Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Wenn ich im Auftrage meiner Fraktion im Rahmen der Haushaltsdebatte zu dem Problem der Sowjetzonenflüchtlinge einige Ausführungen mache, so bin ich mir durchaus bewußt,
wie schwierig und wie kompliziert dieser Fragenkomplex ist. Es muß aber anerkannt werden, daß das Problem zwar nicht der Größenordnung nach, aber wohl in seiner Bedeutung dem Vertriebenenproblem gleichzustellen ist und daß es neben der menschlichen und sozialen Seite größte politische Wichtigkeit hat.
Die besonderen Schwierigkeiten gegenüber dem Problem der Heimatvertriebenen liegen darin, daß die Flucht aus der Sowjetzone sich ohne zeitlich erkennbares Ende vollzieht, während die Vertreibung und die Flucht der Heimatvertriebenen eine zeitlich begrenzte Aktion war. Das erschwert selbstverständlich alle Überlegungen und alle Maßnahmen, die zur Einfügung der Sowjetzonenflüchtlinge in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in der Bundesrepublik getroffen werden. Wir haben uns aber zu fragen, ob wirklich alles getan wurde, der Lage der Sowjetzonenflüchtlinge immer gerecht zu werden.
Zur Klarstellung unserer Haltung zu diesem Problem möchte ich vorweg sagen, daß auch wir eine Entvölkerung der Zone nicht wünschen und auch nicht gutheißen würden, daß auch wir fragen, ob das Verlassen der Zone und damit des Heimat- und Wohnortes auf jeden Fall eine zwingende Notwendigkeit war. Bei der Beurteilung der Fluchtgründe darf aber von uns niemals vergessen werden, daß bereits jeder, der mit dem Ziel des Systems drüben nicht einverstanden ist, allein schon durch diese Tatsache in eine bedenkliche Lage gerät und daß es bei den Flüchtlingen um die Folgen und Opfer außerhalb unseres Einflusses liegender politischer Entwicklungen geht.
Hinzu kommt auch noch, daß es, von uns aus gesehen, und zwar vom sicheren Hafen des Rechtsstaates her, sehr schwer ist, den Unterschied zwischen berechtigter und unberechtigter Flucht eindeutig zu klären.
Alle diejenigen, die sich mit diesen Fragen beschäftigt haben, wissen, welches Maß an Verbitterung sich bei vielen Flüchtlingen angesammelt hat, weil sie bei der Beurteilung der Fluchtgründe im Notaufnahmeverfahren das erwartete Verständnis für ihre Lage in vielen Fällen nicht spüren konnten.
Wir müssen zugeben, daß die Merkmale, nach denen der Tatbestand einer Flucht überprüft wird, im Einzelfall immer problematisch sein werden, weil das Schwergewicht auf der Ermessensbeurteilung liegt. Gewiß, es geht über menschliches Vermögen, der großen Zahl der Flüchtlinge in allen Punkten gerecht zu werden. Wir dürfen aber niemals vergessen, daß sie als Opfer des Regimes Anspruch auf unsere Hilfe haben,
daß sie Flüchtlinge sind im eigenen Lande und daß wir alle zum gleichen Deutschland gehören.
Das Bundesvertriebenengesetz, auf das die Sowjetzonenflüchtlinge so große Hoffnungen setzten, hat in vielen Teilen enttäuscht, wenn auch anerkannt werden muß — darum haben wir uns in diesem Hause ja alle bemüht —, daß im Hinblick auf die besondere Zwangslage nunmehr auch der Begriff „Sowjetzonenflüchtling" ausgeweitet wurde.
Das Anwachsen der Flüchtlingszahlen im vergangenen Jahr und die dadurch zunehmende Schwere der ganzen Frage hat zu den größten Schwierigkeiten bei der Unterbringung der Flüchtlinge geführt. Schon seit längerer Zeit konnte nur noch mit größter Sorge beobachtet werden, daß die Sowjetzonenflüchtlinge in den als Durchgangs- und Verteilungsstationen vorgesehenen Lagern oft monatelang, in manchen Fällen sogar ein Jahr lang haben zubringen und auf ihre Verteilung in die Länder und in die Gemeinden warten müssen, insbesondere deshalb, meine Herren und Damen, weil die Bundesregierung die versprochenen finanziellen Voraussetzungen der wohnraummäßigen Versorgung nicht geschaffen hat. Erschwerend kommt hinzu, daß diese Durchgangslager, weil sie eben nur dazu vorgesehen waren, die Flüchtlinge kurze Zeit aufzunehmen, in sehr vielen Fällen als völlig unzureichend sowohl in baulicher als auch in hygienischer Beziehung bezeichnet werden müssen und daß leider — das haben wir des öfteren feststellen müssen — sehr oft die Lagerleitung es an dem notwendigen Verständnis für die Sowjetzonenflüchtlinge hat fehlen lassen.
Sie werden mir zugeben müssen, meine Damen und Herren, daß es kaum möglich ist, Menschen von der Demokratie zu überzeugen, wenn man sie monatelang in einem früheren Konzentrationslager, weitab von jeder Verkehrsmöglichkeit, wo sich auf den Mauern noch die Stacheldrähte und die Isolatoren aus der früheren Zweckbestimmung des Lagers her befinden,
unterbringt und auf ihre Eingliederung monatelang warten läßt.
Da ist es nur zu natürlich, daß sich aus der Unsicherheit ihrer Existenz und aus dem monatelangen Wartenmüssen Spannungen ergeben, die manchem Flüchtling die Wertung des Menschen auch bei uns hier im Westen als sehr fraglich erscheinen läßt.
Ich finde es auch beschämend, dem Hohen Hause sagen zu müssen, daß in solchen Lagern der westdeutschen Bundesrepublik Kämpfer des 17. Juni monatelang auf ihre Eingliederung warten müssen,
und ich gestatte mir die Frage, Herr Minister Oberländer: Was haben Sie getan, welche Anregung haben Sie an die Länder gegeben, um den Menschen, die für die Freiheit ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, hier bei uns im Westen eine Heimat in Freiheit zu schaffen und zu sichern?
Im Vordergrund aller Überlegungen muß der Wille stehen, den Lageraufenhalt so weit wie möglich und für so viele wie möglich zu verkürzen. Diese Überlegungen müssen aus der besonderen Aufgabe heraus — selbstverständlich ohne die Prioritätsrechte der Vertriebenen und Evakuierten zu verletzen — dahin gehen, daß das weitere Anwachsen der Flüchtlingslager samt ihren seelischen, moralischen und wirtschaftlichen Folgen möglichst verhindert wird.
Es würde sich unserer Meinung nach auch von seiten des Bundeshaushalts lohnen, hierbei vorausschauender zu handeln. Man denke an die ständig wachsenden Kosten für die Verwaltung der Lager, für die Errichtung neuer Lager, für die Verpflegung und Betreuung der Lagerinsassen und für die Zahlung von Arbeitslosenunterstützung.
Es ist außerdem tief bedauerlich, daß sich erneut die größten Schwierigkeiten für die Unterbringung der Flüchtlinge ergeben haben, weil der Bund seinen Versprechungen im Hinblick auf die weitere Zurverfügungstellung von Wohnungsbaumitteln nicht nachgekommen ist,
und daß sich daraus sogar für das Land NordrheinWestfalen, das nach dem Verteilungsschlüssel auf Grund seiner wirtschaftlichen Kapazität die größte Zahl der Flüchtlinge aufnehmen muß, die Handhabe zur Ablehnung weiterer Flüchtlinge ergeben hat.
Wir haben in dieser Situation, Herr Minister Oberländer, Ihre Aktivität vermißt.
Wir meinen, Sie hätten Ihr Verständnis für die Sowjetzonenflüchtlinge unter Beweis stellen können, wenn Sie sich mit der größten Energie für die Weiterzahlung der Wohnungsbaumittel eingesetzt hätten.
Wir haben — ich muß es sagen — in der Öffentlichkeit nichts davon gehört. Aber vielleicht können wir von Ihnen, Herr Minister Oberländer, erfahren, welche Anstrengungen Sie im Kabinett in dieser Frage unternommen haben. Jedenfalls scheint es uns unerläßlich zu sein, daß den Ländern diese Mittel sofort wieder zur Verfügung gestellt werden, damit sich auch für Berlin nicht noch einmal dieselben Schwierigkeiten ergeben, wie wir sie im vergangenen Jahr erlebt haben.
Wir beobachten auch mit größter Sorge die augenblicklichen Überlegungen, die im Hinblick auf die Betreuung der Sowjetzonenflüchtlinge von den Bundesministerien und den Ländern angestellt werden. Selbstverständlich sind auch wir der Meinung, daß solchen Flüchtlingen, die einer politischen Gefährdung ausgesetzt waren, ein erhöhtes Maß an Fürsorge und sozialer Betreuung zugesichert werden muß. Aber wir können aus dieser Bejahung einer verstärkten Fürsorge für einen Teil der Flüchtlinge nicht schlußfolgern, daß man dem andern Teil nur eine unzulängliche oder überhaupt gar keine Fürsorge zuteil werden läßt, ja daß man unter Umständen die soziale Belastung auf die Gemeinden abzuschieben versucht. Wir haben noch in schlechter Erinnerung, daß Herr Bundesfinanzminister Schäffer im ersten Bundestag schon einmal den Versuch unternehmen wollte, die Beteiligung des Bundes an dieser Kriegsfolgelast von 85 % auf 50 % zu beschränken.
Eine weitere Beunruhigung in den Kreisen der Sowjetzonenflüchtlinge liegt an der verzögerten Ausstellung des Flüchtlingsausweises C, der für die Inanspruchnahme des Härtefonds unerläßlich und damit für eine Existenzeingliederung notwendigste Voraussetzung ist.
Wir wissen zwar, daß die Länder in erster Linie für die Ausstellung der Ausweise zuständig sind. Wir wissen auch, daß es sehr schwer ist, Einfluß auf die Praxis der Länder zu nehmen. Trotzdem aber sind wir der Meinung, daß Sie, Herr Minister Oberländer, sich im Interesse der Sowjetzonenflüchtlinge früher und stärker für ein beschleunigtes Verfahren hätten einsetzen sollen.
Noch eine andere Frage bedarf unserer Ansicht nach einer neuen Regelung. Die mit dem Flüchtlingsausweis C ausgestatteten, also politisch anerkannten Flüchtlinge bedürfen bei der Inanspruchnahme des Härtefonds aus dem Lastenausgleich der Prüfung der Hilfsbedürftigkeit. Auch hier handelt es sich erneut um Ermessensfragen. Wir sind der Meinung, daß Ermessensfragen so weit wie möglich eingeschränkt werden sollen, um das Schicksal eines einzelnen nicht vom bürokratischen Ermessen, das — wir wissen es alle — oft engherzig gehandhabt wird, abhängig zu machen. Viele Flüchtlinge haben die Erfahrung gemacht, daß die Behörden sehr gern bereit sind, die Bestimmungen bei Ermessensfragen zuungunsten der Flüchtlinge auszulegen, um fiskalischen Interessen den Vorrang zu geben. Das ist eine sehr schlechte Praxis, wenn es sich um anerkannte politische Flüchtlinge handelt. Das zuständige Ministerium sollte sich daher einmal überlegen, welche Möglichkeiten für eine bessere Lösung dieses Problems vorgeschlagen werden könnten, um den Belangen der Flüchtlinge gerecht zu werden.
Wir haben bei der Verabschiedung des Lastenausgleichsgesetzes schon einmal eine Entschließung eingebracht, die vom Hohen Hause einstimmig angenommen wurde und die an die Bundesregierung die Forderung richtete, einen Gesetzentwurf vorzulegen, nach dem den politischen Flüchtlingen aus der Sowjetzone Leistungen zu gewähren sind, die unter Berücksichtigung der besonderen Lage dieser Flüchtlinge den Leistungen des Lastenausgleichsgesetzes entsprechen sollen. Diesem Ersuchen ist die Bundesregierung niemals nachgekommen. Aus diesem Grunde erwarten wir nun von Ihnen, Herr Minister Oberländer, Vorschläge, die dem Verlangen nach einer besseren Regelung Rechnung tragen. Dabei möchte ich noch einmal betonen, daß wir selbstverständlich alles vermeiden müssen, um etwa Fronten hie Sowjetzonenflüchtlinge, hie Vertriebene, hie Einheimische aufzureißen. Das würde der Sache nicht dienen. Aber wir sollten nicht vergessen, daß wir alle zusammen Deutsche sind, die gegenseitiger Hilfe und Solidarität bedürfen. Auch wir, meine Herren und Damen, sind der Meinung, daß wir nur schwer in der Lage sind, dieses Problem allein zu lösen, und daß wir auch die Hilfe des Auslands erwarten könnten, da es sich nicht nur um ein deutsches Problem, sondern um ein allgemein politisches, weit über die Grenzen Deutschlands hinausgehendes Problem handelt. Aber ehe wir an die Hilfe des Auslands appellieren, muß von uns alles, was wir aus eigener Kraft tun können, getan sein.
Zum Schluß lassen Sie mich noch folgendes sagen. Wir sollen und dürfen in der Beurteilung dieses Problems uns niemals davon leiten lassen, daß die Menschen, die zu uns herüberkommen, als ein sozialer Ballast betrachtet werden. Wir müssen immer daran denken, daß sie Deutsche sind, die nach 1945, als wir uns hier schon wieder einrichten konnten, noch einer zusätzlichen starken politischen Belastung ausgesetzt waren, und daß sie deshalb unserer Hilfe und unserer Solidarität bedürfen. Deshalb müssen alle Maßnahmen, die zur Lösung dieses Problems ergriffen werden, von diesem Gesichtspunkt her getroffen werden.