Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es erweist sich als notwendig, einige Worte der Begründung zum Änderungsantrag meiner Fraktion zu § 8 zu sagen, weil wir diesen Antrag unbeschadet des interfraktionellen Antrags Umdruck 127 aufrechterhalten. Der Paragraph ist überschrieben „Taten während des Zusammenbruchs". Wie lautet die Bestimmung?
Für Straftaten, die unter dem Einfluß der außergewöhnlichen Verhältnisse des Zusammenbruchs in der Zeit zwischen dem 1. Oktober 1944 und dem 31. Juli 1945 in der Annahme einer Amts-, Dienst- oder Rechtspflicht, insbesondere auf Grund eines Befehls, begangen worden sind, wird über die §§ 2, 3 hinaus Straffreiheit gewährt, wenn nicht dem Täter nach seiner Stellung oder Einsichtsfähigkeit zuzumuten war, die Straftat zu unterlassen und keine schwerere Strafe als Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren und Geldstrafe, allein oder nebeneinander, beim Inkrafttreten dieses Gesetzes rechtskräftig verhängt oder zu erwarten ist.
Im Zusammenhang mit dieser Formulierung muß aber auch darauf hingewiesen werden, daß der § 10 der Vorlage von den Straftatbeständen, die die Straffreiheit ausschließen, den Totschlag ausdrücklich ausnimmt. Das bedeutet, daß der Tatbestand des Totschlags für die Fälle des § 8 ebenfalls in die Amnestie einbezogen werden kann. Nun sind auch wir Sozialdemokraten uns darüber klar, daß man bei der Problematik, die allgemein mit dem Begriff Befehlsnotstand verbunden ist, ein äußerst diffiziles Gebiet betritt. Auch der Verhärtetste unter uns weiß, daß diese Taten nicht etwa nach dem alttestamentarischen Grundsatz „Auge um Auge,
*) Siehe Anlage 9. **) Siehe Anlage 3.
Zahn um Zahn" nachträglich voll gesühnt werden könnten. Auch wir haben deutlich zu erkennen gegeben, daß wir für den Fall des Erlasses einer allgemeinen Amnestie diesen Rechtskomplex als solchen nicht ausgeschlossen sehen wollen. Wir vertreten dabei allerdings die Meinung, daß ein Strafmaß von drei Jahren, wie es in diesem Vorschlag vorgesehen ist, bei allem guten Willen zum Verständnis und zur Milde zu weitgehend ist.
Wie verhalten sich nun die Dinge im einzelnen? Unter den mannigfachen Argumenten, die im Ausschuß für eine möglichst weitgehende Amnestie auf diesem Gebiet vorgetragen worden sind, ist auch der Grund angeführt worden, der Richter gerate zusehends in den Bereich der Willkür, wenn er über die Tatbestände urteilen solle, die wegen der Länge der seitdem verstrichenen Zeit in der damaligen Atmosphäre kaum genügend rekonstruiert, geschweige denn hinreichend gewürdigt werden könnten. Insofern sei eine einwandfreie Rechtsfindung kaum gewährleistet, und eine besonders ausgedehnte Amnestie sei daher empfehlenswert.
Demgegenüber muß doch wohl festgestellt werden, daß bei jedem weiter zurückliegenden Tatbestand, vor allen Dingen dann, wenn er sich etwa dem Ablauf der Verjährungsfrist nähert, sowohl objektiv wie subjektiv rekonstruiert, gewürdigt und ein Urteil gefällt werden muß, auch dann, wenn die Umstände zwischen der Begehung der Tat und der Aburteilung sich inzwischen erheblich gewandelt haben sollten.
Dann ist argumentiert worden, die Fällung neuer Urteile und die Vollstreckung bereits auf diesem Gebiet verhängter Strafen bedeuteten eine schlechte Hilfestellung oder vielleicht sogar das Gegenteil einer Hilfestellung im Hinblick auf die gegen Deutsche im Ausland noch zu verhandelnden sogenannten Kriegsverbrecherprozesse. Dem muß wohl entgegengehalten werden, daß einmal die Prozesse im wesentlichen abgeschlossen sein dürften, die Zahl der noch zu erwartenden kaum nennenswert sein dürfte. Zum andern, glaube ich, dürfen wir letzten Endes die Wirkungen im Ausland nicht unterschätzen, die durch eine so weitgehende Amnestierung der auf diesem Gebiet zu verzeichnenden Straftaten entstehen müssen. Gerade dafür hat man, vielleicht leider, auch noch heute nicht nur bei unseren direkten Nachbarn, sondern auch im übrigen Europa und vor allen Dingen in Übersee ein ziemlich feines Gehör.
Nun scheint es mir notwendig, einige Beispiele aus der Praxis der Rechtsprechung herauszugreifen. Bei diesen Fällen kommt es mir darauf an, möglichst verschiedenartige Tatbestände zu erfassen. Ich versuche, Sie zu überzeugen, daß im Hinblick auf die Urteile gleichwohl eine gewisse Linie beobachtet werden kann. Ein erster Fall: Der SS-General Gutenberger läßt im März 1945 den Aachener Oberbürgermeister Oppenhoff erschießen. Ergebnis der Verhandlung vor dem Aachener Schwurgericht im Dezember 1953: 2 1/2 Jahre Gefängnis. Der Fall fiele unter die Amnestie, wenn die Strafe nicht schon verbüßt wäre.
Eine zweite Gruppe, die mir typisch zu sein scheint, betrifft die Fälle der sogenannten „Lynchjustiz". SS-Sturmbannführer Seidel erschießt im Eifelgebiet im Dezember 1944 einen nach Abschuß mit Fallschirm abgesprungenen US-Piloten. Urteil des Aachener Gerichts Dezember 1953: 1 Jahr Ge-
fängnis. Ich erwähne den Fall extra deshalb, um zu zeigen, daß er auch nach dem sozialdemokratischen Änderungsvorschlag noch unter die Amnestie fallen würde.
Ein dritter Fall, der in der breiteren Öffentlichkeit bekanntgeworden ist, ist der des Standgerichts Helm. Dabei handelt es sich um jene Kolonne der Schande, die ihren Tätigkeitsbereich in meinem Heimatgebiet Unterfranken gehabt hat und sich mit ihren Urteilen bis in den Sudetengau erstreckt hat. Die Bilanz dieser Kolonne zählt 30 vollstreckte Todesurteile, wobei eine Kopfprämie von 50 RM oder einer Flasche Schnaps festgesetzt war.
Das Urteil für den maßgeblichen Beteiligten Engelbert Michalski: 3 Jahre Gefängnis.
Ich habe keinen Zweifel darüber, daß dieser Herr, wenn die Vorlage angenommen würde, unter die Amnestie fallen würde.
Ich erwähne einen vierten und fünften Fall als Beispiele für die Neigung zur Milde bei Urteilen, soweit es sich um Vorgänge aus dem rein militärischen Bereich handelt. Der Kommodore Petersen läßt drei nach der Kapitulation fahnenflüchtige Matrosen erschießen. Freispruch durch Urteil vom Februar 1953! 20 Angehörige des Polizeibataillons 62 haben nachweislich im Sommer 1942 in Warschau 110 Juden erschossen. Freispruch durch Urteil in Dortmund im April 1954!
Nun möchte ich noch vier Fälle erwähnen, bei denen man allein schon nach den Umständen der Tat und auch nach dem Zeitpunkt der Begehung schwerlich von einem Befehlsnotstand sprechen kann, die aber für die verhältnismäßige Milde bezeichnend sind. Herr Berthold Ohm läßt in der sogenannten Penzberger Mordnacht am 28. April 1945 7 Bürger erschießen. Urteil des Schwurgerichts Augsburg im Januar 1954: 4 1/2 Jahre Gefängnis, verbüßt durch Untersuchungshaft.
Das neueste Urteil auf diesem Gebiet ist ein Urteil von Anfang Mai 1954. Ein Kompanieführer und sein Hauptfeldwebel bewirken zu einer Zeit, die noch keineswegs durch Auflösungserscheinungen gekennzeichnet war, nämlich im Jahre 1942, im Raum von Smolensk die Erschießung von 60 jüdischen Greisen, Frauen und Kindern, von denen ausdrücklich festgestellt wird, daß keinerlei Verdacht des Paktierens mit Partisanen bestanden hat. Neuestes Urteil des Schwurgerichts Darmstadt Anfang Mai 1954: Drei und vier Jahre Gefängnis.
Ein weiterer besonders krasser Fall: SS-Hauptsturmführer Seebach liquidiert im Juni 1945 im Lager Eberfing den SS-Oberscharführer Eulitz. Urteil München Februar 1953: Vier Jahre Gefängnis.
Als letztes möchte ich einen bezeichnenden Fall herausgreifen, der eine gewisse Aktualität dadurch hat, daß sich seiner eine illustrierte Zeitung angenommen hat. Es handelt sich um die Begebenheit bei der historischen Brücke von Remagen, die ja gar nicht weit von hier entfernt ist. Bei Betrachtung dieses Tatbestandes ergibt sich, wenn man alles Beiwerk der geschickten Reportage abstreicht, daß immerhin vier absolut unschuldige deutsche Offiziere erschossen worden sind. Verurteilt wurde lediglich der Chefrichter, nämlich der Herr Generalleutnant
Huebner, wahrscheinlich deshalb, weil er als oberster NS-Führungsoffizier und Standrichter von vornherein entsprechend qualifiziert war. Die beiden Richterkollegen Penth und Ernsberger sind vollkommen straffrei ausgegangen, und die Staatsanwaltschaft Koblenz hat das Verfahren eingestellt.
Gerade die zuletzt erwähnten vier Fälle tun nach meiner Ansicht wohl zur Genüge dar, daß es in der Regel nur dann zu einer Verurteilung kommt, wenn die Straftat so gravierend erscheint, daß man es vor der inländischen und ausländischen Öffentlichkeit nicht gut verantworten kann, den Täter ohne jede Sühne davonkommen zu lassen. Weiter scheint mir aus den Urteilen hervorzugehen, daß in so weitgehendem Maß mildernde Umstände in Ansatz gebracht werden, daß wirklich langjährige Haftstrafen als eine Seltenheit bezeichnet werden müssen.
Im übrigen wissen wir ja, daß man in den meisten Fällen Sachverständige zu Wort kommen läßt — wie z. B. im Falle Ohm/Penzberger Mordnacht und auch in der Remagener Brückenaffäre den Herrn Generalfeldmarschall a. D. Kesselring —,
die bestimmt ihr Urteil nicht zuungunsten, sondern eher zugunsten der Delinquenten abgeben.
Nun wird gern auf die Amnestiebremse des § 10 Abs. 2 verwiesen. Die Bestimmung besagt, daß von der Straffreiheit Straftaten ausgeschlossen sind, bei denen die Art der Ausführung oder die Beweggründe eine gemeine Gesinnung des Täters erkennen lassen. Bei dieser Auslegungsfrage liegt alles in der Praxis der Gerichte begründet, und hier müssen wir nun einmal befürchten, daß bei der Neigung zur Milde, wie ich sie aufzuzeigen versucht habe, im Gebiet des sogenannten Befehlsnotstandes die Qualifikation „gemeine Gesinnung" wohl so gut wie nie getroffen werden wird; d. h. die Amnestiewürdigkeit wird wohl überwiegend bejaht werden.
Aus den gleichen Gründen befürchten wir, daß die zweite gut gemeinte Bremse sich nicht entsprechend auswirken wird, nämlich die gegenüber dem ursprünglichen, dem Regierungsentwurf veränderte Fassung, daß Straffreiheit bei Annahme einer Amts-, Dienst- oder Rechtspflicht, insbesondere auf Grund eines Befehls, nur insoweit gewährt werden soll, als nicht dem Täter nach seiner Stellung oder Einsichtsfähigkeit zuzumuten war, die Straftat zu unterlassen. Wir glauben nach der Rechtsprechung der Gerichte auch hier nicht, daß diese Bestimmung dazu angetan ist, die Amnestiefreudigkeit im richtigen Sinne einzudämmen.
Wir vermögen nur einen Weg zu sehen, auf dem die Amnestie im Gebiet der Befehlsnotstände auf die wirklich vertretbaren Fälle, die tatsächlich einer Bereinigung bedürfen, beschränkt werden könnte: die Methode der Beschränkung auf das Strafmaß, d. h. auf Delikte des Befehlsnotstands bis zur Höhe von einem Jahr Gefängnis. Wir können beweisen, daß die Verurteilungen, soweit sie auf diesem Sektor erfolgt sind, nur in wirklich schwerwiegenden Fällen die Grenze eines Jahres Gefängnis überschreiten. Die gleiche Vermutung kann man erst recht für die Urteile, die etwa noch in Zukunft gefällt werden sollten, gelten lassen.
Bei allem Willen zur Milde und dem auch bei uns vorhandenen Wunsch, allmählich hinter diese
traurigen Vorgänge einer unheimlichen Ära der Auflösung einen Schlußstrich zu ziehen, scheint es uns doch geboten, gewisse absolute Maßstäbe im Rechtsdenken unangetastet zu lassen. Die leider allenthalben in so erheblichem Umfang abhanden gekommene Achtung vor dem Menschenleben wird durch eine so weitgehende Amnestierung wie im vorgelegten § 8 nicht gehoben.
Dies bedeutet nach unserer Meinung gerade bei der heranwachsenden Generation alles weniger als eine Festigung und Stärkung des Rechtsgefühls.
Wir fürchten, daß eine so weitgehende Fassung wie im vorgeschlagenen § 8 das mühsam gewonnene Fundament unserer Demokratie als Rechtsstaat eher unterhöhlt als festigt, und vermögen dieser Bestimmung daher nicht zuzustimmen. Aus diesen übergeordneten Gesichtspunkten glauben wir, eine Amnestierung von Straftaten auf diesem Sektor über ein Jahr Gefängnis hinaus nicht verantworten zu können, und haben Ihnen daher unseren Änderungsantrag vorgelegt. Wir bitten um Ihr Verständnis und um Ihre Zustimmung.