Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt in diesem Hause wohl keine Meinungsverschiedenheit darüber, daß heute Verfassungsschutzämter notwendig sind. Es gibt wohl auch keine Meinungsverschiedenheiten darüber, daß die Grenzen für die Tätigkeit dieser
Verfassungsschutzämter nicht immer mit dem Lineal gezogen werden können. Das liegt zum Teil an der Einrichtung selber, zum Teil liegt es an den Umständen, mit denen sie fertig werden müssen. Darüber brauchen wir nicht zu reden. Ich glaube, daß jeder vernünftige Mann, der es mit diesem Staat, mit der Demokratie und mit der Freiheit ernst meint, dieser Meinung sein wird.
Worum es sich hier handelt, ist etwas anderes. Es geht darum, ob die Verfassungsschutzämter, die wir haben, so arbeiten, wie sie arbeiten sollen und arbeiten könnten, und zweitens, ob mit dem Ergebnis ihrer Arbeit richtig verfahren worden ist, also nicht nur, Herr Kollege Kiesinger, ob man dort richtig aus gewertet hat, sondern ob auch richtig ver wertet wurde, was dort ausgewertet worden ist, und ob vielleicht nicht mit der Verwertung begonnen worden ist, ehe man mit der Auswertung angefangen hat.
Das ist die Frage, und hierüber werden wir uns unterhalten müssen.
Herr Bundesminister des Innern, Sie sagten, das Parlament solle in seiner Kritik gegenüber diesen Ämtern Zurückhaltung üben, denn eine zu herbe Kritik könnte unverdientermaßen verdiente Männer treffen. Sicher werden wir hier nicht Kritik üben, nur um verdiente Männer zu treffen. Aber es ist nun einmal die Aufgabe des Parlamentariers, daß er, wenn er aus irgendwelchen Gründen glaubt, um das Gemeinwohl besorgt sein zu müssen, diese Sorge nicht für sich behält, sondern hier von diesem Platze aus spricht.
Dafür sind wir gewählt worden, und dafür sind wir hier! Das ist keine Nörgelei, sondern Pflichterfüllung. Wo wir glauben, daß es nötig ist, haben wir Kritik zu üben. Man kann uns ja dann hier in diesem Raume sagen und beweisen, daß unsere Kritik unberechtigt war. Man darf uns aber nicht sagen, daß Kritisieren unberechtigt sei.
Die Grundsätze, die der Herr Minister entwickelt hat, sind vortrefflich. Ich glaube, daß man bessere Grundsätze für die Tätigkeit von Verfassungsschutzämtern nicht finden kann.
Aber die Frage ist doch, ob diese Grundsätze auch wirklich angewandt worden sind. Herr Bundesminister, ich werfe Ihnen nicht vor, daß Sie uns etwas verschwiegen hätten. Ich bin überzeugt, daß Sie uns alles gesagt haben, was Sie wissen. Ich frage aber: wissen Sie wirklich alles, was der Eifer Ihrer Beamten leistet? Das ist es, worum es sich handelt! Sie sprachen vorher von Mißtrauen, das man nicht haben sollte. Nun, Mißtrauen gegen politische Polizei ist in alten Demokratien eine Tradition;
in Großbritannien vielleicht nicht, aber dort hat
das Vertrauen zur Polizei Gründe, die in einer
Tradition liegen, die wir leider Gottes nicht haben.
Ich meine, daß es für die Demokratie besser ist, wenn man in die Tätigkeit der politischen Polizei eher Mißtrauen als allzuviel Vertrauen setzt.
Ich sage das nicht, weil ich etwa glaubte, die Beamten dieser Polizei seien Sbirren oder schlechte Menschen, nur weil sie in dieser Polizei sind. Sie mögen die vortrefflichsten Menschen der Welt sein. Im Polizeiwesen als solchem liegt aber eine große Versuchung, nämlich die Versuchung des Übereifers und die Versuchung — der wir anderen Menschen gelegentlich auch unterliegen —, den Scharfsinn allzusehr zu strapazieren. Dieser Polizeischarfsinn ist etwas Gefährliches. Mancher von uns hat vielleicht am eigenen Leibe einiges davon zu spüren bekommen, was dieser Polizeischarfsinn alles an Verhängnisvollem zu leisten vermag.
— Ja, das ist schon sehr ernst gemeint, Herr Kollege Tillmanns. Verzeihen Sie, wenn ich Sie so anrede. Sie sitzen aber heute tief unten in den Niederungen der Parlamentsbänke und nicht auf den Höhen der Regierungsbank.
Ich meine also, Herr Bundesminister, daß Sie gut daran täten, sich über die Tätigkeit Ihrer Verfassungsschutzämter konkret und nicht nur vom Grundsätzlichen her zu orientieren.
Sie haben auch auf die Praxis der Landesverfassungsschutzämter hingewiesen. Ich kenne diese Praxis nicht im einzelnen. Es mag sein, daß dort manches nicht gut ist, es mag sogar sein, daß diese Praxis in einem sozialdemokratisch verwalteten Lande zu wünschen übrig läßt. Sollte es so sein, — nun, dann machen S i e es besser, Herr Bundesinnenminister!
Geben S i e ein Vorbild, an dem die Landesverfassungsschutzämter ihr Maß nehmen können! Vielleicht ist Vorbildsein auch eine Funktion der Bundesstellen in einer Bundesrepublik!
Ich halte es für eine ganz schlechte Sache, die Verfassungsschutzämter praktisch zum Richter darüber zu machen, ob ein Bewerber angestellt werden kann; das werden sie aber von dem Augenblick an, wo sie nicht verpflichtet sind, dem Betroffenen zu sagen, was sie gegen ihn festgestellt haben. Wir wissen doch, wie das ist! Wenn ein Verfassungsschutzamt sagt: Ich habe aus den und den Gründen Bedenken, wird das meistens sehr ernst genommen, und die Neigung der Behörde geht dann leider Gottes dahin, dem Verfassungsschutzamt nachzugeben, und sei es nur, um später keine „Geschichte" zu bekommen, und nur selten wird gefragt werden: Können wir das dem Betroffenen gegenüber, den das Verfassungsschutzamt mit einem Veto belegt, wirklich verantworten?
Herr Bundesinnenminister, ich bin auch nicht Ihrer Meinung, daß die Verwaltungsgerichte hier nichts zu bestellen hätten. Die Beteiligten können natürlich nicht gegen das Verfassungsschutzamt klagen, aber sie können eine Klage gegen die Verwaltungsbehörde bzw. das Land, dessen Verwaltungsbehörde gehandelt hat, einreichen. Wenn das geschieht, möchte ich hoffen, daß das angerufene Gericht bei der Beweiserhebung die Beamten des Verfassungsschutzamts als Zeugen zitieren und — meinetwegen in nicht öffentlicher Sitzung — vernehmen wird. Herr Bundesinnenminister, ich hoffe, daß Sie dann die Aussageerlaubnis erteilen werden.
In der „Vulkan"-Sache ist man mit der Auswertung offensichtlich nicht so verfahren, wie man es hätte tun müssen. Es wird gesagt — und da muß ich mich an Sie wenden, Herr Kollege Gille —, daß es doch niemandem etwas auszumachen brauche, wenn er in das Räderwerk der Strafverfolgung komme, er könne ja irgendwann einmal freigesprochen werden. Ist das wirklich Ihr Ernst?
Haben Sie nie erlebt, wie jemand allein dadurch, daß er in Untersuchungshaft genommen worden ist, bei seinen Mitbürgern diffamiert worden ist?
Haben Sie nie erlebt, wie so jemand ruiniert worden ist?
Wir werden vielleicht des näheren von einem solchen Schicksal hören, wenn in der „Vulkan"-Sache der Prozeß van Hazebrouk durchgeführt werden wird.
— Da sei keine rechtsstaatliche Lücke?!
— Ach, aber hier ist doch nicht richtig verfahren worden,
und das geht doch auf die Verantwortung des Ministers, und dieser Minister hat uns in diesem Parlament auch für diese Sache Rechenschaft abzulegen!
Das beste wäre, wenn man in diesen Bereichen, an deren Rändern immer Zwielicht herrschen wird, so weit wie möglich eine — vielleicht beschränkte — Parlamentsöffentlichkeit schüfe. Dann könnte man vielleicht einmal volles Vertrauen zu unseren Verfassungsschutzämtern fassen. Wir haben einen Ausschuß zum Schutze der Verfassung. Das ist gut so. Aber dieser Ausschuß erfährt nicht genug. Wir müßten entweder diesem oder einem kleineren Ausschuß das Recht geben, von Ihnen, Herr Bundesinnenminister, laufend zu erfahren, was Ihnen Ihre Verfassungsschutzämter an Auswertungen vorgelegt haben und an wen Sie diese weitergegeben haben. Wenn wir das schaffen, wird sehr vieles in der Atmosphäre um die Verfassungsschutzämter entgiftet worden sein. Dann werden Debatten wie diese vielleicht — und hoffentlich — nicht mehr notwendig werden.
Es ist hier von dem Fall Hertslet gesprochen worden. Ich habe die Tätigkeit dieses Herrn zur Zeit des Israel-Vertrags von außen kennengelernt. Um es gleich zu sagen: diese Tätigkeit war mir schlechthin unsympathisch. Aber ist denn der Mann damit, daß er die Politik der Regierung störte — und er hat sie bedauerlicherweise gestört —, schon ein Staatsfeind? Er ist es damit allein nicht, und darum hatte sich das Verfassungsschutzamt nicht um ihn zu kümmern. Damit kommen wir zu der entscheidenden Frage. Ich habe Ihnen den Zuruf gemacht: Das Anlegen einer Namenskarte in der Verdächtigen-Kartei ist für sich allein unter Umständen ein unzumutbarer Eingriff. Kann sich denn das Verfassungsschutzamt schlechthin mit jedermann beschäftigen? Ich glaube, daß es das nicht kann.
Es kann, es darf sich nicht mit Leuten beschäftigen, von denen jeder weiß: das sind unzweifelhaft demokratische Persönlichkeiten, Persönlichkeiten, die auch dann, wenn ihnen die Politik der Regierung nicht gefällt, doch bereit sind, unter Umständen mit Leib und Leben für die demokratische Grundordnung einzustehen. Mit solchen Leuten hat sich das Verfassungsschutzamt überhaupt nicht zu befassen.
Und wenn in irgendeiner Agentenmeldung der Name eines solchen Mannes auftaucht, dann ist es die Pflicht des Präsidenten dieses Amtes oder des Ministers, dem er untersteht, dem Betroffenen zu sagen: „Hören Sie, da ist das und das über Sie behauptet worden; ich sage es Ihnen, damit Sie es wissen". Er soll gar nicht sagen: „Ich sage es Ihnen, damit Sie sich rechtfertigen können." Damit sind wir beim entscheidenden Punkt. Über diese Frage — damit greife ich Ihre Anregung auf, Herr Kiesinger — sollten wir im Ausschuß sehr eingehend sprechen; denn das scheint mir die Kardinalfrage schlechthin zu sein.
Gegen eines möchte ich mich aber mit einigen meiner Vorredner mit aller Entschiedenheit wehren, nämlich gegen das Wort: Schließlich ist es besser, es wird einer zuviel als einer zuwenig verhaftet. So hat man im „Dritten Reich" gedacht.
Damit hat man angefangen, und man hat geglaubt, damit bleibe man noch im Rahmen einer vernünftigen Staatsräson. Aber mit diesem Anfang hat man den ersten Schritt auf dem Weg zum Totalitarismus getan.
— Doch, es ist vom Herrn Kollegen Gille gesagt worden und kann darum nicht unwidersprochen bleiben. Rechtsstaatliches Denken ist genau anders — nicht aus Fahrlässigkeit oder aus Gemütlichkeit oder aus irgendeiner Art von Wolkenkuckucksillusionismus —, rechtsstaatliches Denken ist genau anders! Wer so denken will, sagt: Es mag sein, daß einer durch die Lappen geht, aber das ist kein Grund, einen Unschuldigen seiner Freiheit zu berauben,
es sei denn, er sei dringend verdächtig. Aber um einen dringenden Verdacht feststellen zu können, muß mehr vorliegen als eine Agentenmeldung, in der womöglich nur steht: Herr X soll gesagt haben, Herr Y soll getan haben! Wir wissen doch — Herr von Merkatz hat davon gesprochen —, was für eine Agentenseuche in unserem Lande grassiert. Wir wissen doch, daß es nicht nur fahrlässig aufgebrachte Falschmeldungen gibt, sondern daß es regelrechte Nachrichtenfabrikanten gibt. Es gibt ganze Nachrichtenfabriken, und es soll schon mancher einer solchen fabrizierten falschen „Nachricht" aufgesessen sein.
Nun, meine Damen und Herren, möchte ich noch eines sagen, und damit möchte ich schließen. Natürlich sind unsere Verfassungsschutzämter keine Gestapostellen. Sie sind es nicht, weil sie es nicht sein können, weil sie bestimmte Kompetenzen nicht haben, und sie sind es nicht, weil sie es nicht sein
wollen. Ich möchte das hier ausdrücklich sagen. Aber im Übereifer und vielleicht auch im Dilettantismus kann manches geschehen, was einen unschuldigen Menschen so sehr versehren kann wie die Einschließung hinter Stacheldraht. Man kann einen Menschen auch mit anderen Mitteln fertigmachen als mit Konzentrationslager, z. B. damit, daß man ihn hinter dem Stacheldraht des Verdachts verschwinden läßt!