Rede von
Dr.
Carlo
Schmid
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, daß wir in dieser zweiten Legislaturperiode mit der Aufhebung der parlamentarischen Immunität freigebiger umgehen als in der ersten Legislaturperiode, und ich bin über diese Entwicklung nicht sehr glücklich. Was ist denn der Sinn der Schutzbestimmung des Art. 46 unseres Grundgesetzes? Nicht der Schutz des einzelnen Abgeordneten vor Strafverfolgung etwa, sondern dieses sogenannte Privileg ist ein Privileg des Parlaments. Der einzelne Abgeordnete kann also auf dieses Privileg nicht verzichten, mag er ein Interesse an der Klärung seines Falles haben, oder mag er das nicht haben. Es ist ausschließlich Sache des Parlaments, zu befinden, ob die Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten seinen Interessen zuwiderläuft oder nicht. Der Zweck der Bestimmung ist, das Parlament vollzählig zu erhalten; denn jeder einzelne Abgeordnete gehört dazu, wenn das Parlament wirklich als Parlament soll funktionieren können.
Die Frage ist: Was soll stärker sein, der Anspruch des Staates — oder der Gesellschaft oder der Volksgemeinschaft, wie man es lieber haben mag — auf unmittelbare Strafverfolgung oder das Mandat, das dem Parlament auf vier Jahre erteilt worden ist? Das haben wir in jedem einzelnen Fall hier zu entscheiden. Wir müssen abwägen, wo das größere Interesse liegt und wohin deswegen unsere Entscheidung gehen muß. Wir haben dabei weder Beweiswürdigung anzustellen noch haben wir uns primär zu fragen, ob es nicht etwa im Interesse des Abgeordneten selbst liegen könnte, sich in einem Verfahren reinigen zu können. Ich bin im Falle Odenthal völlig überzeugt, daß es unserem Kollegen gelingen würde, sich zu reinigen. Aber ich glaube nicht, daß dieses Kriterium für uns entscheidend sein kann. Wir müssen abwägen: Ist die Beschuldigung so, daß unverzüglich festgestellt werden muß, ob die Beschuldigung zutrifft oder nicht, wenn nicht die Autorität des Parlaments, die Autorität des Staates selbst oder die Majestät des Gesetzes Schaden leiden soll? Und dabei bin ich durchaus der Meinung, daß die Autorität des Staates es verlangen kann, daß auch unter Umständen die Immunität bei ganz geringfügigen Übertretungen oder Vergehen aufgehoben wird. Bei Verkehrsdelikten z. B. kann es bei der heutigen Situation geboten sein, gerade bei einem Abgeordneten die Strafverfolgung einzuleiten. Auf der anderen Seite kann es durchaus so sein, daß eine schwere Beschuldigung für sich allein noch nicht die Aufhebung der Immunität rechtfertigt.
Ich bin der Meinung, daß das im Fall Odenthal so ist. Die Kriterien für die Aufhebung der Immunität sind meinem Dafürhalten nach hier nicht erfüllt. Die Würde des Parlaments? Selbst, wenn unser Kollege etwa schuldig gesprochen werden sollte, würde er diesem Parlament doch weiter angehören. Und wenn er schon als Verurteilter die Autorität des Parlaments nicht mindern kann, dann doch erst recht nicht als ein nur Beschuldigter. Und was den Strafanspruch des Staates anbetrifft, so geht der ja nicht verloren; man kann ihn nach Ablauf der Legislaturperiode, wenn die Immunität entfällt, verwirklichen, und dem Gesetz wird dann auch Genüge getan werden können.
Dazu kommt, daß der Komplex, um den es sich in diesem Verfahren handelt, in engster Beziehung zu politischen Dingen steht. Es ist uns gesagt worden, daß behauptet wird, der Scheck sei gegeben worden, um der Sozialdemokratischen Partei bei den Wahlen finanziell zu helfen. Mag das sein oder nicht, jedenfalls ist durch diese Behauptung des Anzeigeerstatters ein politisches Element in den Fall hineingetragen worden. Damit kommt aber der Grundsatz zum Zuge, den wir zu Beginn der ersten Legislaturperiode entwickelt haben, der Grundsatz, daß die Aufhebung der Immunität besonders dann erschwert werden soll, wenn es sich bei der Anzeige oder bei der Beschuldigung um einen Komplex handelt, in dem politische Dinge mitspielen.
Ich selber hätte es dem Kollegen Odenthal durchaus gegönnt, daß er sich vor dem Gericht in Landau von der Beschuldigung reinigen kann. Ich bin überzeugt, daß ihm das auf den ersten Anhieb gelungen wäre. Aber so leid es mir persönlich um ihn tut: das ist kein Kriterium, das für uns ausschließlich maßgebend sein kann. Wir haben Anfängen zu wehren, und mir scheint es ganz besonders wichtig zu sein, daß wir uns dieser Maxime gerade jetzt erinnern.
Der Antrag auf Rücküberweisung an den Ausschuß ist vorhin abgelehnt worden. Ich glaube nicht, daß es geschäftsordnungsmäßig unmöglich ist, diesen Antrag zu wiederholen. Ich möchte es tun, und zwar möchte ich es tun, damit gerade die Frage des Zusammenhangs mit politischen Dingen noch einmal ausführlich geprüft werden kann. Falls aber
das Haus diesem Antrag nicht zustimmen sollte, stelle ich den anderen Antrag, dem Antrag des Ausschusses nicht stattzugeben.