Rede von
Dr.
Fritz
Neumayer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Entwurf des Rechtspflegergesetzes hat dem ersten Anschein nach nur Bedeutung für die innere Organisation in der Justiz. Seine Auswirkungen berühren jedoch darüber hinaus jeden Staatsbürger. Sollte der Entwurf Gesetz werden, so geht eine große Anzahl von Geschäften in der freiwilligen Gerichtsbarkeit durch gesetzliche Bestimmungen vom Richter auf den Rechtspfleger über. Der Richter wird bei diesen Geschäften erst tätig werden, wenn ein Rechtsbehelf eingelegt wird oder wenn ihm der Rechtspfleger eine Sache wegen besonderer Schwierigkeit oder Bedeutung vorlegt.
Vor allem aber ist der Entwurf zugleich eine Zusammenfassung und der Abschluß der Arbeiten an der sogenannten Kleinen Justizreform. Diese Kleine Justizreform hat eine lange Vorgeschichte. Schon am 30. März 1906 forderte der Frankfurter Oberbürgermeister Adickes in einer berühmt gewordenen Rede im preußischen Herrenhaus die Freistellung des Richters von allen Aufgaben, die nicht der reinen Spruchtätigkeit zuzurechnen sind. Gesetzgeberischen Niederschlag fanden diese Gedanken zum erstenmal in der Zivilprozeßnovelle von 1909, die dem damals so genannten Gerichtsschreiber zwei richterliche Geschäfte zur selbständigen Erledigung übertrug. Der Gerichtsschreiber erhielt nämlich die Befugnis, die Kosten festzusetzen und den Vollstreckungsbefehl zu erteilen, d. h. Zahlungsbefehle für vollstreckbar zu erklären.
Nach dem ersten Weltkrieg bekamen die Entlastungsbestrebungen einen entscheidenden Auftrieb. Das Ansteigen der Geschäfte bei den Gerichten und die Personallage bei der Justiz führten dazu, daß der einmal eingeschlagene Weg, richterliche Geschäfte auf Urkundsbeamte zu übertragen, weiter verfolgt wurde. Das am 11. März 1921 verkündete Reichsgesetz zur Entlastung der Gerichte ist die Grundlage aller auch heute noch geltenden Entlastungsmaßnahmen. Der Reichsgesetzgeber beschränkte 'sich 'in ihm darauf, den Kreis der Geschäfte zu bezeichnen, die auf den Urkundsbeamten übertragen werden sollten. Die Durchführung der Übertragung, ihre Anordnung hinsichtlich der einzelnen Geschäfte überließ man jedoch den Landesjustizverwaltungen. Auf diese Weise ergingen in sämtlichen damaligen Ländern Entlastungsverfügungen, die im einzelnen die nunmehr von dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle — in der Folgezeit als Rechtspfleger bezeichnet — wahrzunehmenden Geschäfte aufführen.
Durch die Reichsentlastungsverfügung von 1943 waren die Verfügungen der Landesjustizverwaltungen auf Grund des Entlastungsgesetzes von 1921 für das gesamte Reichsgebiet im Verwaltungswege vereinheitlicht worden. Zu einer abschließenden gesetzlichen Regelung, in der die Stellung des
Rechtspflegers und sein Aufgabengebiet endgültig festgelegt worden wären, kam es jedoch bis heute noch nicht. Es ist unbestritten, daß der mit der Entlastungsgesetzgebung eingeschlagene Weg erfolgreich gewesen ist. Von keiner Seite wird bezweifelt, daß sich der Rechtspfleger in seinem bisherigen Aufgabenkreis voll bewährt hat. Das berechtigt nunmehr dazu und gibt Veranlassung, die Stellung des Rechtspflegers in der Justiz gesetzlich zu verankern.
Den ordentlichen Gerichten sind seit 1945 eine große Anzahl neuer Aufgaben zugefallen; ich brauche nur auf die Rechtsprechung über Wiedergutmachungs- und Entschädigungssachen sowie die Behandlung der Baulandsachen hinzuweisen. Auch in den alten Arbeitsgebieten ist, bedingt durch die Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse, die Geschäftsbelastung in einem außerordentlichen Umfange angestiegen. Ich weiß nicht, ob ich Sie mit einigen Zahlen langweilen soll; aber ich glaube, es ist doch richtig, wenn ich bei der Einbringung dieses Gesetzes auf dieses Zahlenmaterial zurückgreife. So betrug z. B. die Zahl der Zivilprozesse vor den Amtsgerichten in Nordrhein-Westfalen im Jahre 1948 rund 136 000, 1952 dagegen rund 345 000; in Niedersachsen 1948 rund 6 500, 1952 127 000 und 1953 115 000; in Hessen 1948 33 000, 1952 80 000, 1953 '79 000; und schließlich in Rheinland-Pfalz 1949 36 000, 1952 und 1953 dagegen je rund 50 000. Vielleicht — und es hat den Anschein — ist damit auf dem Gebiete des Zivilprozesses die Geschäftsbelastung ihrem Höhepunkt zugeführt worden; eine Vermehrung der anfallenden Streitsachen ist im letzten Jahre im allgemeinen nicht mehr eingetreten. Trotzdem aber steigen die Geschäfte in Zwangsvollstreckungssachen und auf dem Gebiete der freiwilligen Gerichtsbarkeit noch ständig weiter an. So gab es 1948 in Nordrhein-Westfalen 49 500 Zwangsvollstreckungssachen außer den Zwangsversteigerungen, Konkurs- und Vergleichsverfahren; 1952 waren es bereits 495 000, also eine Steigerung auf das Zehnfache. In Niedersachsen fielen 1948 17 000 Zwangsvollstreckungssachen an, dagegen 1952 172 000 — hier ist also die gleiche Bewegung festzustellen — und 1953 181 000. Für Rheinland-Pfalz lauten diese Zahlen ähnlich: 1949 rund 17 000, 1953 über 83 000. In Grundbuchsachen stieg die Zahl der Geschäfte in Niedersachsen von 258 000 im Jahre 1949 auf rund 513 000 im Jahre 1953, in Hessen von 147 000 im Jahre 1948 auf 443 000 im Jahre 1953, in Rheinland-Pfalz von 238 000 im Jahre 1949 auf 436 000 im Jahre 1953 und in Nordrhein-Westfalen von 349 000 im Jahre 1948 auf 1 048 000 im Jahre 1952. Diese Übersicht läßt sich auf dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit noch beliebig fortsetzen. Die Lage 'ist in allen Bundesländern die gleiche.
Die Folge des so gewaltigen Ansteigens der Geschäfte drückt sich in einer Überlastung der Gerichte und insbesondere der Richter aus. Wenn auch nunmehr beschränkte Möglichkeiten bestehen, neue Richterstellen zu schaffen und dadurch Abhilfe zu bringen, so muß aber vor allen Dingen darauf hingewiesen werden, daß die Zahl der Richterstellen aus anderen Gründen nicht unbegrenzt 'erhöht werden darf; denn wenn wir dem Richter eine angemessene Stellung im Staats- und Volksleben sichern und den Auftrag des Grundgesetzes, den Richterstand herauszuheben, erfüllen wollen, dann dürfen wir natürlich nicht auch gleichzeitig eine unangemessene Anzahl von Richterstellen schaffen.
Der Entwurf des Gesetzes über Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und des Verfahrensrechts, also das sogenannte Rechtspflegergesetz, das ich Ihnen heute vorzulegen die Ehre habe, hat damit zwei bedeutsame Aufgaben. Erstens soll eine möglichst große Zahl von Geschäften vom Richter auf den Rechtspfleger übertragen werden. Die Übertragung dieser Aufgaben soll nicht mehr im Wege der Verfügung der Landesjustizverwaltungen — das ist ein sehr wesentlicher Punkt —, sondern, nicht zuletzt aus rechtsstaatlichen Überlegungen, im Wege der gesetzlichen Regelung vorgenommen werden. Sie dient der Entlastung des Richters und soll angesichts der auch heute noch ständig steigenden Geschäftsbelastung der Gerichte mindestens einer weiteren Vermehrung der Zahl der Richter entgegenwirken. Zweitens soll dem Rechtspfleger eine feste Stellung in der Gerichtsverfassung gegeben werden. Ich habe mir erlaubt, darauf hinzuweisen, daß diese gesetzlich festgelegte Stellung bisher nicht vorhanden gewesen ist.
Bei der Übertragung von Geschäften auf den Rechtspfleger sind zunächst die Grenzen zu beachten, die Art. 92 des Grundgesetzes setzt. Danach ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut. Alle Akte der Rechtsprechung müssen dem Richter vorbehalten bleiben. Es müssen aber auch alle die Geschäfte beim Richter verbleiben, die entweder materiell, wenn auch nicht der Form nach, einer Streitentscheidung gleichstehen oder die wegen ihrer rechtlichen oder wirtschaftlichen Bedeutung und Schwierigkeit die Entscheidung durch den Richter mit seinen vorausgesetzten großen Kenntnissen erfordern.
Diese Grenzen für die Übertragung von Geschäften auf den Rechtspfleger haben ihre unmittelbare Auswirkung auf den Entwurf gehabt. Da die Tätigkeit des Richters im Zivilprozeß, in Konkurs-, Vergleichs- und Zwangsversteigerungssachen fast nur rechtsprechende Tätigkeit ist, können hier dem Rechtspfleger nur einzelne, im Entwurf genau aufgezählte Geschäfte übertragen werden. Dagegen ist es im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit möglich, ganze Gruppen von Geschäften — z. B. auf dem Gebiete des Vormundschaftswesens und des Grundbuchwesens — dem Rechtspfleger zu übertragen und im Gesetz lediglich durch Vorbehaltskataloge die Geschäfte zu bezeichnen, die weiterhin vom Richter bearbeitet werden müssen.
Für die Stellung des Rechtspflegers sind zunächst die Vorschriften des Entwurfs über die Ausbildung zum Rechtspfleger bedeutsam. Danach kann mit den Aufgaben eines Rechtspflegers nur ein Beamter betraut werden, der die Prüfung für den gehobenen Justizdienst bestanden hat. Voraussetzung für die Zulassung zu dieser Prüfung ist ein dreijähriger Vorbereitungsdienst, wobei mindestens 8 Monate auf einen fachwissenschaftlichen Lehrgang an einer Rechtspflegerschule entfallen müssen. Aber mit dem Bestehen der Prüfung entsteht noch kein Anspruch auf Beschäftigung als Rechtspfleger. Die Länder werden bei der Betrauung eines Beamten mit den Aufgaben eines Rechtspflegers eine Auswahl zu treffen haben. Eine solche Auslese wird vom Gesetzentwurf vorausgesetzt. Der Entwurf sieht vor, daß die Landesjustizverwaltungen hierfür ergänzende Vorschriften treffen, insbesondere auch den Ausbildungsgang des Rechtspflegeranwärters im einzelnen festlegen können.
Der Rechtspfleger entscheidet bei der Bearbeitung der ihm übertragenen Geschäfte selbständig. Er ist bei der Entscheidung nur dem Gesetz unterworfen. Der Entwurf spricht hier aus, was von Rechtsprechung und Wissenschaft bisher schon allgemein angenommen wurde. Aber er will auch hier zum erstenmal eine ausdrückliche Festlegung, eine gesetzliche Verankerung der sachlichen Entscheidungsfreiheit des Rechtspflegers erreichen.
Der Rechtspfleger ist damit sachlich unabhängig. Hieran ändert auch nichts, daß er in bestimmten Fällen eine Sache dem Richter zur Entscheidung vorzulegen hat. Diese Vorlagepflicht besteht insbesondere, wenn der Rechtspfleger von einer ihm bekannten Stellungnahme des Richters abweichen will. Damit wird die Einheit der Rechtsauffassung und der Rechtsanwendung in dem einzelnen Gerichtsbezirk soweit wie möglich sichergestellt. Dem gleichen Zweck dient es, wenn als Rechtsbehelf gegen die Entscheidung des Rechtspflegers stets die Erinnerung an den Richter gegeben ist. Der Rechtsbehelf der Erinnerung führt daneben auch dazu, daß dem Staatsbürger aus der Neuverteilung der Geschäfte zwischen Richter und Rechtspfleger keine zusätzlichen Lasten erwachsen, insbesondere daß der Richter für ihn jederzeit erreichbar und damit volksnah bleibt.
Gegen den Gesetzentwurf sind in der bisherigen Erörterung verschiedene Einwendungen erhoben worden, insbesondere, er erziele gegenüber dem bisherigen Zustand nach der Reichsentlastungsverfügung praktisch nur noch einen geringen Entlastungseffekt. Der Bundesrat hat in seinen Änderungsvorschlägen angeregt, über den Entwurf hinaus weitere Geschäfte, vor allem auf dem Gebiete des Vormundschafts- und Grundbuchwesens, auf den Rechtspfleger zu übertragen. Andererseits werden die in dem Entwurf vorgesehenen Maßnahmen als zu weitgehend angegriffen. Die Stellungnahmen der beteiligten Kreise und insbesondere die Vorschläge des Bundesrates sind von der Bundesregierung sorgfältig geprüft worden. Mit Rücksicht auf die Grenzen, die der Übertragung von Geschäften auf den Rechtspfleger durch das Grundgesetz und dadurch gesetzt sind, daß rechtlich und wirtschaftlich bedeutsame Entscheidungen dem Richter vorbehalten bleiben müssen, hält die Bundesregierung eine Übertragung weiterer Geschäfte auf den Rechtspfleger zum Teil nicht für zulässig, zum Teil aber auch nicht für zweckmäßig. Nicht richtig ist es, wenn behauptet wird, daß kaum noch ein Entlastungseffekt eintreten würde. Auch in der vorliegenden Form wird der Entwurf den Aufgabenbereich des Rechtspflegers sehr wesentlich erweitern. Ein großer Teil der dem Richter nach der Entlastungsverfügung noch vorbehaltenen Geschäfte soll auf den Rechtspfleger übergehen, so z. B. im wesentlichen die Führung des Handelsregisters B, die meisten vormundschaftsgerichtlichen Genehmigungen, fast alle Geschäfte in Grundbuchsachen und das gesamte Mahnverfahren sowie das Aufgebotsverfahren mit Ausnahme des Aufgebotstermins und des etwa anschließenden Anfechtungsverfahrens.
Der Entwurf des Rechtspflegergesetzes beruht in erheblichem Umfange auf Vorschlägen eines Ausschusses, den die Landesjustizverwaltungen im Sommer 1951 zur Vorbereitung der Kleinen Justizreform eingesetzt haben. Wir haben Veranlassung, der Arbeit dieser Kommission besonders zu gedenken. Im November 1952 wurde der Entwurf schon
einmal im Bundestag in erster Lesung beraten. Es war dem 1. Bundestag nicht möglich, den damaligen Entwurf noch zu verabschieden. Nach dem Zusammentritt des jetzigen Hohen Hauses war eine nochmalige Behandlung im Bundesrat erforderlich, so daß erst heute wieder eine erste Lesung stattfinden kann. Sie werden es verstehen, wenn ich bei dieser Sachlage das Hohe Haus besonders darum bitte, den Entwurf in den kommenden Erörterungen als dringlich behandeln zu wollen.