Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin genötigt, zunächst auf einen Vorfall einzugehen, von dem ich gehofft hätte, daß wir ihn heute nicht zum Gegenstand polemischer Ausführungen zu machen brauchten.
Als drei Vertreter der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion am Mittwoch vergangener Woche zu einer Unterredung beim Herrn Bundeskanzler waren, haben sie ihn darum ersucht, im Rahmen seiner Ausführungen in der heutigen Sitzung vor diesem Hause eine Feststellung zu treffen, die getroffen werden muß, wenn nicht wegen einer willkürlich vorgenommenen Berichtigung des Protokolls der Sitzung vom 10. Juni 1953 die damals gemachten. Ausführungen einen völlig falschen Sinn erhalten sollen.
Es handelt sich um folgendes. Im Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 107 vom 11. Juni 1953 wird die Regiegierungserklärung so wiedergegeben. wie sie dier Herr Bundeskanzler am 10. Juni 1953 abgegeben hat, und zwar offenbar nach dem Tonband bzw. dem ersten Exemplar des Stenogramms. Im Bulletin heißt es:
Und endlich ist im Potsdamer Vertrag festgelegt, daß die gegenwärtig tatsächlich bestehenden Grenzen im Osten als endgültige Grezen für Deutschland anerkannt werden sollen.
Demgegenüber lautet der Text des gedruckten Stenographischen Berichts, Seite 13 250 der 269. Sitzung des Bundestags vom 10. Juni 1953, wie folgt:
Endlich ist nach Auffassung Sowjetrußlands im Potsdamer Vertrag festgelegt . . .
Der Bundeskanzler hat mithin, ohne das vor dem Hohen Hause bis heute zu berichtigen, im amtlichen Stenographischen Bericht nachträglich die Worte „nach Auffassung Sowjetrußlands" hinzugesetzt, wodurch unserer Meinung nach in Widerspruch zu § 119 der Geschäftsordnung dier Sinn der Rede in diesem Teil geändert warden ist.
Die Sache hat deshalb eine gewisse Bedeutung, weil der Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion in seiner Rede, die im Protokoll wiedergegeben ist, auf 'das Bezug genommen hat, was der Bundeskanzler tatsächlich gesagt hat. Und der Kollege Dr. von Merkatz hat, nicht von dem, was der Bundeskanzler ,ausgeführt, sondern was dann im berichtigten Protokoll gestanden hat, ausgehend, seine polemischen Ausführungen gemacht.
Wir haben geglaubt, daß es nötig ist, diese Sache vor dem Hause in aller Form richtigzustellen, und hätten gewünscht, daß es uns erspart geblieben wäre, .das zu tun.
Meine Damen und Herren! Wir sind damit einverstanden, daß die beiden Gesetzentwürfe einem
Ausschuß überwiesen werden. Lassen Sie mich aber zu dem Teil, der hier heute zur Erörterung steht, noch ein Wort sagen. Wir haben nicht ohne Grund in unserem Gesetzentwurf vom 17. Juni als dem zu schaffenden nationalen Feiertag gesprochen. Es sollte nicht zu einer Sache des Gedenkens oder gar der Trauer werden. was Grund genug ist, uns den Kopf höher tragen zu lassen.
Niemand braucht sich seiner Tränen zu schämen. Die Opfer sind — darüber gibt es keine Meinungsverschiedenheit — eines ehrenden Andenkens gewiß. Aber es darf nicht zu einer wehleidigen Sache werden, was seinen geschichtlichen Sinn allein als Mahnung zum Kampf haben kann.
Die Tatsache, daß der Volksaufstand in Berlin und in der sowjetischen Zone vom 17. Juni 1953 in erster Linie das Werk der Arbeiterschaft war, verdient darum auch in diesem Zusammenhang noch einmal unterstrichen zu werden, weil in den vergangenen Jahren manch ungerechtes Wort über diese Arbeiter gesagt worden ist. als ob sie den Nacken unter das Joch der neuen Diktatur gebeugt hätten und als ob es sich bei ihnen um eine graue Masse ohne eigenen und echten Gestaltungswillen handelte. Diese Arbeiter eben haben sich nicht nur als Mitkämpfer, sondern als Vorkämpfer an der Spitze des Ringens um die Einheit in Freiheit bewährt. Sie haben, wie in allen großen revolutionären Krisen, den Kampf um ihre unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Forderungen mit den Interessen der gesamten Nation verknüpft und den Kampf um die Einheit, um unser zentrales nationales Anliegen auf eine höhere Ebene gehoben.
Wenn man nun den Zusammenhang zwischen den Geschehnissen des 17. Juni und der deutschen Außenpolitik betrachtet, über die ja heute nach der Wahlrede des Herrn Bundeskanzlers auch zu sprechen ist, dann möchte ich folgendes sagen. Man mag bisher über Prioritäten und über die Rangordnung der zu lösenden Probleme in der deutschen Politik und in der auf Deutschland bezogenen internationalen Politik gemeint haben, was man will; heute kann es unserer Meinung nach nur eine Meinung geben: Das Rinnen um die Wiedervereinigung in Freiheit hat den Vorrang vor allen anderen Vorhaben und Projekten außenpolitischer Art.
Das war immer die Meinung der sozialdemokratischen Fraktion. Aber wir sagen heute mit betonter Zuspitzung: uns liegt — gerade auch nach dem heroischen und tragischen Geschehen in der Zone — die gesamtdeutsche Haut näher als irgendein kleineuropäisches Hemd!
Die Ereignisse in der Zone haben ein weltweites Echo gefunden. Wir haben lesen können, daß diese Ereignisse für die Stellung Deutschlands und für das Vertrauen zu den demokratischen Kräften in unserem Volk mehr bedeutet hätten als alle Schritte der Bundesregierung zusammengenommen. Das würde übrigens auch dann richtig sein, wenn die Schritte der Bundesregierung wirksamer und erfolgreicher gewesen wären, als sie es waren
oder sein konnten. Wir haben aber in der internationalen Auseinandersetzung mit diesen Geschehnissen in der sowjetischen Besatzungsszone auch Kommentare lesen müssen, die uns sehr bedenklich gestimmt haben. Unter Berufung auf amtliche Kreise in einer westlichen Hauptstadt hieß es etwa, es sei ein kaum zu überbietender Beweis dafür erbracht worden, daß die Bevölkerung der Ostzone eine Wiedervereinigung unter Moskauer Vorzeichen ablehne. Das ist richtig; aber das ist doch nur die halbe Wahrheit. Dem muß doch die andere, die positive Hälfte hinzugefügt werden: Das Geschehen um den 17. Juni — d'as kann heute und hier nicht stark genug unterstrichen werden — hat den unerschütterlichen Willen der breiten, tragenden Schichten unseres Volkes zum Ausdruck gebracht, sich nicht auf die Dauer mit der willkürlichen Spaltung unseres Landes und unseres Volkes abzufinden.
Sie sind gewiß nicht für die Einheit unter bolschewistischem Vorzeichen, aber mit ganzer Leidenschaft und mit letzter Hingabe für die Einheit unter freiheitlichem Vorzeichen.
In diesem Zusammenhang ist nun die Frage zu stellen, und wir stellen sie: Hat es die Bundesregierung verstanden, diese Leidenschaft und diese Hingabe für das zentrale nationalpolitische Ziel der Wiedervereinigung auch im deutschen Westen zu wecken? Wenn sie es getan hätte, wäre der gegenwärtige Bundesratspräsident kaum auf den Gedanken gekommen, dieser Tage die Matten und Lauen so streng zu tadeln
und davon zu sprechen, daß der Gedanke an ganz Deutschland für viele in einem Kühlschrank eingeschlossen zu sein scheine. Reinhold Maier
hat in Lübeck davon gesprochen. daß eine ganze Technik des die Wiedervereinigung nur im Munde Führens ausgebildet worden sei. Weil wir den Eindruck haben, daß diese harte Kritik nicht aus der Luft gegriffen ist, will es uns richtig erscheinen, unsere Argumente nicht in Watte einzupacken, sondern .die Auseinandersetzung mach der Begründung unserer Anträge so zu führen, daß aus der lebendigen Auseinandersetzung womöglich neue Energien für das Ringen um dieses unser zentrales Ziel entwickelt werden können.
Skepsis ist notwendig, Mißtrauen ist gewiß berechtigt gegenüber solchen Tastversuchen — oder vielleicht auch mehr — wie dem Programm des sowjetischen Hohen Kommissars Semjonow. Wir kommen allerdings nicht weiter mit dem Zögern und Zagen derer, die offenbar keine größere Sorge haben als die, daß die ihnen lieb gewordenen Pläne durch eine erfolgreiche Politik der Wiedervereinigung über den Haufen geworfen werden könnten.
Das von uns immer und jetzt erstrebte Höchstmaß an Gemeinsamkeit in gesamtdeutschen Fragen setzt mehr voraus als Gemeinsamkeit der symbolischen Gesten und der allgemeinen Bekenntnisse,
also auch mehr als die fünf Punkte vom 10. Juni dieses Jahres.
Wir sagen, es bedarf der Verständigung, wo immer möglich, der Einigung, über die Ziele und Methoden, über die Rangordnung der Probleme und die Reihenfolge der Aktionen. 'Da ergibt sich nun die Frage: Stehen wir alle in diesem Hause zu den Beschlüssen, die dieses Haus gefaßt hat; oder es gibt vielleicht Teile des Hauses, die sich die Auslegungen in der vorigen Nummer des „Rheinischen Merkur" zu eigen machen, eines Organs, das doch vielfach als dem Herrn Bundeskanzler nahestehend betrachtet wird? Dort wird wiederum, wie schon im Herbst 1951 nach den damaligen Beschlüssen des Bundestages, das böse Wort von dem zu befürchtenden ..gesamtdeutschen Elend" kolportiert.
Dort wird gegen gesamtdeutsche Wahlen als ersten Schritt auf dem Wege zur Wiedervereinigung und gegen eine souveräne Nationalversammlung Stellung bezogen.
wenn man eine neue politische Entschließung hier einbringt. Denn, Herr Kollege Schröder, in bezug auf einen Kernpunkt dessen, was wir jedenfalls für nötig halten, stellt Ihr sogenannter Änderungsantrag eine für uns unakzeptable Abschwächung dar. Sie sprechen allgemein von irgendwelchen Verhandlungen. Wir sagen konkret, daß es nach den Westmächteverhandlungen einer sofortigen Initiative und eines Hinwirkens der deutschen Politik auf Viermächteverhandlungen bedarf.
Davon werden wir uns nicht abbringen lassen. Wenn wir uns darüber nicht verständigen können, werden wir uns eben heute in dieser Debatte überhaupt nicht verständigen.
Wer A sagt, der muß auch B sagen. Wer den Vorrang der Wiedervereinigung anerkennt,
der kann zu Viermächteverhandlungen nicht nein sagen.
Denn wie anders als durch Krieg einerseits oder durch Viermächteverhandlungen andererseits wollen Sie dieses Ziel erreichen?
Der Herr Bundeskanzler hat dieser Tage in einer Rede, ich glaube, in Watenstedt-Salzgitter, gesagt, es sei eine krasse Unwahrheit, daß er Viermächteverhandlungen nicht wolle.
Die beste Art, solche offenbar falschen Eindrücke, die gerade auch außerhalb Deutschlands entstanden sind, aus dem Wege zu räumen, wäre doch gewesen, daß der Herr Bundeskanzler, wenn es eine krasse Unwahrheit ist, daß er gegen Viermächteverhandlungen sei, mit seinen Freunden dem sozialdemokratischen Antrag für Viermächteverhandlungen seine Zustimmung gegeben hätte.
Es ist doch schade, daß auch viele angesehene Organe der internationalen Presse offenbar einem ernsten Irrtum unterlegen sind, Herr Bundeskanzler. So haben doch bis in die letzten Tage angesehene Organe der internationalen Presse vielfach die Version vertreten, der deutsche Bundeskanzler habe bei seinen Kontakten mit den anderen Mächten nicht für, sondern eher gegen ein rasches Zustandekommen von Viermächteverhandlungen gewirkt.
Gerade aber über die Notwendigkeit raschen Handelns sollte keine Unklarheit aufkommen. Die Arbeiter in der Zone haben den Zeitpunkt erkannt, an dem ihre spontane Aktion einsetzen konnte. Jetzt gilt es, in der westlichen Welt den Zeitpunkt zu erkennen — und der Zeitpunkt ist gekommen —, zu dem die Frage Deutschland auf internationaler Ebene, wenn irgend möglich, ihrer Lösung entgegengeführt werden kann.
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat am 24. Juni 1953 aus Paris zu berichten gewußt, der Herr Bundeskanzler habe nach zuverlässigen Informationen zu verstehen gegeben, daß der Westen eine Viermächtekonferenz mit der Sowjetunion nicht überstürzen solle. Ich behaupte nicht, daß der Berichterstatter der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" recht hat. Aber es ist doch eigenartig, daß der Herr Bundeskanzler immer wieder von der Presse mißverstanden wird und sich deshalb immer wieder genötigt sieht, sich gegen „krasse Unwahrheiten" zu verwahren. Der Gedanke, man solle sich Zeit lassen, ist übrigens
auch von anderer Seite entwickelt worden. Als unmittelbare Reaktion auf die Geschehnisse des 17. Juni wurde am 18. Juni aus Washington gemeldet, die Vorgänge in Berlin und in der Zone schienen die Position 'derjenigen Politiker gestärkt zu haben, die sich wenig von einem baldigen Treffen der westlichen Regierungschefs mit Malenkow versprächen.
Man solle — so hieß es dort — gewisse Entscheidungen ausreifen lassen, sonst werde man womöglich durch eine Viermächtekonferenz zu einer Stärkung der sowjetischen Position beitragen.
Lassen Siè mich dazu folgendes sagen. Erstens: Gerade nach den Ereignissen des 17. Juni und angesichts der Repressalien muß allen Ernstes der Versuch gemacht werden, ob trotz aller Schwierigkeiten der Weg nicht irgendwann, sondern jetzt geebnet werden kann zu einer Entspannung zwischen den Mächten, die Deutschland besiegt und besetzt haben und ohne deren Übereinkunft wir nicht die Einheit und den Frieden haben werden. Zweitens: Angesichts des eindringlichen Appells aus der Zone, den niemand von uns überhört haben dürfte, kann man nicht sagen, erst müsse sichergestellt sein, daß Verhandlungen auch zu einem positiven Ergebnis führten. Man kann das Ergebnis von Verhandlungen nicht gut vorwegnehmen wollen.
Natürlich ist niemand von uns, von der sozialdemokratischen Fraktion töricht genug, zu behaupten, daß ein positives Ergebnis sicher sei. Wir sind alle mit reichlicher Skepsis gewappnet. Aber neben der Skepsis und neben 'dem Mißtrauen steht doch die Erkenntnis, daß der ernste Versuch zu Verhandlungen unternommen und rasch unternommen werden muß.
Demgegenüber zieht nicht das Gegenargument des „Economist" und des „Wallstreet Journal", man müsse dem Bundeskanzler bis nach den Bundestagswahlen Zeit lassen.
Wort! Hört! bei der SPD.)
Die deutsche Einheit ist wichtiger als die Wahlsorgen des gegenwärtigen Herrn deutschen Bundeskanzlers!
— Ich habe meine Antwort auf die Äußerungen der auch Ihnen bekannten Organe der englischen und amerikanischen Presse — die jeder von Ihnen, wenn er will, nachlesen kann — hier in der Deutlichkeit gegeben, die uns unerläßlich schien.
Drittens zu dem Argument, daß es nicht so eilig sei. Wir können nicht mit gutem Gewissen die 18 Millionen in der Ostzone auf den SanktNimmerleins-Tag vertrösten.
— Es sieht so aus, als ob sich Mitglieder dieses Hauses durch diese meine Feststellung getroffen fühlten.