Ich stelle fest, daß der größere Teil der Delegierten zum Europarat, wenn ich recht sehe, heute hier ist.
Ich darf unterstellen, daß das Haus mit der Erteilung des Urlaubs, soweit er über eine Woche hinausgeht, einverstanden ist.
Meine Damen und Herren! Vor Eintritt in die Tagesordnung
gedenke ich zunächst der Tatsache, daß am 22. August der Bundestagsabgeordnete der SPD Wilhelm Tenhagen durch einen Unglücksfall ums Leben gekommen ist. Er ist 1911 in Duisburg geboren, hat dort als Schriftsetzer gelernt und ist in die Sozialistische Arbeiterjugend eingetreten. Er ist dann in Werken des Ruhrgebiets tätig gewesen. Nach 1945 hat er am Aufbau der Gewerkschaft mitgewirkt und war 1946 Oberbürgermeister von Bottrop. Er hat dem 1. Bundestag angehört und ist ebenfalls in den 2. Bundestag gewählt worden. Er war Mitglied des Vorstandes des Bundestags und Mitglied des Ausschusses für Kommunalpolitik, des Ausschusses für Finanz- und Steuerfragen und des Unterausschusses für Fragen der Umsatzsteuer. Der Bundestag gedenkt der Arbeit, die Herr Tenhagen geleistet hat, mit Dank und spricht der Fraktion des Verstorbenen sein Beileid aus.
Ich gedenke weiter der Tatsache, daß das Staatsoberhaupt der Republik Brasilien, Herr Dr. Vargas, in tragischer Weise am 24. August 1954 ums Leben gekommen ist. Er war seit 1930, mit Unterbrechung in mehreren Jahren, Staatsoberhaupt der uns befreundeten Republik Brasilien. Der Deutsche Bundestag benutzt diese erste Gelegenheit nach seinem Tode, um dem brasilianischen Volke seine Anteilnahme zum Ausdruck zu bringen.
In den Nächten vom 9. zum 11. September hat es in Algerien, in Orléansville, eine Erdbebenkatastrophe großen Ausmaßes gegeben, der weit über tausend Personen zum Opfer gefallen sind. Der Deutsche Bundestag nimmt auch an diesem schweren Unglück aufrichtigen Anteil.
Ich danke Ihnen.
Ich habe mitzuteilen, daß Herr Abgeordneter Dr. Middelhauve gemäß § 51 des Wahlgesetzes seinen Verzicht auf sein Mandat als Bundestagsabgeordneter erklärt hat. Als sein Nachfolger ist Herr Abgeordneter Fritz Held aus Lemgo in den Bundestag eingetreten. Ich heiße ihn herzlich willkommen und wünsche ihm eine ersprießliche Arbeit in unserem Kreise.
Als Nachfolger für den verstorbenen Abgeordneten Tenhagen ist der Abgeordnete Friedhelm Mißmahl in den Deutschen Bundestag eingetreten. Er ist heute nicht anwesend; ich werde ihn begrüßen, wenn er das erste Mal an der Sitzung des Bundestages teilnimmt.
Der Abgeordnete Meyer-Ronnenberg hat mir mitgeteilt, daß er aus der Fraktion des Gesamtdeutschen Blocks/BHE ausgetreten und zur Fraktion der CDU/CSU übergetreten ist.
Meine Damen und Herren, die längere Sitzungspause hat es mit sich gebracht, daß eine größere Zahl von Abgeordneten Geburtstage gefeiert haben. Wir nehmen von ihnen wie üblich Notiz, soweit die Abgeordneten über 60 Jahre alt sind.
Am 29. Juli feierten den 70. Geburtstag der Abgeordnete Dr. Dr. Müller
und der Abgeordnete Bundesminister Neumayer,
am 29. August den 69. Geburtstag Abgeordneter Jahn ,
am 7. August den 67. die Abgeordnete Frau Welter ,
am 17. Juli den 66. der Abgeordnete Brockmann .
Den 64. Geburtstag feierten am 29. Juli der Abgeordnete Bock und am 30. August der Abgeordnete Dr. Königswarter,
den 63. Geburtstag am 21. August der Abgeordnete Ruhnke,
den 62. am 19. August die Frau Abgeordnete Dr. Steinbiß.
Den 61. Geburtstag feierten am 31. Juli Herr Abgeordneter Dr. Leverkuehn, am 5. August Herr Abgeordneter Dr. Zimmermann und am 19. August Herr Abgeordneter Reitzner,
und in die Reihe der erwähnenswerten Abgeordneten trat am 4. August Herr Abgeordneter Platner mit seinem 60. Geburtstag ein.
Ich spreche all diesen genannten Abgeordneten namens des Bundestages herzliche Glückwünsche aus.
Die übrigen amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesrat hat in seinen Sitzungen am 16. und 23. Juli 1954 den nachstehenden Gesetzen zugestimmt bzw. einen Antrag gemäß Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht gestellt:
Gesetz über die steuerliche und sozialversicherungsrechtliche Behandlung von Kindergeld;
Viertes Gesetz zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes;
Gesetz über den Erlaß von Strafen und Geldbußen und die Niederschlagung von Strafverfahren und Bußgeldverfahren ;
Gesetz über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu der Konvention vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes;
Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes:
Zweites Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die vor-
läufige Regelung der Errichtung neuer Apotheken;
Gesetz betreffend das Abkommen vom 1. Juli 1953 über die Errichtung einer Europäischen Organisation für kernphysikalische Forschung;
Gesetz über die Verlängerung der Vereinbarung vom 14. Juli 1952 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Fürsorge für Hilfsbedürftige;
Gesetz zur Ergänzung des Zuckergesetzes;
Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Herkunftsbezeichnung des Hopfens;
Gesetz über das Zweite Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Osterreich über Sozialversicherung;
Gesetz betreffend das Übereinkommen Nr. 101 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 26. Juni 1952 über den bezahlten Urlaub in der Landwirtschaft;
Gesetz über das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Dänemark über Sozialversicherung;
Gesetz über das Dritte Berichtigungs- und Änderungsprotokoll vom 24. Oktober 1953 zu den Zollzugeständnislisten des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens ;
Gesetz über das Zweite Zusatzabkommen vom 4. Dezember 1953 zum Zollvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft;
Viertes Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung der Bank deutscher Länder;
Zweites Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Deutsche Genossenschaftskasse in der Fassung vom 3. Februar 1951;
Gesetz betreffend die Treuhandverwaltung über das Vermögen der Deutschen Reichsbank.
Zum Gesetz über die steuerliche und sozialrechtliche Behandlung von Kindergeld und zum Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes hat der Bundesrat ferner Entschließungen gefaßt, die als Drucksachen 752 und 754 verteilt worden sind.
Der Bundesrat hat weiterhin zum Gesetz über die Lastenausgleichsbank gemäß Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes die Einberufung des Vermittlungsausschusses verlangt; sein diesbezüglicher Antrag ist als Drucksache 753 verteilt worden.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 10. August 1954 die Kleine Anfrage 44 der Abgeordneten Frau Korspeter und Genossen, betreffend Entschädigung für Besatzungsmaßnahmen Im Lande Niedersachsen — Drucksache 388 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 770 vervielfältigt.
Der Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen hat unter dem 15. Juli 1954 die Kleine Anfrage 79 der Fraktion der DP, betreffend Sonderstempel der Deutschen Bundespost für Parteitage — Drucksache 620 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 747 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 24. August 1954 die Kleine Anfrage 81 der Fraktion der FDP betreffend Tilly-Strumpffabrik GmbH — Drucksache 631 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 786 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 15. Juli 1954 die Kleine Anfrage 83 der Fraktion der DP betreffend Deutsche Werke Kiel AG — Drucksache 636 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 764 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Wirtschaft hat unter dem 24. Juli 1954 die Kleine Anfrage 85 der Abgeordneten Funk, Wieninger, Dr. Dollinger und Genossen betreffend Illoyale Konkurrenz bei Walzstahleinfuhren — Drucksache 639 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 761 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Verkehr hat unter dem 15. Juli 1954 die Kleine Anfrage 87 der Abgeordneten Sassnick, Seidel und Genossen betreffend Rhein-Main-Donau Großschifffahrtsstraße — Drucksache 641 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 748 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Arbeit hat unter dem 23. Juli 1954 die Kleine Anfrage 90 der Fraktion der DP betreffend Versorgung von Kriegsopfern mit ständigem Wohnsitz im Ausland — Drucksache 670 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 756 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 16. August 1954 die Kleine Anfrage 91 der Fraktion der DP betreffend Zusammenführung ehemals preußischen Kulturgutes in Berlin — Drucksache 671 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 777 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat unter dem 5. August 1954 die Kleine Anfrage 92 der Abgeordneten Lermer, Höcherl, Unertl, Wittmann und Genossen betreffend zusätzliche Agrareinfuhren — Drucksache 672 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 766 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat unter dem 17. August 1954 die Kleine Anfrage 95 der Abgeordneten Dannemann, Frühwald, Hepp, Mauk, Schwann und Genossen betreffend Einfuhr von Frühkartoffeln — Drucksache 704 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 776 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat unter dem 19. August 1954 die Kleine Anfrage 96 der Fraktion der SPD betreffend Einfuhrmindestpreise — Drucksache 726 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 778 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Wirtschaft hat unter dem 8. September 1954 die Kleine Anfrage 97 der Abgeordneten Platner, Dr. Leiske, Dr. Löhr und Genossen betreffend Förderung der Notstandsgebiete — Drucksache 706 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 808 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 14. August 1954 die Kleine Anfrage 99 der Abgeordneten Dr. Becker und Genossen betreffend Kostenaufwand für die Bearbeitung der Hypothekengewinnabgabe — Drucksache 737 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 773 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Verkehr hat unter dem 7. September 1954 die Kleine Anfrage 103 der Fraktion der FDP betreffend Auflösung von Wetterdienststellen — Drucksache 779 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 797 vervielfältigt.
Meine Damen und Herren, wir treten damit in die Tagesordnung ein. Ich weise darauf hin, daß eine Verständigung im Ältestenrat darüber zustande gekommen ist, daß die Sitzung etwa bis 19 Uhr ausgedehnt werden soll, und für den Fall, daß der Punkt 3 der Tagesordnung heute nicht mehr erledigt werden könnte, in Aussicht genommen ist, ihn morgen auf die Tagesordnung zu setzen. Ich bitte freundlichst, sich darauf einzurichten.
Wir kommen zunächst zum Punkt 1:
a) Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der SPD betreffend Fall John ;
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD betreffend Einsetzung eines Untersuchungsausschusses im Falle John ;
c) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD betreffend Mißbilligung des Verhaltens des Bundesministers des Innern .
Meine Damen und Herren, ich schlage Ihnen folgendes Verfahren vor: daß im Interesse der Vereinfachung die beiden Anträge und die Große Anfrage zuvor begründet werden — und zwar werden Herr Abgeordneter Mellies und Herr Abgeordneter Dr. Menzel, wenn ich recht weiß, diese Anfrage begründen —, daß danach die Große Anfrage vom Herrn Bundesminster des Innern beantwortet wird und daß dann die gemeinsame Aussprache über die Große Anfrage und über die beiden von der Fraktion der SPD gestellten Anträge stattfindet.
Ich glaube, ich brauche mich nicht zu vergewissern, daß das Haus eine Aussprache über die Große Anfrage wünscht. Ich stelle also fest, um den geschäftsordnungsmäßigen Erfordernissen zu entsprechen, daß die entsprechende Zahl von Abgeordneten eine solche Aussprache wünscht.
Ich bitte zunächst zur Begründung der Anträge Herrn Abgeordneten Mellies.
Mellies , Anfragender: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Drei Bemerkungen möchte ich meinen Ausführungen vorausschicken. Erstens. Bei der Bedeutung und Schwere des Falles für die Bundesrepublik und die parlamentarische Demokratie kann es sich nicht um eine Begründung im engen Rahmen handeln. Es ist notwendig, gleich einiges zu dem Gesamtgehalt der Dinge zu sagen.
Zweitens. Wenn über den Fall John debattiert werden soll, dann kann das auf keinen Fall mit der einfachen Bemerkung abgetan werden: Es hat immer Verräter gegeben, und im Fall John trifft eben auch das Wort zu: „Einer unter euch wird mich verraten." Damit kann man das Problem nicht erledigen.
Und eine dritte Bemerkung: Fehlgriffe in der Personalpolitik werden nie ganz zu vermeiden sein. Das liegt begründet in der Unzulänglichkeit der Menschen. Aber — damit komme ich schon zur Sache — gerade diese Erkenntnis verpflichtet, in
allen Personalfragen sehr sorgfältig zu verfahren. Je höher die Stellung ist, je größer die Verantwortung, die dort getragen werden muß, aber auch je größer die Versuchungen und Gefahren eines Amtes sind, desto sorgfältiger muß eine solche Prüfung vorgenommen werden.
Man kann aber diese Frage nicht behandeln vom Standpunkt der moralischen Aufrüstung, wie das von Herrn Minister Hellwege in seinem Artikel in der „Welt" vom 9. September dieses Jahres geschehen ist.
Dieser Artikel war auch wohl in erster Linie zu dem Zweck erschienen, der schleswig-holsteinischen Bayernpartei noch ein wenig auf die Beine zu helfen.
Viel genützt hat es offenbar nicht, Herr Minister. Wenn aber in dem Artikel von der Zusammenarbeit der Regierung und der Opposition in den Fragen der Personalpolitik gesprochen wird, dann möchte ich Sie, Herr Minister, doch bitten, einmal nachzulesen, was Ihre Fraktionskollegin Kalinke im vorigen Bundestag gegen sozialdemokratische Beamte gesagt hat. Wahrscheinlich werden Sie dann erkennen, daß in Ihrer eigenen Partei noch außerordentlich viel moralisch aufzurüsten ist.
— Das haben wir nach dem Ergebnis der Wahl in
Schleswig-Holstein gar nicht nötig, Herr Kollege!
Der Herr Bundeskanzler soll gesagt haben, John habe ihm schon immer nicht gefallen. Wann war das, Herr Bundeskanzler, d. h. wann kam Ihnen diese Erkenntnis?
Bundeskanzler Dr. Adenauer: Als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, und deswegen war ich so erstaunt, daß Sie ihn ins Auswärtige Amt haben wollten!
Mellies , Anfragender: Herr Bundeskanzler, Sie dürften da einem großen Irrtum unterliegen. Die Sozialdemokratische Partei hat zwar gegen die Berufung von John in das eine oder andere Amt der Bundesrepublik keine Einwendungen erhoben;
sie hat sich aber nie positiv für ihn eingesetzt. Das möchte ich in aller Deutlichkeit hier festgestellt haben.
Wenn Ihnen aber, Herr Bundeskanzler, diese Unlustgefühle in bezug auf den Präsidenten des Bundesverfassungsschutzamtes gekommen sind, haben Sie dann Ihren Innenminister angewiesen, fein achtzuhaben auf den Knaben John, oder haben Sie diese Gefühle einsam in Ihrem Busen verwahrt?
Hier ergibt sich die nächste Frage: ob und wie die Dienstaufsicht von dem dazu berufenen Innenminister gehandhabt worden ist. Bestand eine Geschäftsordnung für das Amt, die klar und eindeutig bestimmte, daß alle Auskünfte nur durch die Hand des Innenministers zu gehen hatten? Oder
haben Sie es geduldet, Herr Innenminister, daß auch von anderen Stellen, vor allen Dingen vom Bundeskanzleramt, und zwar nicht nur vom Bundeskanzler persönlich, sondern auch von den anderen Beamten des Bundeskanzleramtes, Aufträge an das Bundesverfassungsschutzamt gegeben wurden? Ich habe wohl Grund zu der Annahme, daß das letztere der Fall ist. Sind Ihnen denn bei einer solchen Handhabung der Dinge, mindestens nach der Affäre „Vulkan", nie irgendwelche Bedenken gekommen? Und haben Sie darüber nicht einmal eine Aussprache mit dem Herrn Bundeskanzler herbeigeführt? Wie wollten Sie die Verantwortung tragen, wenn mehrere Stellen Aufträge, die Sie gar nicht kannten, an das Amt gegeben haben?
Und eine letzte Frage steht in diesem Bereich, die vom Parlament sehr sorgfältig zu prüfen ist. Wir werden uns zu überlegen haben, ob der gegenwärtige Aufbau des Amtes nicht auch viele Unzulänglichkeiten enthält und vor allen Dingen große Gefahren in sich birgt. Diese Fragen werden wir heute hier nicht ausdiskutieren können. Aber es ist notwendig, daß sie vom gesamten Parlament sehr ernst gesehen werden. Mit Vorschlägen der einen oder der anderen Art sollte man vielleicht im Augenblick noch zurückhalten, damit keine voreiligen Festlegungen erfolgen. Aber, wie gesagt, der Gesamtgehalt muß überprüft werden, und diese Überprüfung muß möglichst bald erfolgen, damit nicht plötzlich neue Schwierigkeiten vor uns stehen. Hier ergibt sich für das gesamte Parlament eine besondere Verantwortung.
Der Fall John hat eine außergewöhnliche Erschütterung und die größte Vertrauenskrise seit dem Jahre 1945 im gesamten deutschen Volk hervorgerufen. In anderen demokratischen Staaten würde ein solcher Fall selbstverständlich auch ungeheures Aufsehen erregen, aber eine so ausgesprochene Vertrauenskrise würde damit wohl nicht verbunden sein. Wir müssen uns deshalb fragen, worauf diese Vertrauenskrise zurückzuführen ist. In den letzten Wochen zeigte sich die ganze Labilität unserer parlamentarischen Demokratie, vor der viele in den letzten Jahren so gern die Augen verschlossen haben. Es ist mit erschreckender Deutlichkeit klargeworden, wie wenig in der Bundesrepublik getan wurde, um eine echte parlamentarische Demokratie aufzubauen. Ja, man kann sagen, daß sehr viel getan wurde, um ein Vertrauen zu dieser parlamentarischen Demokratie zu verhindern. Bei dieser Prüfung, meine Damen und Herren, muß das Parlament bei sich selbst anfangen.
Die sozialdemokratische Fraktion bedauert außerordentlich, daß diese Aussprache erst heute stattfindet. Es wäre Aufgabe des Parlaments gewesen, zu diesen Fragen möglichst bald in voller Öffentlichkeit Stellung zu nehmen.
Das konnte die Bevölkerung der Bundesrepublik erwarten.
Wir haben deshalb eine Sondersitzung beantragt und hätten gewünscht, daß sie noch im August stattgefunden hätte. Aber leider ist die Mehrheit des Hauses unseren Vorschlägen nicht gefolgt, so daß wir erst jetzt, fast zwei Monate nach dem Vorgang, zu einer Erörterung im Parlament kommen. Es wird wohl niemanden geben, der behauptet, das habe der Demokratie und dem Ansehen des Parlaments keinen Schaden zugefügt. Es bestand auch
kein sachlicher Grund, eine solche Sondersitzung nicht abzuhalten. Die Notwendigkeit der Ferien für die Abgeordneten wird von niemandem verkannt; aber wenn es um so wichtige staatspolitische Fragen geht, müssen Ferien zurückstehen. Dafür haben wir schließlich den Auftrag von unseren Wählern bekommen.
Der von uns genannte 24. August hätte auch auf alle anderen Tagungen gebührend Rücksicht genommen. Es konnten dann die Kollegen, die an der Tagung der Interparlamentarischen Union teilnehmen wollten, noch rechtzeitig genug nach Wien fahren. Der Katholikentag, den wir selbstverständlich zu respektieren hatten, wäre nicht berührt worden. Und man hätte auch nicht die Sorge zu haben brauchen, daß die Wahlen in Schleswig-Holstein so kurz nach der Debatte stattgefunden hätten.
Der Einwand gegen den 24. August war die Brüsseler Konferenz. Aber, meine Damen und Herren, sind Sie nicht auch der Meinung, daß der Schock auf der Brüsseler Konferenz bei der Nachricht von dem Übertritt Schmidt-Wittmacks in die Sowjetzone geringer gewesen wäre, wenn man vorher in der Sache John die Angelegenheit hier im Hause klar und offen erörtert hätte?
Ich glaube, auch der Bundeskanzler hätte sich dann dort in einer besseren Position befunden.
Es ist gewiß ein Rezept für die Bürokratie, daß unangenehme Sachen durch Ablagern viel von ihrem Explosivgehalt verlieren. In der Politik ist dieser Satz aber grundfalsch! Und wer es ehrlich meint mit der Demokratie, muß sagen: Gott sei Dank ist das grundfalsch! Das Parlament hat sich selbst und der Demokratie keinen Gefallen damit getan, daß diese Sitzung so lange hinausgeschoben wurde.
Sie haben auch den dann gemachten Vorschlag, in der vorigen Woche eine Sondersitzung abzuhalten, wieder fallen gelassen. Sie fürchteten offenbar ungünstige Auswirkungen bei der Wahl in Schleswig-Holstein, wenn die Debatte vorher stattfand. Nun, Sie haben trotzdem den Schaden zu tragen, und auch hier wäre Ihnen wahrscheinlich eine Debatte vorher besser bekommen.
Aber wenn die Mehrheit dieses Hauses oder wenigstens ein Drittel des Parlaments nicht wußte, was in diesem Augenblick zu tun war, hätte die Bundesregierung es wissen müssen. Sie, Herr Bundeskanzler, hätten eine Sitzung des Parlaments bald nach dem Verschwinden Johns fordern müssen, um hier im Hause und vor aller Öffentlichkeit eine Aussprache über diese Angelegenheit zu ermöglichen.
Aber wie sollte eine Regierung dazu kommen, die sich in den verflossenen Jahren nicht im geringsten bemüht hat, zwischen ihr und dem Parlament ein Verhältnis herzustellen, wie es in einem demokratischen Staat notwendig ist?
An eine Tatsache haben diejenigen, die eine Sondersitzung während der Ferien ablehnten, wohl überhaupt nicht gedacht: nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in der sowjetisch besetzten Zone hat die Flucht Johns große Bestürzung ausgelöst. Wie muß die Bevölkerung dort es auffassen, wenn das Parlament in der Bundesrepublik eine Aussprache so lange hinausschiebt?
Glauben Sie, daß Sie damit Vertrauen und Begeisterung für den Westen und die Demokratie erreichen?
Die Regierung hat das Parlament von Anfang an, d. h. von 1949 an, nicht so respektiert, wie es notwendig gewesen wäre.
Daran hat das Parlament selber erheblich schuld. In der Mehrheit des Hauses hat sich z. B. immer eine große Zahl von Abgeordneten gefunden, die dem Bundeskanzler noch Beifall gespendet haben, wenn er von dieser Tribüne aus seine beliebte Mißachtung des Hauses zum Ausdruck gebracht hat.