Herr Präsident! Meine Herren und Damen! An den Vorgefechten der Debatte, die wir heute erleben, ist meine Fraktion bisher nicht beteiligt gewesen. Aber ich möchte deshalb um so stärker betonen, daß wir an der Problematik der heute aufgeworfenen Fragen schon immer sehr stark interessiert gewesen sind, weil es sich letzten Endes um ein Anliegen handelt, das zwar in erster Linie diejenigen betrifft, die auf die Verbesserung ihrer mißlichen Lebenslage hoffen, aber nicht nur diese; vielmehr geht es auch alle diejenigen an, die seit 1945 in eine bessere Lebenslage versetzt sind, und sie sollten ein ebenso lebendiges Interesse an diesem Thema haben.
Herr Bundesarbeitsminister, Sie wissen, daß ich in verschiedenen Gesprächen mit Ihnen sehr häufig darauf hingewiesen habe, wie sehr meine Fraktion und meine Partei daran interessiert waren, auch an der Arbeit des Beirats teilzunehmen. Im Laufe der Monate, die inzwischen vergangen sind, habe ich drei verschiedene Einwendungen gehört, so daß leider noch immer kein Vertreter meiner Partei Mitglied dieses Beirats ist. Wir hätten sehr gern an dieser Vorarbeit teilgenommen, und ich meine, daß es auch das gute Recht meiner Parteifreunde gewesen wäre, zu einem früheren Zeitpunkt an dieser Arbeit beteiligt zu werden. Was uns aber von allem, was hier bisher besprochen worden ist, ganz besonders enttäuscht — das möchte ich Ihnen, Herr Minister, einmal sagen; man kann es doch nun gar nicht verhindern, daß
dies in einer sehr starken Optik dabei hervortritt —, ist die Tatsache, daß der Beirat in den zwei Jahren, seit er besteht, so gut wie nichts geleistet hat.
Ich hätte mir vorstellen können, daß es die Aufgabe und der Beginn der Arbeit dieses Beirats gewesen wäre, zunächst einmal einen Grundsatzausschuß zu bilden, um in ihm gewisse Grundsätze und Leitthemen herauszuarbeiten, und daß nach diesen Leitthemen dann auch die Fachausschüsse gebildet worden wären. Ich kann nicht einsehen, weshalb man erst so eine gewisse thematische Ouvertüre in Gang gesetzt hat, um irgendwelche allgemeinbildenden Themen anzureißen; denn in diesem Beirat sitzen doch Persönlichkeiten, die über die fachlichen Aufgaben, über den sittlichen Gehalt dieser fachlichen Aufgaben aus ihrer Berufserfahrung, ihrem großen Wissen und Können und ihren Fähigkeiten durchaus im Bilde sind und sich nicht erst darüber allgemeinbildend unterrichten zu lassen brauchen.
Ich sage das auch um deswillen, weil wir doch einmal feststellen müssen, daß es vielleicht besser gewesen wäre, Herr Bundesarbeitsminister, wenn dieser Beirat von Anfang an ein unabhängiger Beirat gewesen wäre; mit „unabhängig" meine ich: weil Sie als Bundesarbeitsminister doch außerordentlich stark an sehr viele Aufgaben gebunden sind. Ich habe den Eindruck, daß die so geringen Zusammenkünfte dieses Beirates darunter gelitten haben, daß Sie als der Vorsitzende dieses Beirates nicht so häufig zur Verfügung gestanden haben. Aber es gibt auch noch eine sachliche Begründung, und ich bitte Sie, es nicht als eine persönliche Unfreundlichkeit anzusehen, wenn ich das hier offen ausspreche. Sie als Bundesarbeitsminister, als der zuständige Ressortminister, haben ja das Ergebnis der Arbeit, die erledigten Aufgaben dieses Beirates wieder in Empfang zu nehmen. Es steht Ihnen dann alleine zu, diese Aufgabe zu beurteilen, ganz oder teilweise abzulehnen oder ganz oder teilweise dem Parlament zu empfehlen. Es scheint mir nicht ganz richtig zu sein, daß Sie als Mitglied oder Vorsitzender dieses Beirates an dieser Vorarbeit mitbeteiligt sind und auf der anderen Seite sich ein Urteil zu bilden und es auszusprechen haben.
Ich meine, es sei notwendig gewesen, gleich zu Beginn des Zusammenfindens dieses Beirates zu der Bildung der Ausschüsse zu kommen. Ich muß sagen, meine politischen Freunde sind ebenso wie ich außerordentlich enttäuscht, wenn wir feststellen, daß diese Gremien innerhalb des Beirates erst vor wenigen Wochen oder Monaten gebildet worden sind. Wenn man sich einmal den großen Komplex einer Sozialreform vorstellt, wobei eine Rentenreform — diese ist heute in der Debatte am stärksten angesprochen worden — einen wichtigen Teil im Rahmen dieser Sozialreform darstellt, und wenn man sich einmal überlegt, welcher große Arbeitsbereich zu einer Neubildung und Umformung kommen und auf die heutige Lebenslage unserer Menschen abgestellt werden soll, dann müssen wir doch heute schon sagen: Wenn die Arbeit in dem Beirat und in den Ausschüssen jetzt erst begonnen hat, können wir vielleicht erst nach einem oder eineinhalb Jahren damit rechnen, daß uns irgend etwas vorgelegt wird, und dann haben wir im Parlament überhaupt erst die Möglichkeit, zu diesem Arbeitsergebnis Stellung zu nehmen. Wir wollen uns darüber gar nichts vormachen, und ich bin jener Optik sehr abhold, irgendwelche Hoffnungen zu erzeugen, daß wir in wenigen Wochen oder Monaten eine Sozialreform haben, weil ich sehr genau weiß, daß das so schnell gar nicht möglich ist. Um so mehr ist zu bedauern, daß zwei Jahre verstrichen sind, ohne daß praktisch etwas erreicht worden ist. Dieser Verlust an Zeit geht auf Kosten derjenigen, die heute oftmals ohne eigenes Verschulden in eine sehr traurige Lebenssituation hineingeraten sind. Das scheint mir das bedauerlichste Ergebnis dieser Debatte überhaupt zu sein. Ich hätte deshalb auch den Wunsch an Sie, Herr Bundesarbeitsminister, zu richten, sich einmal zu überlegen, ob die Anregung meiner Fraktion nicht richtig wäre, diesen Beirat unabhängig arbeiten zu lassen, damit er so oft wie möglich zusammentreten und das an Zeit nachholen kann, was bisher versäumt worden ist.
Was die Sozialreform und ganz besonders den enger gezogenen Rahmen der Rentenreform angeht, so will ich trotz der vorgeschrittenen Zeit und obwohl meine Vorredner vieles schon angesprochen und erläutert haben, was auch das Anliegen meiner politischen Freunde ist, doch noch auf einiges hinweisen. Es scheint mir doch notwendig zu sein, in etwa einen Rahmen abzustecken und gewisse Grundsätze aufzustellen, nach denen man arbeiten sollte. Da nach meiner Auffassung aus den Darlegungen des Herrn Bundesarbeitsministers festzustellen war, daß man sich über diese Grundsätze noch nicht geeinigt hat, und da der Grundsatzausschuß jetzt erst gebildet worden ist, glaube ich, hier einige Anregungen geben zu müssen.
Die allererste Forderung sollte sein, unter allen Umständen eine Rechtsvereinheitlichung der Sozialgesetzgebung anzustreben. Hier liegt eine echte Aufgabe des Beirats vor. Die starke Streuung der Erlasse und Verordnungen und die sonstigen Flickschustereien, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, müssen vermieden werden. Das soll kein Vorwurf sein. Wir haben ja irgendwie arbeiten müssen, um dem Ansturm der sozialen Anliegen wenigstens einigermaßen entgegentreten zu können. Diese Anliegen müssen einmal im Wege einer einheitlichen Gesetzgebung, in einer Rechtsvereinheitlichung, d. h. durch Zusammenfassung all dieser gesetzlichen Bestimmungen geordnet werden. Ich möchte einmal an das immerhin noch sehr gute Beispiel der Reichsversicherungsordnung, die im damaligen Reich grundlegend war, erinnern und daran, daß wir nach 1945 mit den verschiedenen Ländern zu rechnen hatten. Dabei hat es sich eingeschlichen, daß bei gleichen Beitragsleistungen verschiedene Leistungen von den Sozialversicherungsträgern gegeben werden. Das konnte kaum vermieden werden, und heute stehen wir vor der Tatsache einer außerordentlich starken Rechtsunsicherheit auf Grund dieser unterschiedlichen Leistungen.
Dasselbe Bild bietet sich auch schon in der Krankenversicherung. Ich weise nur auf die unterschiedlichen Arzneigebühren und Zuschüsse hin sowie auf die verschiedensten Leistungen in der Familienhilfe selbst, die wir dabei auch zu beachten haben.
Die Besserstellung gegenüber den Fürsorgeempfängern empfinden wir auch nicht mehr in diesem Sozialversicherungssystem. Wenn man sich einmal die Durchschnittsleistungen der Invalidenversicherung oder der Angestelltenversicherung ansieht, muß man feststellen, daß das Ruhe-
geld im Durchnitt bei einem Angestellten über 65 Jahre etwa 118 DM beträgt. Die Invalidenrente eines 65jährigen Arbeiters beträgt etwa '76 DM. Bringt man das in Vergleich zu den Fürsorgeleistungen und berücksichtigt man ferner, daß der Betreffende ebenso wie der Arbeitgeber seine Leistungen bezahlt hat, so meinen wir, daß diese Unterschiede unter allen Umständen ausgeräumt werden müßten, wenn man die Leistungen auf dem Versicherungsprinzip aufbauen will.
Eine weitere Frage kann ich, nachdem Sie die baldige Anhebung der Renten angekündigt haben, freundlicher anschneiden. Dabei habe ich Ihnen einmal ein Beispiel zu sagen. Ein Versicherter der Klasse II erhält nach 40 Arbeitsjahren nur 25% mehr als ein Versicherter, der in der gleichen Leistungsklasse nur fünf Jahre lang seine Beiträge gezahlt hat. Es sollte einmal geprüft werden, ob solche Unterschiede gerechtfertigt sind. Vielleicht könnte man in der allgemeinen Rentenreform diese Dinge nach gerechteren Maßstäben ordnen.
Wenn wir von der Sozialreform sprechen, müssen wir daran denken, daß auch eine Rechtsverbesserung notwendig ist. Eine der wichtigsten Forderungen ist die nach einer gerechteren Verteilung der Lasten. Gerade das vorhin erwähnte Beispiel ist dafür kennzeichnend.
Die Sozialreform muß außer der Rentenreform einiges andere in sich schließen, wie hier schon gesagt worden ist, zuletzt von dem Kollegen Dr. Atzenroth. Wir müssen an all die Leistungen, an die ganze soziale Betreuung und an die soziale Hilfestellung denken, die wir den Menschen zu geben haben, die schuldlos in eine besonders schwierige Lage geraten sind. Dazu gehören die Vertriebenen ebenso wie die Kriegsopfer, die Heimkehrer und Spätheimkehrer, unsere alten Invaliden und auch die Körperbehinderten. Eine einheitliche Sozialverfassung ist notwendig, um unter allen Umständen jedem deutschen Staatsbürger das Gefühl der Rechtssicherheit wie der sozialen Sicherheit zu geben, denn jeder kann einmal diesen Wechselfällen des Lebens ausgesetzt sein.
Ich darf dabei darauf hinweisen, daß diese umfassende Aufgabe, die uns hiermit gestellt ist, nicht nur von den Menschen getragen werden kann, die darauf angewiesen sind, einmal die Leistungen aus der Sozialreform für sich selber in Anspruch zu nehmen. Es sollte vielmehr von dieser Stelle aus ein starker Appell erfolgen, daß die Lösung dieser Aufgabe eine Angelegenheit des gesamten Volkes sein muß. Alle müssen gemeinsam mit dem gleichen Interesse, mit gleicher Leidenschaftlichkeit an dieser Aufgabe arbeiten. Das muß mit dem ganzen Herzen geschehen. Alle müssen sich auf ihre Verpflichtung besinnen.
Ich glaube auch, sagen zu müssen — und ich denke dabei an die Notstandsgebiete in Bayern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein usw. —, daß am Beginn einer gesunden Sozialpolitik das Streben stehen muß, jedem Menschen das Recht auf Arbeit zu sichern. Meine politischen Freunde und ich sind nicht der Meinung, daß man den Menschen dazu erziehen sollte, sich auf einen sogenannten Rentenstaat zu verlassen. Das entspricht auch gar nicht der Mentalität des deutschen Menschen, denn der will in eigener Verantwortlichkeit sein Leben für sich und seine Familienangehörigen selber meistern. Es dürfte deshalb eine ganz besonders wichtige Aufgabe des Bundesarbeitsministers sein, dafür zu sorgen, daß die Menschen wieder einen Arbeitsplatz finden, die nun schon seit Jahr und Tag durch Arbeitslosigkeit oder Verlust ihrer materiellen Existenz in eine hoffnungslose Lage gekommen sind, aus der sie keinen Ausweg sehen. Auch diese Menschen sollen wieder aus eigener Kraft ihr Schicksal meistern können. Das Grundrecht auf Arbeit müssen wir in den Mittelpunkt unserer Überlegungen stellen und daraus alles Weitere entwickeln, was im Laufe dieser Debatte von den verschiedensten Seiten vorgetragen wurde.
Wenn ich das, was heute in diesen Stunden der Aussprache gesagt worden ist, überschaue und über das Ergebnis nachsinne, so muß ich doch folgendes sagen. Von den Rednern aller Fraktionen und selbstverständlich auch von unserem Herrn Bundesarbeitsminister habe ich den erfreulichen Eindruck, daß alle das gleiche Anliegen beseelt. Wir wollen uns trotz aller zum Ausdruck gekommenen Leidenschaftlichkeit und der sehr offenen Worte, die, wie ich unterstreichen möchte, sicherlich notwendig waren, zu gemeinsamer Arbeit zusammenfinden. Wir wollen diese Verantwortung übernehmen, den Menschen zu helfen und dazu beizutragen, daß unser deutsches Volk einen weiteren sozialen Aufstieg erlebt.