Rede von
Dr.
Heinrich
von
Brentano
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst darf ich zu dem letzten, was Herr Kollege Ollenhauer gesagt hat, ein persönliches Wort sagen. Ich selber war es, der die Absetzung dieser Ausschußsitzung beantragt hat, nicht wissend, daß eine solche Vereinbarung zustande gekommen war, und nur deswegen, weil wir und die
anderen Fraktionen an diesem Mittwoch Sitzungen hatten, die der Vorbereitung der heutigen Sitzung dienen sollten. Ich habe nicht ein einziges Wort des Widerspruchs gehört. Wenn mir der Vorsitzende oder in seiner Abwesenheit der stellvertretende Vorsitzende eine Mitteilung gemacht hätte, daß eine solche Vereinbarung bestand, hätte ich sofort den Antrag zurückgenommen. Wenn also schon eine Verantwortung für die Absetzung dieser Sitzung vorliegt, dann nehme ich sie auf mich; es war kein böser Wille der Bundesregierung.
Aber nun zur Sache, meine Damen und Herren! In seiner Begründung hat mein Freund Kopf schon darauf hingewiesen, daß es auch unser Wunsch war, dem Herrn Bundeskanzler die Möglichkeit zu geben, vor dem Deutschen Bundestag einen Überblick über die gesamte politische Lage zu geben, wie wir sie von hier aus zu sehen vermögen, und ich begrüße es, daß der Herr Bundeskanzler von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat.
Die Vierer-Konferenz, über die wir hier in diesem Raum schon einmal gesprochen haben, und die Genfer Konferenz, die in diesen Tagen eröffnet wurde, zeigen uns, wie sehr die ganze weltpolitische Lage unter einem Spannungszustand steht, der zwar in einzelnen Tatbeständen seinen Ausdruck findet, aber Tatbeständen, die doch nur im Zusammenhang gesehen werden können. Hier stimme ich dem zu, was der Herr Bundeskanzler sagte und was auch der Herr Kollege Ollenhauer aufnahm: wir können die einzelnen politischen Probleme, die sich heute stellen, nicht voneinander lösen; sie überlagern sich wie konzentrische Kreise, und wir können höchstens in eine Diskussion über die Wertigkeit des einzelnen Problems eintreten. Da entscheiden subjektive Maßstäbe, und es ist klar, daß für uns, daß für jeden Deutschen die Fragen der Spaltung Deutschlands und der Spaltung Europas eine entscheidende Rolle spielen und im Vordergrund aller politischen Erwägungen stehen. Wir würden aber, glaube ich, der Lage nicht gerecht und würden Gewichte verschieben, wenn wir nicht erkennen, daß diese zentrale Bedeutung eines Teilproblems, wie sie sich für uns äußert, nicht bedeutet, daß dieses Problem nun von der gesamten Welt in dieselbe Kategorie der Wichtigkeit eingesetzt wird. Ich sage das nur, weil ich glaube, daß wir uns dann sachlich über die gesamte Problematik zu äußern vermögen.
Ohne Einschränkung stimme ich dem Herrn Bundeskanzler zu, wenn er auch heute wieder mit großem Nachdruck und mit großem Ernst betont hat, daß wir uns nicht davon abbringen lassen dürfen, den beschrittenen Weg der Politik entschlossen und unbeirrbar weiterzugehen. Ich glaube, daß gerade für unsere heutige Lage wie selten zuvor das Wort gilt, daß Stillstand Rückschritt bedeuten würde. Wir wollen diese Politik der europäischen Zusammenarbeit konsequent fortführen, wobei ich mit Ihnen, Herr Kollege Ollenhauer, durchaus der Meinung bin, daß die Art der Zusammenarbeit diskutiert werden kann und daß die Integration, so wie wir sie sehen, durchaus nicht den einzigen Weg der Zusammenarbeit darstellt, wohl aber bis zum Beweis des Gegenteils den besten. Wir wollen diese Politik der europäischen Zusammenarbeit konsequent fortführen, damit Europa stark wird. Das bedeutet — das möchte ich auch hier einmal gegenüber törichten oder böswilligen Unterstellungen aussprechen —
nicht ein Bekenntnis zur Politik der Stärke im Sinne der brutalen Machtbedrohung oder der Provokation. Wer sich zu einer Politik der Stärke in diesem Sinne bekennt, bekennt sich zu der Politik der Selbstbehauptung und lehnt damit ja gerade eine Politik der Drohung mit Gewalt, eine Politik der Provokation ab.
Ich meine, niemand erkennt das besser als die Sowjetunion, die ja bisher einen recht leidenschaftlichen und leider nicht immer erfolglosen Kampf gegen diese Politik der Zusammenarbeit geführt hat. Aber soll man es ihr denn verargen? Erlauben Sie mir diese Frage. Von ihrem machtpolitischen, auf Expansion und Eroberung gerichteten Denken her hat auch die Sowjetunion recht, wenn sie jeden Versuch unternimmt, diese europäische Zusammenarbeit zu stören, insbesondere solange man ihr in Europa selbst ein Schauspiel bietet, das geeignet zu sein scheint, ihre Absichten nicht nur zu fördern, sondern sogar zu verwirklichen.
Denen, die die Politik der Stärke bekämpfen, möchte ich auch heute wieder die Frage stellen, ob wir uns denn konsequenterweise zu einer Politik der Schwäche, und das bedeutet: zu einer Politik der Selbstaufgabe, bekennen sollten.
Noch vor ein paar Tagen hat der amerikanische Präsident Eisenhower auf einem Festbankett des Kongresses der amerikanischen Zeitungsverleger gesprochen. Erlauben Sie mir ein kurzes Zitat — mit Genehmigung des Herrn Präsidenten — aus dieser Rede:
Die Aggression ist noch immer eine furchtbare Wirklichkeit, obwohl auf allen Kontinenten und Inseln der Welt die Menschheit nach Frieden hungert. Dieser universelle Hunger muß gestillt werden. Entweder bauen die Völker zusammen am Frieden, oder sie werden eines nach dem anderen gezwungen werden, einen aufgenötigten Frieden hinzunehmen, wie er heute von den kommunistischen Mächten nicht anders als einst von Hitler gesucht wird.
Meine Damen und Herren, wer in einer solchen Äußerung ein Bekenntnis zu einer Politik der Stärke sieht, dem muß ich zugeben, daß ich mich in diesem Sinne auch zur Politik der Stärke bekenne.
Aber wie wenig eine solche Politik mit einer aggressiven Absicht zu tun hat, geht ja auch aus der wiederholten Erklärung hervor, die ich auch heute wieder aufnehme, daß wir — gerade auch wir — bereit sind, jeden Pakt, jeden Vertrag, jedes System zu billigen, es selbst anzunehmen, ihm beizutreten oder zuzulassen, daß andere es vereinbaren, das Sowjetrußland das Gefühl der Sicherheit gegen Aggression und Bedrohung vermitteln könnte, wobei ich völlig dahingestellt sein lasse, ob dieses Gefühl der Bedrohung echt oder vorgetäuscht ist. Die letzten Diskussionen bei der Vorlage des sowjetrussischen Budgets, die man lesen konnte, vermitteln mir nicht die Überzeugung, daß dieses Gefühl der Bedrohung tatsächlich echt und begründet ist.
Aber ich meine trotz des Widerspruchs des Herrn Kollegen Ollenhauer, daß wir in der Erkenntnis der Notwendigkeit der Zusammenarbeit der freien Völker und insbesondere der Völker Europas weitere Fortschritte gemacht haben. Ich erinnere an die von dem Herrn Bundeskanzler schon zitierte Erklärung des britischen Außen-
ministers über die Bereitschaft der englischen Regierung zu einer Assoziation mit den Staaten der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Ich bin vermessen genug, anzunehmen, daß diese Erklärung wohl nicht abgegeben worden wäre, wenn man auch in London der Überzeugung wäre, wie sie hier vertreten worden ist — mit einem gewissen Gefühl der Befriedigung vertreten worden ist, wie ich mit Bedauern feststelle —, daß die Politik der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft bereits zum Sterben verurteilt sei.
Ich entnehme dieser Erklärung der englischen Regierung zwei Dinge: einmal, daß Großbritannien in seiner Abschätzung der Weltlage sich fortan die Politik des Gleichgewichts — und das ist ja das, was man in anderer Sprache auch „Koexistenz" zu nennen pflegt — nicht mehr auf der innereuropäischen Ebene, sondern nur noch auf der interkontinentalen Ebene vorzustellen vermag, und zum anderen, daß Großbritannien sich wohl keine Situation vorstellen kann, in der nicht eine Beteiligung des in der Atlantischen Gemeinschaft gesammelten Gewichts am europäischen Aufbau erforderlich wäre. Herr Kollege Ollenhauer hat diese Erklärung kritisiert und gesagt, sie sei gar nichts, denn sie bedeute ja nicht den Beitritt Englands zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Nun, meine Damen und Herren, das wissen wir schon seit zwei Jahren, daß England der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft nicht beitritt. Seine Unterschrift steht ja auch nicht unter dem Vertrag, und diese Erklärung lediglich dahin auszulegen, daß das damit sichtbar würde, scheint mir doch ein wenig verspätet zu kommen. Es ging darum, ob sich England, so wie es das in Aussicht gestellt hat, dieser Verteidigungsgemeinschaft in einer engen und unauflöslichen Weise assoziieren würde, und diese Voraussetzung ist, wie ich meine, in einer Weise erfüllt worden, wie vielleicht gerade Sie, Herr Kollege Ollenhauer, das noch vor kurzer Zeit nicht für möglich gehalten hätten.
Aber die Aufnahme der Erklärung bei den verschiedenen Kritikern hat wieder einmal gezeigt,
daß es sehr schwer ist, es allen recht zu machen.
Ich las noch vor kurzem eine französische Pressestimme, allerdings in einer Zeitung, die für ihre erklärt antieuropäische Haltung bekannt ist. Da hieß es im ersten Satz, dieses Assoziationsabkommen bedeute gar nichts und werde das innere Leben und den Bestand der Gemeinschaft gar nicht berühren, und im zweiten Satz wurde dann gesagt, daß durch das Abkommen Großbritannien einseitig in die Lage versetzt wäre, insbesondere auf dem Wege über die Rüstungsproduktion, den deutschen Einsatz weitgehend mitzubestimmen. Meine Damen und Herren, wenn der erste Satz richtig war, dann mußte der zweite falsch sein, und umgekehrt.
Das war eine Stimme aus Frankreich, und der Herr Kollege Ollenhauer hat vorhin gefragt, ob wir uns nicht auch Sorgen machten, wenn wir die kritischen Stimmen aus Frankreich hörten, die der Politik der europäischen Integration, so wie sie uns und der Bundesregierung vorschwebt, widersprechen. Ich möchte darauf jetzt antworten. Herr Kollege Ollenhauer, ich versichere Ihnen, daß wir uns sehr große Sorgen machen, wenn wir hören, wie drüben Gaullisten vom Schlage des Herrn Palewski, Kommunisten vom Schlage des Herrn
Duclos und andere wie Herr Herriot oder Herr Daladier, um nur einige zu nennen, dieser europäischen Integration leidenschaftlich Widerstand leisten. Aber, Herr Kollege Ollenhauer, erlauben Sie mir eines zu sagen. Ich bin überzeugt, daß sehr viele, die in Frankreich, in Belgien und in Holland die Integration mit derselben Leidenschaft vertreten wie wir — und das sind auch Ihre sozialistischen Freunde in diesen drei Ländern —, Ihre Äußerungen mit derselben Sorge verfolgen wie wir die französischen.
Ich erinnere auch — und auch das hat der Bundeskanzler bereits gestreift — an die Erklärung des amerikanischen Präsidenten Eisenhower über die Zusammenarbeit der NATO mit der EVG. Meine Damen und Herren, der amerikanische Präsident hat hier eine weittragende Erklärung abgegeben. Ich weiß nicht, ob sie in ihrer Bedeutung allen ganz bewußt geworden ist. Der amerikanische Präsident hat in dieser Erklärung auch gesagt — ich bitte, den letzten Satz aufmerksam nachzulesen; er ist im Bulletin veröffentlicht —, daß nur im Falle einer effektiven und wirksamen europäischen Zusammenarbeit mit einer langfristigen Beteiligung der Vereinigten Staaten an der europäischen Politik zu rechnen sei. Dieser Satz sollte auch allen denen zu denken geben, die sich bisher immer wieder mit der ebenso apodiktischen wie unlogischen Feststellung selbst betrogen haben, daß die Vereinigten Staaten sich ja gar nicht aus der europäischen Politik lösen und Europa weder politisch noch militärisch noch strategisch sich selbst überlassen könnten. Meine Damen und Herren, vielleicht ist die Gefahr, daß das geschieht, größer, als mancher auch in diesem Hause ahnt.
Es kann einer falschen deutschen Politik sehr leicht gelingen, Deutschland zu isolieren, und es kann auch — das sage ich, ohne zu kritisieren — einer falschen französischen Politik ebenso leicht gelingen, die europäische Politik zum Scheitern zu bringen. Gemeinsamen Anstrengungen der Unvernunft in Europa kann es gelingen, die gesamte europäische Politik zu gefährden, damit den europäischen Kontinent zu isolieren und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß er vielleicht in Kürze zum politischen und später zum militärischen Operationsfeld anderer Mächte wird.
Wir sollten bei diesen Erwägungen auch die innenpolitische Entwicklung Deutschlands nicht aus dem Auge verlieren. Ich glaube, es wäre sehr kurzsichtig und sehr falsch, zu glauben, daß die Stellung, die wir uns wieder errungen haben, politisch und wirtschaftlich, so sicher und beständig sei, daß wir sie nun allein . und aus eigener Kraft auf die Dauer zu halten vermöchten. Ein isoliertes Deutschland würde in kürzester Frist mit wirtschaftlichen Krisen zu kämpfen haben, die es niemals allein überstehen könnte. Aber noch gefährlicher könnten und müßten politische Krisen werden. Wenn die Politik der europäischen Zusammenarbeit nicht erfolgreich fortgeführt wird, dann wird die Enttäuschung in allen beteiligten Ländern, auch in denen, die bereits ratifiziert haben — Holland, Belgien und Luxemburg —, ihren Ausdruck darin finden, daß aus dem Gefühl der Isolierung heraus eine rückläufige Entwicklung zum Nationalismus folgt. Eine solche Entwicklung
wäre ebenso verständlich wie verhängnisvoll; verständlich deswegen, weil die Menschen ja dann erneut in der Angst leben würden, nur von Feinden umgeben zu sein, denen sie ausschließlich mit der äußersten Anspannung aller nationalen Kräfte begegnen zu können glaubten; und verhängnisvoll deswegen, weil diese Entwicklung der endgültige Sieg der russischen Außenpolitik sein müßte, die ja nur dann gedeihen kann, wenn die freie Welt sich untereinander schwächt und ihre wirtschaftlichen und politischen Kräfte zersplittert, anstatt sie zur gemeinsamen Erhaltung und Entfaltung zusammenzuführen.
Meine Damen und Herren, ich wiederhole, daß ich mit dem Herrn Kollegen Ollenhauer der Meinung bin: wenn wir uns zu dieser Zusammenarbeit bekennen, gibt es sicherlich verschiedene Wege. Aber auf die Gefahr hin, daß mir ein Protest entgegenschallt, möchte ich doch feststellen: soweit ich Ihre Ausführungen heute verfolgen konnte, haben Sie uns auch heute diese Alternativlösung vorenthalten,
vielleicht, um sie zu einem späteren Zeitpunkt zu
bringen, obwohl mir die Zeit zu drängen scheint.
— Auf die Frage der Alternativlösung, die aus meiner Fraktion kam, haben Sie geantwortet, Herr Kollege: Lesen Sie die Zeitung! — Ich glaube nicht, daß das reicht; aber es mag sein, daß auch Sie sich zu der Auffassung bekennen, die der Herr Kollege Lütkens vor wenigen Tagen in Königswinter im deutsch-englischen Gespräch vertreten hat, als er zum Abschluß seiner Ausführungen eindeutig erklärte: Es ist nicht die Aufgabe der Opposition, Alternativvorschläge zu machen; das muß die Regierung tun.
— Ich glaube, so kann man das Gespräch nicht führen.