deutschen Wiedervereinigung hinter irgendeine andere Frage unserer nationalen oder internationalen Politik stellen wird.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Mindesten kann ich aber für meine Partei, den Gesamtdeutschen Block/BHE, sagen, daß wir uns von niemandem, auch nicht von der Opposition, in dem Bestreben werden übertreffen lassen, alles und auch das Allerletzte für diese Wiedervereinigung zu tun.

    (Beifall beim GB/BHE und in der Mitte.)

    Oder meinte man etwa, der Verzicht auf die Politik einer Wiedervereinigung läge in dem Pakt, weil die Sowjetunion das sagt? Zweifellos hören wir von der Sowjetunion fast jeden Tag eine Äußerung in diesem Sinne: Wenn ihr das macht, dann verschüttet ihr die letzte Möglichkeit einer Wiedervereinigung; wenn ihr euch etwa in dieses Lager — es war damals das Lager der EVG, es ist heute das Lager der Brüsseler Vertragsstaaten — begebt, dann begrabt ihr jede reale Chance einer Wiedervereinigung. Nun, meine Damen und Herren, es gab ja genug Zeiten, in denen die Einordnung Deutschlands in ein Paktsystem des Westens nicht zur Diskussion stand. Aber in diesen Zeiten ist doch von der Sowjetunion nichts getan worden, was die Wiedervereinigung überhaupt in das Stadium einer ernstlichen Diskussion gerückt hätte. Wir haben dagegen eine andere Erfahrung. Als es vor etwa zweieinhalb Jahren — es dürfte so um den März, April 1952 herum gewesen sein — so aussah, als ob aus der EVG Wirklichkeit würde, da kamen dann plötzlich aus der Sowjetunion reale Angebote, die realsten, die wir bisher in der Richtung erlebt haben.

    (Abg. Dr. von Brentano: Sehr richtig!)

    Man sprach dann im Laufe der Monate immer weniger und immer weniger davon, nämlich in dem Maße weniger, wie die Aussichten der Verwirklichung der EVG geringer wurden. Und es scheint doch nicht ganz von ungefähr, daß nunmehr, nachdem sich in London eine neue Lösung der europäischen Verteidigung abzeichnet, die Sowjetunion wieder mit positiven Vorschlägen aufwartet. Sind Sie, die Sie heute dieses Londoner Paktsystem kritisieren, so sicher, daß die jetzigen Vorschläge ergänzt oder überhaupt nur aufrechterhalten würden, wenn sich eines baldigen Tages herausstellte, daß das Londoner Projekt scheiterte? Glauben Sie nicht vielmehr, daß in diesem Augenblick die, na, ich will noch gar nicht einmal sagen, ausgestreckte Hand, sondern nur die Andeutung, daß man eine Hand ausstrecken wolle, dann prompt zurückgezogen werden würde?

    (Abg. Dr. von Brentano: Sehr gut!)

    Aus den Erfahrungen der letzten Jahre heraus sollten wir diese Befürchtung schon haben.
    Herr Kollege Mommer, Sie haben hier einen Zwischenruf gemacht: Ja, man könne doch Termine setzen; der Westen könne doch der Sowjetunion mit Terminen aufwarten, so etwa wie es Herr Mendès-France in seiner innenpolitischen Sphäre tut. — Nun, Herr Mommer, ich glaube, die Termine liegen sowieso in der Luft, ohne daß sie ausdrücklich gesetzt werden müßten. Wenn es der Sowjetunion wirklich ernst mit einer Wiedervereinigung, einer Entspannung wäre— wohlgemerkt: alles im Rahmen einer wirklich freiheitlichen Lösung —, dann hätte sie auch ohne besondere Aufforderung bis zur Ratifikation dieses Werks genügend Zeit, um uns davon zu überzeugen, daß sie guten Willens ist.

    (Beifall beim GB/BHE.)

    Wir meinen, solange wir dort nicht genügend guten Willen sehen, solange wir befürchten müssen, daß es jenseits unserer Grenzen Kräfte gibt, die Lösungen auch mit Mitteln des kalten oder warmen Krieges anstreben, haben wir gegenüber unserer Nation die Verpflichtung, alles zu tun, um uns vor den Zufälligkeiten und Willkürlichkeiten einer solchen Politik zu sichern.
    Oder hatten Sie, als Sie davon sprachen, eine aktive Politik der Wiedervereinigung werde durch dieses Paktsystem erschwert, etwa die Tatsache im Auge, daß die Frage der sogenannten Bindungsklausel nicht ausdrücklich geregelt worden ist? Herr Ollenhauer hat, wenn ich recht hörte, sogar gesagt: Die Tatsache, daß eine Auflösungsklausel für den Fall der Wiedervereinigung fehle, ziehe ja automatisch das wiedervereinigte Deutschland in


    (Haasler)

    das Paktsystem, hinein. Wahrscheinlich wird er daran die Überlegung angeschlossen haben, daß unter diesen Umständen mit einem Entgegenkommen des Ostens absolut nicht zu rechnen sei, weil der Osten die sowjetisch besetzte Zone nicht in ein Militärsystem des Westens hineinziehen lassen wolle.
    Sicherlich ist es richtig, daß eine ausdrückliche Bestimmung über die Frage der Entscheidungsfreiheit eines künftigen Gesamtdeutschlands in dem Vertragswerk nicht enthalten — offenbar auch nicht vorgesehen — ist. Ich möchte aber davor warnen, diese Tatsache nun so wie Herr Ollenhauer einfach in dem Sinne zu interpretieren, daß wir deshalb Gesamtdeutschland gebunden hätten. Das geltende Völkerrecht scheint mir eine ganz andere Lösung nahezulegen, nämlich die Lösung, daß die deutsche Bundesrepublik niemals in der Lage ist, durch ihre Unterschrift das ganze Deutschland zu binden. Ich glaube, wir tun unserer Sache einen sehr schlechten Gefallen und helfen damit dem Bolschewismus nur argumentieren, wenn wir für die Beurteilung der Frage einer Entscheidungsfreiheit eine Auslegung wählen, die im internationalen Recht nicht herrschend ist.
    Die Auseinandersetzungen um die Frage der deutschen Entscheidungsfreiheit scheinen mir überhaupt einen etwas zu großen Umfang in der öffentlichen Diskussion einzunehmen. Sie könnten in der überintensiven Form, in der sie heute betrieben werden, eher dazu geeignet sein, Mißtrauen zu säen, als zur Lösung der Sache beizutragen. Wir geraten nämlich langsam in den Verdacht, daß wir eine Hintertür suchten, daß wir es mit den jetzt von uns zu übernehmenden Verpflichtungen nicht ernst meinten und daß wir uns oder dem hoffentlich recht bald geeinten Deutschland einen Kurs geben wollten weg vom Westen. Anders können diese mit so großer Intensität betriebenen Erörterungen beinahe kaum noch verstanden werden.
    Deshalb halte ich es für richtig, das noch einmal zu wiederholen, was seitens des Herrn Bundeskanzlers, was seitens sehr vieler verantwortlicher Politiker zu diesem Thema schon mehrfach gesagt worden ist. Unser Platz, der Platz des deutschen Volkes, ist zweifelsfrei an der Seite derjenigen Völker, die sich ihre Freiheit nach westlichem Muster gegeben haben.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Daran wird sich auch nichts ändern, gleichgültig, ob dieses Deutschland nur im Rahmen der Bundesrepublik organisiert ist oder hoffentlich recht bald im Rahmen eines gesamten, eines geeinten Deutschland.

    (Beifall beim GB/BHE.)

    Wir wollen nicht in den Verdacht kommen, das nur rein deklaratorisch der Welt vorzusetzen und heimlich daran vielleicht die Erwägung zu knüpfen: Ja, aber politisch mag dann dieses Deutschland doch einen anderen Weg gehen oder jedenfalls gehen dürfen. Solche Anspielungen, solche Pläne scheinen mir gefährlich. Wir sind davon überzeugt, daß ein geeintes Deutschland in seiner politischen freiheitlichen Grundhaltung niemals einen Weg gehen wird, der sich in das Gewaltsystem des Ostens irgendwie einordnet.

    (Zustimmung bei den Regierungsparteien.)

    Allerdings wird auch das geeinte Deutschland den gleichen Willen zu friedlichen Regelungen bekunden, wie die Bundesregierung das für die Bundesrepublik anläßlich der Londoner Verhandlungen getan hat. Wir tun damit der Menschheit und insbesondere der freien Welt den größten Gefallen.
    Lassen Sie mich zu dem in London ausgesprochenen Verzicht auf jede kriegerische Lösung noch ein paar Worte sagen. Diese Erklärung ist in der Öffentlichkeit leider nicht so beachtet worden, wie sie das verdiente. Es ist doch vielleicht das erste Mal in der Geschichte der modernen Politik, daß ein großes Volk erklärt, selbst die Lösung seiner wichtigsten Lebensfrage, selbst sein höchstes nationales Anliegen, die Wiedervereinigung, werde es nicht mit kriegerischen Mitteln betreiben. In dieser Erklärung liegt doch eine wirklich moderne, moralisch gar nicht hoch genug zu wertende Grundhaltung, für die uns die Welt dankbar sein sollte.

    (Beifall beim GB/BHE und bei der CDU/CSU.)

    Es stünde besser um die Menschheit, wenn jedes Land der Erde sich zu solchen Erklärungen bereitfinden würde und diese Erklärungen dann auch hielte. Lassen Sie mich gerade als Sprecher der Fraktion des Gesamtdeutschen Blocks/BHE dem Bundeskanzler für diese Erklärung Dank sagen. Ich tue das deshalb, weil im Laufe des letzten Jahres böswillige Pressestimmen des Auslandes meine Partei in den Verdacht bringen wollten, eine „Politik der Irredenta" zu betreiben, eine Politik, die auf gewaltsame Lösungen insbesondere bezüglich unserer Ostgrenzen hinsteuerte. Möge man dort zur Kenntnis nehmen, daß gerade wir die Erklärung des Kanzlers billigen. Wir werden niemals aufhören, für unsere Heimat, für unsere Gebiete ostwärts der Oder-Neiße-Linie mit allen friedlichen Mitteln zu kämpfen, aber wir wollen nicht zurück in die Heimat an neuen Gräbern vorbei.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    So schmerzlich die Entwicklung für uns sein mag, wir möchten durch eine gewaltsame Erfüllung unseres Wunsches die westliche Zivilisation und die Menschheit nicht in unsägliches Unglück stürzen, vielleicht in einen Zustand, der überhaupt das Ende jeder Zivilisation bedeutete.
    Wenn die Sowjetunion die Absicht hat, zu einer Beilegung der Spannungen zu kommen, so wird — und das ist unsere Meinung — der Londoner Pakt dem nicht entgegenstehen. Im Gegenteil, wenn die Sowjetunion es mit ihren Erklärungen, die sie als Mitglied der UNO abgegeben hat, ernst meint, dann sollte sie sich über die Hereinnahme der Bundesrepublik in dieses System freuen; denn hier wird ja die deutsche Bundesrepublik zum erstenmal in einen festen, sehr festen Zusammenhang mit den Grundsätzen der UNO gebracht. Und wenn es der Sowjetunion wirklich um das Selbstbestimmungsrecht der Völker und um all die anderen Grundsätze geht, die in der UNO-Satzung verankert sind, dann sollte sie in dem Heranziehen der Bundesrepublik an diese Satzung eine neue Chance für den Frieden sehen.
    Von uns aus — und das wäre auch noch ganz deutlich zu sagen — wird der Brüsseler Pakt nicht etwa in der Annahme geschlossen, daß wir damit in kriegerische Verwicklungen hineinkommen, auch nicht etwa in der Annahme, daß ein Krieg unumgänglich sei und daß wir eine bestimmte Seite, die zur Zeit mehr Aussichten besitzt, unterstützen wollten, sondern von uns aus wird der Beitrag zur Verteidigung nur geleistet in der Zu-


    (Haasler)

    versieht, daß dieser Beitrag dazu mithelfen wird, der Welt den Frieden zu erhalten.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Zu irgendeiner anderen Auslegung, irgendeiner anderen Politik innerhalb der Paktorganisation wird das deutsche Volk niemand bringen können. Man tut einer Verständigung, die wir alle, Herr Ollenhauer, wir alle , mit Sowjetrußland anstreben, aber keinen Gefallen mit Verdächtigungen, am wenigsten schon mit Verdächtigungen der Art, daß die angegebenen Zahlen des Wehrbeitrags nur zur Beruhigung irgendwelcher Leute draußen gedacht seien und daß man sich bereits höhere Zahlen zuflüstere. Ich habe solche höheren Zahlen nicht gehört. Wenn sie aber geflüstert werden, sollte man die, die da flüstern, stellen.

    (Sehr richtig! in der Mitte.)

    Die deutsche Öffentlichkeit und auch die Weltöffentlichkeit haben einen Anspruch darauf, die Wahrheit zu erfahren. Was an uns liegt, so werden wir uns dafür einsetzen, daß auch hier die Wahrheit offenbar wird und bleibt.
    Aber man tut der deutschen Sache auch keinen Gefallen mit Verdächtigungen, die in der Richtung eines wiedererwachenden Nationalismus liegen. Ein solcher Nationalismus erwacht bei uns nicht; es sei denn, Sie betrachten die einheitliche Ablehnung des deutschen Volkes gegenüber undemokratischen Saarlösungen schon als erwachenden Nationalismus. Das glaube ich aber nicht, denn Sie gehören ja zu denen, die gegen die bisher vorgesehenen und etwaigen noch in Aussicht stehenden Saarlösungen am lautesten polemisieren. Wenn Sie nun aber doch meinen, daß das schon Nationalismus sei, dann können Sie auch uns als Nationalisten bezeichnen. Wollen Sie aber den Begriff klassisch fassen, dann sind wir nicht mehr dabei.
    Über die Saarfrage ist von meinen drei Vorrednern schon Wichtiges gesagt worden. Die Akzente waren etwas unterschiedlich. Ich glaube aber nicht, daß es notwendig ist,- in diesem Zeitpunkt hier eine Saardebatte zu führen. Sie gehört auch nur sehr mittelbar zu den heute zu behandelnden Problemen. Das Londoner Vertragswerk sagt nichts über die Saar. Uns ist erklärt worden, daß irgendein Junktim nicht besteht. Lediglich die Tatsache, daß der Herr französische Ministerpräsident die Saarfrage in einen Zusammenhang mit dem Vertragswerk gebracht hat, gab uns Veranlassung, darauf einzugehen. Ich meine, wir tun der Sache jedoch keinen Gefallen, wenn wir das allzuweit ausbauen. Deshalb möchte ich gleich mit gutem Beispiel vorangehen und mich auf ganz wenige Sätze beschränken.
    Auch wir sind der Meinung, daß das Problem der Saar nur auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker gelöst werden kann. Wir wünschen nicht, daß an der Saar ein Präzedenzfall geschaffen wird, der uns bei der Verfolgung unserer berechtigten Ansprüche auf der anderen Seite des deutschen Lebensraums Schwierigkeiten — vielleicht sogar unüberwindliche Schwierigkeiten — macht. Wir sind auch bereit, das Prinzip der Selbstbestimmung dann zu achten, wenn es für uns etwa ungewisse oder vorübergehend sogar ungünstige Ergebnisse zeitigen sollte. Es geht uns um eine saubere Auffassung vom Recht, es geht hier um Rechtsprinzipien, die in jedem Falle auch dann nicht wegzudiskutieren sind, wenn man Befürchtungen über ihre praktischen Auswirkungen haben sollte. Wir meinen jedoch, daß im gegenwärtigen Stadium eine gerechte Anwendung des Selbstbestimmungsrechts der Völker an der Saar überhaupt nicht möglich ist,

    (Abg. Samwer: Sehr richtig!)

    weil man der Bevölkerung der Saar seit fast einem Jahrzehnt wider jedes Menschen- und Völkerrecht eine freie Meinungsbildung untersagt, weil man ihre politische Entwicklung in eine ganz einseitige, uns abträgliche Richtung gedrängt und weil man es verstanden hat, durch politische Maßnahmen das deutsche Wort dort drüben zum Schweigen zu bringen.

    (Zustimmung beim GB/BHE.)

    Im übrigen möchte ich in diesem Zusammenhang nur auf die Tatsache verweisen, daß auch in dem uns vorliegenden Vertragswerk davon die Rede ist, daß die Grenzen Deutschlands erst in einer Friedensregelung mit dem gesamtdeutschen Staat festgelegt werden können.
    Es gibt mancherlei Bedenken gegen das Londoner Vertragswerk. Ich habe es begrüßt, daß die Bedenken — die anderen Parteien haben. sie wohl genau so wie wir — hier nicht im einzelnen ausgebreitet wurden. Vielleicht ist der Zeitpunkt dazu auch noch etwas früh. Ich möchte auch nicht in die Einzelheiten gehen. Ich möchte aber erklären, daß uns die Tendenz dieses Vertrags eine positive Wertung nahelegt, daß wir meinen, daß hier ein Weg ist, ein Weg, den wir gehen sollten, ohne übermäßige Hast, ohne allzu großen Jubel, aber mit dem festen Vorsatz, das unsrige zu tun, um die freie Welt zu verteidigen, das unsrige zu tun, um eines Tages doch noch zu Europa zu kommen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)