In der Woche nach Pfingsten hatte eine ganze Reihe von Bundestagsabgeordneten, Mitglieder des Heimatvertriebenenausschusses, Gelegenheit, das Jugendlager in Kladow der Berliner Arbeiterwohlfahrt zu besichtigen und dort mit ungefähr 850 jungen Menschen zusammenzukommen, sie in ihren Unterkünften, in den Werkstätten, draußen auf den freien Plätzen zu beobachten. zu sehen, wie sie lebten und wie sie sich bewegten. Ich habe also hier eine ganze Reihe von Zeugen, die bestätigen können, daß es ein unerhörter und plumper Schwindel ist, wenn die Sowjetzonenpresse behauptet, diese Jugendlichen hätten hinter Stacheldraht gesessen.
Nun zu dem Antrag! Der vorliegende Antrag ist von allen Fraktionen mit Ausnahme der kommunistischen Gruppe eingereicht worden, weil wir alle davon überzeugt sind, daß es unbedingt notwendig ist, so schnell wie möglich alle nur erdenkbaren Maßnahmen zur Eingliederung der jugendlichen Sowjetzonenflüchtlinge zu finden und zu verwirklichen. Der Antrag wird um so notwendiger, wenn man durch Gespräche mit diesen Jugendlichen, durch enge Fühlungnahme, durch Rücksprache mit dem Lagerpersonal und der Lagerleitung und all den Menschen, die mit diesen Jugendlichen zu tun haben, die Überzeugung gewinnt, daß wir es hier mit jungen Menschen zu tun haben, die nicht nur jeden Vergleich mit dem Durchschnitt der westdeutschen Jugend aushalten, sondern die darüber hinaus als besonders aktiv, arbeitsfreudig und zielstrebig zu bezeichnen sind.
Gewiß, es sind tatsächlich hinsichtlich der Unterbringung und der Betreuung Pannen vorgekommen. Aber für diese Pannen ist nach meinen eigenen Feststellungen niemand in der Bundesregierung verantwortlich zu machen. Diese Pannen sind darauf zurückzuführen, daß infolge der Maßnahmen in der sowjetischen Besatzungszone der Strom der Jugendlichen in überraschender Weise angeschwollen ist. Im Februar haben sich z. B. 2561 jugendliche Sowjetzonenflüchtlinge gemeldet; im März waren es 5855. Naturgemäß konnte das Lagerpersonal nicht plötzlich so verstärkt werden, daß es allen Ansprüchen hätte gerecht werden können. Es konnte die einzelnen in dieser Zeit des großen Ansturms nicht so erfassen, behandeln und betreuen, wie es im Interesse der jungen Leute, aber auch in unserem allgemeinen Interesse notwendig gewesen wäre. Man hat, ohne Schulbildung, angefangene oder bereits beendete Berufsausbildung, Anlage oder Neigung zu berücksichtigen, die jungen Menschen auf die Länder bzw. die Arbeitsämter der einzelnen Länder verteilt, damit sie im Bergbau oder in der Landwirtschaft untergebracht wurden. Das war nicht immer das Richtige. Aber inzwischen haben sich die Verhältnisse erfreulicherweise gebessert.
Im Lager Sandbostel, in diesem großen Aufnahmelager hier in der Bundesrepublik, versucht tatsächlich das verstärkte Lagerpersonal und versuchen Lagerleitung, Aufnahmeausschüsse, Berufsberater und Arbeitsvermittler, verantwortungsbewußt ihre Schuldigkeit zu tun. Dabei freut es mich, die Arbeiten der Kirchen und der Verbände erwähnen zu dürfen. Natürlich muß noch manches geändert und gebessert werden.
In Berlin hat man sich bemüht, den Aufenthalt der Jugendlichen, der ja für die weibliche Jugend in der Großstadt besonders gefährlich ist, möglichst abzukürzen, und man hat auch erreicht, daß die Registrierung sehr rasch nach der Ankunft durchgeführt wird. Aber es wird doch vielerseits behauptet, daß man die Zeit von der Registrierung bis zum Abflug noch müsse verkürzen können. Ich glaube das Augenmerk der verantwortlichen Stellen auf diesen Punkt hinweisen zu müssen.
In Sandbostel bleiben die Jugendlichen im Durchschnitt 8,5 Tage, in Westertimke die jungen Mädchen nur 7,8 Tage. Dabei sind schon mitgezählt der Tag des Anflugs, der Tag der Abreise, ein Sonntag und ein halber Samstag, so daß für Aufnahme, Berufsberatung und Arbeitsvermittlung praktisch nur vier bis fünf Tage übrigbleiben. Schneller wird man in diesen Lagern nicht arbeiten können.
Der Punkt unseres Antrages, in dem eine Erhöhung der Zahl der Jugendpfleger oder -betreuer verlangt wird, ist für die beiden großen Aufnahmelager bereits erledigt. Er wird aber noch Gültigkeit haben für die Landeslager. Ob die eingesetzten Arbeitsvermittler wirklich immer als Jugendvermittler anzusprechen sind, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich habe meine Zweifel und wünschte, daß die Arbeitsverwaltung sich hierfür besonders interessierte.
Die Zahl der Berufsberater ist ohne Zweifel zu niedrig. Ein männlicher und ein weiblicher Berufsberater in einem großen Lager genügen nicht, besonders dann nicht, wenn sich Jugendliche nur wenige Tage in dem Lager aufhalten.
Der Antrag, die Lagerdienste der Jugendverbände und die Einrichtungen der Jugendwohlfahrt zu fördern, wird insbesondere für die Landeslager zutreffen. Wenn sich ein Jugendlicher in Berlin in der Kuno -Fischer-Straße gemeldet hat, von dort in ein Jugendlager gekommen ist und den ärztlichen Dienst, die Schirmbildstelle, die Sichtungsstelle und die Polizei passiert und seine Registrierung erhalten hat und wenn er dann seinen Ausweis und seine Flugpapiere bekommen hat und in Hannover angekommen ist, so hat er praktisch in verhältnismäßig kurzer Zeit den Weg von der Sowjetzone in den Westen zurückgelegt. Wie ich eingangs schon erwähnt habe, hat er besonderes Glück und kann wohl zufrieden sein, wenn er in Berlin ein Lager bekommt, wie es in Kladow von der Arbeiterwohlfahrt eingerichtet wurde, ein Lager, in dem er nicht nur eine gute Unterkunft, Verpflegung und Betreuung erhält, sondern — und darauf möchte ich besonders hinweisen — in dem man durch die Einrichtung von Lehrwerkstätten versuchen will, ihm, wenn er nur noch einige Wochen oder Monate braucht, um seine Lehre zu beenden, diese Vervollständigung seiner Ausbildung zu gewähren.
Wir wünschen — und gerade meine Fraktion legt besonderen Wert darauf, es zu betonen —, daß man für diese Zwecke keine Beträge spart, sondern daß man möglichst viele Berufsausbildungsmöglichkeiten schafft.
Bei der Verteilung der Jugendlichen auf die einzelnen Länder — das erwähnte ich vorhin schon —sind insofern Pannen vorgekommen ,als man zu wenig Rücksicht auf die Vorbildung, auf ihre Ausbildung, die sie mitbrachten, nahm. In ganz vorzüglicher Weise arbeitet, wie mir scheint, das Landesarbeitsamt des Südweststaates Baden-Württemberg. Dieses Landesarbeitsamt schickt seine Beamten in das Lager, wirbt die Jugendlichen an, versucht, diese Jugendlichen möglichst genau während des Lageraufenthalts und während der Fahrt kennenzulernen. Die Beamten kennen die Bauern, denen sie die Jugendlichen zuführen wollen, und so wird erreicht, daß wirklich zueinander passende Menschen zusammenkommen. Außerdem wird von den Arbeitsämtern dieses Landesarbeitsamts eine intensive nachgehende Betreuung durchgeführt. Soviel ich weiß, geschieht etwas Ähnliches auch bei den anderen Landesarbeitsverwaltungen; aber ob die nachgehende Betreuung immer so intensiv ist, erscheint mir fraglich. Auch das ist ein Punkt, der eine besondere Aufmerksamkeit verdient.
Für Oberschüler und Studenten, für Fachschüler, die ihre Ausbildung unterbrechen mußten, für alle diejenigen, die ein Studium in der Bundesrepublik beginnen möchten und die jetzt allein auf die Bemühungen des Akademischen Hilfswerks Braunschweig angewiesen sind, ist noch manches zu tun übrig. Man sollte für diese Zwecke, wie es der Ausschuß für Fragen der Jugendfürsorge in seinem Antrag verlangt, bedeutend mehr tun, als bisher geschehen ist. Es darf unserer Überzeugung nach nicht vorkommen, daß auch nur einem Jugendlichen der Weg in die Zukunft gehemmt wird, für die er sich bestimmt glaubt.
Es darf nicht vorkommen, daß auch nur eine Lehrwerkstätte Monate hindurch offene Plätze aufweist und daß auch nur ein Jugendwohnheim — in welchem Lande es immer liegen mag — nicht voll belegt ist. Ich kenne leider soundso viele Lehrwerkstätten, die nicht voll ausgelastet sind, und ich kenne leider auch ein Jugendheim, in dem man seit Monaten vergeblich bemüht ist, 15 noch freie Plätze auszufüllen. Ich fürchte, daß es noch mehr unterbelegte Heime und Werkstätten gibt, und bitte daher die Bundesregierung, die Regierungen der Länder, die Gemeinden und Organisationen, Sorge dafür zu tragen, daß diese Plätze zweckmäßig ausgefüllt werden. Wenn ich dann weiter erfahren habe, daß ein Heim, das aus Bundesjugendplanmitteln errichtet wurde und dazu bestimmt war, Jugendliche, die in der Landwirtschaft tätig sind, aufzunehmen, jetzt dazu dient, für Nordrhein-Westfalen bestimmte Jugendliche so lange zu beherbergen, bis sie abberufen werden — und das in einem Land, in dem man über Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitern klagt, in Niedersachsen —, so zweifle ich doch sehr daran, ob diese Zweckentfremdung angebracht ist.
Ich weiß weiter von Jugendgemeinschaftswerken, die von kommunalen Verbänden eingerichtet wurden, aber aus Mangel an Mitteln wieder eingehen mußten. Ich weiß auch von Gegenden, in denen vorwiegend Kleinbauern leben, die es begrüßen würden — da sie sich verheiratete landwirtschaftliche Kräfte nicht leisten können —, wenn ihnen Jugendliche, die in einem zentral gelegenen Heim unterzubringen wären, helfen könnten.
Deshalb unterstütze ich mit meinen Parteifreunden gerne den vorliegenden Antrag und erwarte ein planvolles und aktives, unbürokratisches und von Verantwortungsbewußtsein getragenes Zusammenwirken aller im Bund, in den Ländern, Gemeinden, Körperschaften und Organisationen tätigen Kräfte, um der Not der betroffenen Jugend zu steuern. Wir sind uns darüber klar, daß wir nicht der Jugend, auch nicht einer streunenden, verwahrlosten, einer kriminellen oder gefährdeten Jugend, irgendwelche Schuld geben können. Wir sollten auch nicht von einer äußeren Schuld sprechen, solange wir nicht alles in unseren Kräften Stehende getan haben. So halten wir es für unsere moralische Pflicht, der Jugend möglichst günstige Wachstumsbedingungen zu schaffen, und für unsere politische Pflicht, daran zu denken, daß vorbeugende Fürsorge immer billiger ist als heilende, daß die Jugend ein Vermögen ist, das wir achten müssen, ein Vermögen, das später einmal unser Volk erhalten und den Lebensstandard unseres Volkes erhöhen soll.
Deswegen geben wir dem vorliegenden Antrag nicht nur unsere Zustimmung, sondern fordern vielmehr, daß die beantragten Maßnahmen so rasch wie irgend möglich durchgeführt werden.