Rede von
Dr.
Marie-Elisabeth
Lüders
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Meine Damen und Herren Abgeordneten des Deutschen Bundestages! Es ist nicht mein Verdienst, daß ich hier heute, einem alten Brauche folgend, an dieser Stelle stehe. Es war der Wunsch des Herrn Bundeskanzlers, in Übereinstimmung mit Art. 69 Abs. 3 des Grundgesetzes von seinem altersmäßigen Vorrang keinen Gebrauch zu machen, und es ist ein für mich gütiges Geschick, das mich alt genug hat werden lassen, um zu Ihnen, meine Damen und Herren, sprechen und die zweite Wahlperiode des Deutschen Bundestages gemäß § 1 Abs. 2 der Geschäftsordnung des ersten Deutschen Bundestages eröffnen zu dürfen.
Meine Damen und Herren, ich bin geboren am 25. Juni 1878. Ich darf fragen, ob sich ein Mitglied im Hohen Hause befindet, das zu einem früheren Termin geboren ist. Dann bitte ich es, sich zu melden. — Das ist offenbar nicht der Fall.
Dann erkläre ich die erste Sitzung der zweiten Wahlperiode des Deutschen Bundestages der Bundesrepublik Deutschland für eröffnet.
Ich darf zunächst vier Mitglieder des Hohen Hauses bitten, mir als vorläufige Schriftführer zur Seite zu stehen, und zwar bitte ich die Abgeordnete Frau Albertz, Herrn Abgeordneten Huth, Herrn Abgeordneten Karpf und Herrn Abgeordneten Matzner, dieses Amt zu übernehmen. Ich. darf Frau Abgeordnete Albertz und Herrn Abgeordneten Huth bitten, neben mir Platz zu nehmen. Die beiden anderen Mitglieder des Hohen Hauses bitte ich, sich zu den Wahlurnen zu begeben, sobald wir zur Wahl des Präsidenten kommen.
Meine Damen und Herren, diese Stunde wird durch die Erinnerung an den schmerzlichen Verlust überschattet,
der uns alle mit dem Tode des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Professor Dr. Ernst Reuter, meines Vorsitzenden und Kollegen im Berliner Stadtrat, getroffen hat. Wir gedenken heute vor allen anderen der trauernden Familie. Wir gedenken seiner Witwe, seiner treuen Begleiterin und unermüdlich sorgenden Helferin. Wir gedenken neben ihr der Kinder und Schwiegerkinder, die des wegweisenden Vorbildes beraubt worden sind.
Der Regierende Bürgermeister von Berlin ist mitten im Kampf um die Freiheit Berlins, um die Wiedervereinigung Deutschlands von unserer Seite gerissen worden. In ihm hat nicht nur Berlin, hat nicht nur Deutschland, sondern in ihm hat die ganze Freiheit und Recht verteidigende Welt einen unerschütterlichen Kampfgenossen verloren, dessen leidenschaftlichen Willen nur ,der Tod zu brechen vermochte. Das wissen vor allem die, welche — wie ich selber — in den dunkelsten Jahren Berlins unter seiner' Führung unserem höchsten Ziele zugestrebt und dafür gearbeitet haben.
Der Lebenslauf dieses erfahrenen, immer tätigen und — wie es schien — nimmermüden Mannes ist den meisten von Ihnen aus vielfacher persönlicher Begegnung bekannt. Mit Ihrer Arbeit, meine Damen und Herren, war er als Vertreter Berlins beim Bundesrat eng verbunden.
Von Jahr zu Jahr, von Stunde zu Stunde wuchs die Last seiner Aufgabe im Ringen gegen die schwerste wirtschaftliche und soziale Not, gegen die politische Bedrohung Berlins aus dem Osten. Der Kampf Berlins, der nach und nach zu einem Kampf Deutschlands, zu einem Weltkampf der Geister zwischen Licht und Finsternis wurde, verlangte Hilfe von allen Seiten. Sie wurde gestellt aus Deutschland von Parlament und Bundesregierung. Die freie Welt jenseits unserer Grenzen trat an unsere Seite in dem Kampf um die Rückgewinnung der heimatlichen Erde für Millionen Deutscher „zu einem freien Leben auf freiem Grund". Es ist nicht zuletzt das Verdienst des heimgegangenen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, daß sich nach und nach die immer noch fühlbare Skepsis in den guten Willen und in die Aufrichtigkeit des politischen Wollens Deutschlands in Achtung und schließlich in Vertrauen gewandelt hat. Es ist nicht zuletzt auch sein Verdienst, daß man jenseits des Eisernen Vorhangs doch so weit wenigstens Respekt verspürte, daß die stets griffbereite Hand, auf Berlin und die übrige freie Welt zuzuschlagen, bislang gelähmt worden ist.
Für all das danken wir alle dem toten Vorkämpfer, der zu einer symbolhaften Figur für die Hoffnung auf die Erfüllung unseres letzten großen politischen Wunsches geworden ist.
Sie haben sich zu seinem ehrenden Gedenken erhoben. Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren! Auch der erste Bundestag und mit ihm die Regierung haben in der Zeit nach seinem ersten Zusammentritt schwer ringen müssen. Alle staatlichen und verwaltungsorganisatorischen Grundlagen mußten nach dem allgemeinen Zusammenbruch, der alles mit sich riß, neu aufgerichtet werden. Das in Teile zerfallene Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen mußte zu einem einheitlichen Staatswesen zusammengefügt werden. Aber nicht nur die Schaffung einer neuen äußeren Form war die ihnen gestellte Aufgabe, sondern diese Form mußte für die irregeführten Bewohner unseres Landes mit einem neuen Staatsinhalt erfüllt werden, der ihre skrupellos mißbrauchte Gläubigkeit und ihre so bitter enttäuschte Hoffnung wiederbelebte. In der üblichen Form ,der Gesetzgebung und des Aufbaus der zerstörten Verwaltung allein konnte die Aufgabe nicht bewältigt werden. Sie lag weitgehend im Menschlichen gegenüber den Millionen von tiefster Not Bedrohten.
Gleichzeitig — und was bedeutet das in diesem Zusammenhang: gleichzeitig! — waren die schwierigsten innen- und außenpolitischen Entscheidungen zu treffen, bei denen Sie, meine Damen und Herren, nur zu oft auf vielleicht verständliche und doch unverständige Widerstände von außen stießen. Der erste Bundestag mußte die auf Jahrzehnte und länger berechnete natürliche Wachstumsphase eines jeden Staates auf wenige Jahre zusammendrängen. Er mußte dabei — sehr gegen seinen Willen — dem Zwang zu überhasteter Gesetzgebung unterliegen, deren häufige Änderungen die Außenstehenden verstimmten. Dem neuen Bundestag kann man nur von Herzen wünschen, daß er in Zukunft mit weit größerer Gelassenheit und dadurch auch mit erhöhter Sorgfalt die vom ersten Bundestag geschaffenen Grundlagen ausbaut und vieles vollenden kann, was jener Bundestag begonnen hat.
Aber neben der notwendigen Konsolidierung der inneren Ordnung stehen auch weiterhin gewaltige Aufgaben aus den noch keineswegs überwundenen Folgen des Krieges und seines katastrophalen Endes vor uns. An erster Stelle steht für uns alle die staatliche Vereinigung des geschichtlich gewordenen Volksraumes, nicht nur in geographischer und wirtschaftlicher, sondern auch in sozialer und mitmenschlicher Beziehung. Das ist nicht nur ein nationalpolitisches Ziel, sondern es ist der wesentliche Beitrag zum Frieden in der Welt überhaupt. Voraussetzung für diesen unsern Friedensbeitrag ist allerdings, daß man uns die Möglichkeit dazu gibt, uns dafür in Freiheit zu betätigen. Das wird auch der Prüfstein für den echten Friedenswillen der großen Mächte in der Welt sein, ob und inwieweit sie den Weg zur deutschen Wiedervereinigung uns zu öffnen bereit sind. Der letzte Beweis, daß a 11 e dieses guten Willens sind, wird an dem Tage erbracht sein, an dem auch der letzte deutsche Gefangene in seine Heimat zurückgekehrt ist und die Versöhnung der Völker dem Tode von Millionen nachträglich doch noch einen Sinn gibt.
Die Festigung des Weltfriedens wird von dem Erfolg der Bemühungen abhängen, die europäischen Staaten nach einem Jahrtausend immer neu entbrennender Fehden miteinander endgültig zu versöhnen und zu verbinden.
Schwere und mühselige, ja vor allem liebevolle Arbeit, meine Damen und Herren, liegt noch immer vor uns in dem Bemühen, die wirtschaftlichen und menschlichen Trümmer aus dem Zusammenbruch der Lebensgrundlage von Millionen fortzuräumen. Die große soziale Aufgabe unserer Zeit liegt darin, die Entwurzelten wieder zu verwurzeln, die aus Heim und Heimat Vertriebenen, aus Arbeit und Brot Gerissenen mit menschlicher Wärme und seelischer Hilfe in die neue Heimat, in neue Arbeitsplätze einzugliedern. Sie besteht darin, aus Mitbewohnern echte, voll und gern anerkannte Mitbürger, aus Versorgten wieder auf eigenen Füßen stehende Versorger zu machen. Eine menschliche Gesellschaftsordnung kann nicht nur mit Gesetzen hergestellt werden. Dem Menschen muß die Möglichkeit gegeben werden, als Mensch in Freiheit und Gesittung zu leben, bereit, in eigener, echter Lebensverantwortung für sich und ,die Seinen einzustehen.
Aber, meine Damen und Herren, auch dafür gilt K a n t s Wort — und das möge die Welt wissen —: Der Mensch muß fr ei sein, um sich seiner Kräfte zweckmäßig bedienen zu können.
Seßhafte, mit Staat und Gesellschaft auch seelisch verbundene Bürger bedürfen der Wohnungen als Heim und Pflanzstätten gesunden Familienlebens. Sie bedürfen der materiellen Grundlage durch gesicherte Arbeit. Der erste Bundestag hat einen sehr verdienstvollen Anfang auf beiden Gebieten gemacht trotz des unaufhaltsamen, immer neuen Zustroms aus der auf uns wartenden östlichen Heimat. Aber das Werk der deutschen Neuordnung ist noch lange nicht zu Ende! Noch treten Millionen durch fremde Haustüren in fremde Räume, noch hetzen zahllose Witwen zur Arbeit aus dem Haus, die Kinder voller Sorge hinter sich lassend. Noch finden zahllose Versehrte nicht die menschlich mittragende Hilfe, die ihnen die körperlichen Leiden leichter macht. Noch stehen Hunderttausende, denen es besser geht als jenen, abseits, die mit dem Einsatz der „Politik des Herzens" den Alten, Kranken, den familienlosen Jungen viele dunkle Stunden des trüben Alltags erhellen und sie davor bewahren könnten, zu Feinden der Gesellschaft zu werden, mit Gott und der Welt zu hadern.
Auch für die auf der Schattenseite des Lebens Stehenden hat der erste Bundestag sehr große Anstrengungen gemacht und vielfältige Not bereits gelindert. Die Voraussetzung für weitere Erfolge ist und bleibt aber die Steigerung der Produktivität durch erhöhten Leistungswillen und erhöhter Ertrag, an dem alle teilhaben können. Es ist Sache der politischen Entscheidung, die noch vielfach umstrittenen, geeigneten Modalitäten zu finden, um gemeinsam auf dem Weg zu dem erstrebten Ziel fortzuschreiten. Auch das wird dazu beitragen, neben den zerstörten materiellen Werten die unersetzlichen inneren, die zerbrochenen menschlichen Werte wiederaufzurichten, indem wir Lebensbedingungen schaffen, in denen echte humane Gesinnung und Betätigung wieder gedeihen können. Daß dies möglich ist, meine Damen und Herren, beweist die ungebrochene deutsche Lebens-
kraft, die aus geistigen Quellen genährt wird und sich auch in die Leistung des letzten Werktätigen umsetzt.
Damit steht auch die Gestaltung des äußeren kulturellen Rahmens, des Erziehungs- und Bildungswesens in engem Zusammenhang. Das ist zwar nicht die unmittelbare Aufgabe der Bundesgesetzgebung im einzelnen, aber die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen sind für jedes Gesetz von Bedeutung, und so auch auf diesem Gebiet.
Aber, ich sagte es schon, Gesetze allein tun es nicht, sondern die persönliche Haltung jedes einzelnen in der Familie, in den Organisationen und, meine Damen und Herren, auch hier in diesem Hohen Hause ist letztlich entscheidend. Der Wahlkampf liegt hinter uns; die sachliche Arbeit beginnt. Schlagworte und Parolen haben ihren Wert und ihre Anziehungskraft verloren; Erfahrung, Kenntnisse, Erkenntnisse, Fähigkeiten und der Wille zur Duldsamkeit müssen an ihre Stelle treten und sollen sich bewähren. Ohne sie ist die Durchführung der uns gestellten Aufgaben unmöglich.
Und noch ein kurzes Wort zur Presse. Gestern fand sich in einer großen Tageszeitung eine Betrachtung mit der Überschrift „Start für den neuen Bundestag". Das Wort „Start" bedeutet, daß man zu einem Wettlauf angetreten ist. Meine Damen und Herren, treten wir diesen Wettlauf an um gute Gedanken und nicht um laute Worte, treten wir ihn an mit der Gesinnung der Loyalität auch gegenüber dem eventuellen Verlierer. Seien wir uns bewußt, daß die Presse mit ermunterndem Zuruf und ebenso mit ernster Kritik unsere Arbeit fördern kann und wir dafür dankbar sein müssen. Die Presse aber bedenke auch, daß sie mit willkürlich auf die Rennbahn gelegten Hindernissen nicht nur den einzelnen Läufer, nicht nur das ganze Team, sondern in unserem Fall ganz Deutschland zu Fall bringen kann.
Es bleibt mir noch, all jenen zu danken, die diesen erweiterten Raum, in dem wir jetzt tagen sollen, für uns mit bewundernswerter Pünktlichkeit in nie erlahmender Leistungsbereitschaft aller Beteiligten hergestellt haben.
Auch dieser Raum, meine Damen und Herren — und ich sage das offen, nicht nur als Berlinerin, sondern als Deutsche —, soll trotz aller darauf verwendeten Mühe nur provisorisch sein.
Wir haben noch kein gesamtdeutsches Parlament; aber wir werden es bekommen.
Wir werden es deshalb bekommen, weil wir in diesem gemeinsamen Willen zusammenstehen. Ich darf die Hoffnung aussprechen, die Sie gewiß alle mit mir teilen werden, daß der nächste Alterspräsident in der früheren Hauptstadt Berlin wieder den Deutschen Reichstag — oder wie immer er heißen mag — wird eröffnen können.
Meine Damen und Herren, wir werden es erreichen, wenn wir alle zu jeder Stunde des Wortes eingedenk sind: „Der Mensch hat immer noch Kraft genug, um das zu tun, was er als recht erkannt hat."
Leben und arbeiten wir in dieser Gewißheit, so können wir vielleicht hoffen, am Ende unseres Lebens mit dem Apostel Paulus im zweiten Brief an Timotheus sagen zu können: „Ich habe einen guten Kampf gekämpft."
Ich bitte nun den Schriftführer zu meiner Rechten, die Namen der entschuldigten Abgeordneten bekanntzugeben.