Rede von
Dr.
Hermann Louis
Brill
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf ist in der 229. Sitzung des Deutschen Bundestages am 11. September vorigen Jahres in erster Lesung behandelt worden. Dabei hat eine Aussprache nicht stattgefunden. Das hat die beteiligten Ausschüsse, nämlich den Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht und den Auswärtigen Ausschuß, insofern in eine schwierige Lage gebracht, als sie Ihnen Vorschläge unterbreiten sollen in Fragen, die von grundsätzlicher staatsrechtlicher und strafrechtlicher Bedeutung sind.
Der Rechtsausschuß hat am 28. November zum erstenmal über den Gegenstand verhandelt und als solche Fragen angesehen die Frage der Auslieferung politischer Verbrecher — Art. 4 des Vertragswerks —, die Auslieferung von Verbrechern, an denen in Frankreich die Todesstrafe vollzogen werden kann — Art. 18 des Vertragswerks —, die Frage der räumlichen Geltung des Vertragswerks in der Form der Anwendung des Vertrages auf Berlin — Art. 22 — und die Frage, wie Vergehen und Verbrechen, die vor dem 8. Mai 1945 begangen worden sind, nach Art. 23 dieses Vertrages behandelt werden sollen. Im Anschluß daran hat der Ausschuß die Frage des Verhältnisses von Bund und Ländern im Ausführungsverfahren geprüft.
Wenn ich in dieser Reihenfolge auf die kritischen Punkte eingehen darf, so erlaube ich mir, Ihnen folgendes darzulegen.
In Art. 4 des Vertrages — Seite 3 .der Drucksache Nr. 3599 — wird der Grundsatz aufgestellt, daß bei politischen Straftaten eine Auslieferung nicht stattfindet. Abs. 2 macht jedoch zwei Ausnahmen. Er bezeichnet, was nicht als politische Straftat angesehen werden soll, und sagt unter Nr. 2: „Als politische Straftat wird nicht angesehen ein Angriff gegen das Leben eines Staatsoberhauptes oder eines Mitglieds der Regierung." Diese Ausnahme, meine Damen und Herren, steht in offenem Widerspruch zu dem noch in Geltung befindlichen deutschen Auslieferungsgesetz vom 23. Dezember 1929. Dort heißt es in § 3 Abs. 2:
Politische Taten sind die strafbaren Angriffe, die sich ... unmittelbar gegen das Oberhaupt oder gegen ein Mitglied der Regierung des Staates als solches richten.
Zwischen diesem geltenden deutschen Gesetzesrecht und dem vorgetragenen Vertragsrecht des deutsch-französischen Auslieferungsvertrages besteht also ein offener Widerspruch. Der Ausschuß
hat durch Befragung der Regierungsvertreter versucht, diesen Wiederspruch zu klären. Die Regierungsvertreter haben zur Rechtfertigung der Vertragsbestimmungen darauf hingewiesen, daß sie sich während der Verhandlungen durchaus auf dem Boden des deutschen Auslieferungsgesetzes bewegt hätten. Sie seien jedoch von französischer Seite darauf hingewiesen worden, daß es in der französischen Gesetzgebung a) keine Legaldefinition des Begriffs „politische Straftaten" gibt und .daß b) die französischen Rechtsauffassungen, wie sie von der Regierung und von den Gerichten vertreten werden, außerordentlich stark schwanken, nicht präzise erfaßbar sind und sich überhaupt je nach der Lage des Falles in ein mystisches Dunkel hüllen. Man hat also dann der französischen Auffassung, diese Formel zu wählen, nachgegeben.
Ähnliche Widersprüche, aber noch schwerwiegenderer Art, liegen zwischen .dem Art. 18 des deutschfranzösischen Auslieferungsabkommens und dem Art. 102 unseres Grundgesetzes vor. Der Widerspruch betrifft die Anwendung der Todesstrafe. Art. 102 des Grundgesetzes verbietet die Todesstrafe, und dieser Bundestag hat in drei Abstimmungen die Aufrechterhaltung dieses Verbots mit großer Mehrheit bestätigt. Nach Art. 18 des deutschfranzösischen Auslieferungsabkommens aber soll die Todesstrafe an einem Menschen, der von der Bundesrepublik Deutschland an die französische Republik ausgeliefert wird, möglich sein. Frankreich hat nur zugestanden, daß die Bundesrepublik eine Empfehlung abgeben kann, im Falle einer Verurteilung zum Tode das Todesurteil durch die Gnadeninstanz in die nächst niedere Strafe umzuwandeln. Ob das tatsächlich eine Änderung in der Sache bedeutet, muß bezweifelt werden. Denn
die Umwandlung in die nächst niedere Strafe wäre lebenslängliche Zwangsarbeit, vielleicht vollzogen in Cayenne, und ob ,das eine Milderung gegenüber dem Vollzug der Todesstrafe an einem Verurteilten bedeutet, kann füglich bestritten werden. Weiter aber ist in den Ausschußberatungen zutage getreten, daß sich diese Empfehlung, die Deutschland bei der Auslieferung abgeben könnte, nur an den Präsidenten der Französischen Republik richtet, also unbrauchbar wird in einem Verfahren, das vielleicht in ein militärgerichtliches umgewandelt wird und in dem der Gerichtsherr darüber zu entscheiden hat, ob die Todesstrafe zu vollstrecken ist oder ob sie in die nächst niedere Strafe umgewandelt werden kann.
Dieser Widerspruch zwischen Art. 102 unseres Grundgesetzes und Art. 18 des Auslieferungsvertrages schien dem Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht einer weiteren Erörterung wert. Diese Erörterung ist unter dem Gesichtspunkt angestellt worden, daß ,die Vorteile, die durch den Vertrag eintreten, abgewogen werden sollten gegen die unleugbaren Nachteile, die ich eben darzustellen die Ehre hatte.
Die Vorteile, die der Vertrag bringt, liegen in folgendem: Der jetzige Zustand, daß der französischen Regierung durch ihre Besatzungsbehörden jeder Zugriff möglich ist, wird beendet. Es wird ein vertraglich geregelter Rechtszustand geschaffen, und es wird ein Auslieferungsverfahren eingeführt, in dem die Bundesrepublik Deutschland bestimmte Rechte hat. Unter dem gesamten politischen Aspekt der Entwicklung seit 1949 schien dem Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht der so erreichte Fortschritt im Rechtsverhältnis zwischen der Französischen Republik und der Bundesrepublik
Deutschland so groß, daß er glaubt, dem Hause empfehlen zu sollen, die unleugbaren Nachteile des Art. 4 und des Art. 18 des Vertrages in Kauf zu nehmen.
Weiter hat sich die Frage erhoben, wie nach Art. 22 in Verbindung mit dem Briefwechsel vom 28. und 29. November 1951 Berlin behandelt werden sollte.
In Art. 22 Abs. 2 ist die Ausdehnung des Auslieferungsvertrags auf andere Gebiete vorgesehen. Aus den Motiven und den Berichten der Herren Regierungsvertreter ergab sich, daß unter diesen anderen Gebieten Gebiete der Französischen Union mit Protektorats- oder anderem kolonialem Charakter verstanden werden sollen. So schien es dem Rechtsausschuß und dem Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten rechtlich und moralisch völlig unmöglich, die Frage der Einbeziehung des Gebiets von Berlin unter dem eben skizzierten Gesichtspunkt des Art. 22 Abs. 2 zu behandeln. Zudem ist ja auch in dem Briefwechsel bereits ausgesprochen, daß die Unterhändler, die den Vertrag zustande gebracht haben, einer Ausdehnung auf Berlin nicht abgeneigt sind. Und in dem Katalog derjenigen Rechtsgegenstände, die nach Anlage 3 des Deutschlandvertrags künftig durch die Gesetzgebung der Bundesrepublik auf Berlin ausgedehnt werden sollen, findet sich auch das Auslieferungswesen.
Wir waren also im Ausschuß in einer sehr guten Position, wenn wir verlangten, daß in dieser Frage unverzüglich Klarheit geschaffen werde. Nach Erklärungen der Vertreter des Berliner Senats waren im November vorigen Jahres bereits Verhandlungen zwischen dem Senat und der Alliierten Kommandantur im Gange, durch die die Ausdehnung des Vertragswerks auf Berlin erreicht werden sollte. Diese Verhandlungen sind inzwischen zu einem günstigen Abschluß gekommen. Ich bin in der glücklichen Lage, Ihnen die Mitteilung der Alliierten Kommandantur Berlin vom 19. Dezember 1952, die mir der Herr Senator für Bundesangelegenheiten hat zugehen lassen, bekanntgeben zu können. Ich glaube nicht, daß es notwendig ist, hier den Wortlaut zu verlesen. In dieser Erklärung der Alliierten Kommandantur in Berlin vom 19. Dezember 1952, Aktenzeichen Bk/L 52 Nr. 128, wird die Bereitschaft der Kommandantur ausgedrückt, nach Inkrafttreten des Ratifikationsgesetzes das Auslieferungsverfahren zwischen Berlin und der Französischen Republik nach Maßgabe dieses Vertrages zu behandeln. Ich glaube sagen zu dürfen, daß das ein außerordentlich erfreulicher Rechtszustand ist, der ja ohne diese Erklärung zu weitreichenden völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Überlegungen Anlaß gäbe und vielleicht von beiden Gesichtspunkten her in Frage gezogen werden könnte.
Der letzte kritische Punkt, der behandelt wurde, war der Art. 23 des Vertrags, der sagt, daß der Vertrag auf strafbare Handlungen Anwendung findet, welche nach dem 8. Mai 1945 begangen worden sind. Aus diesem Wortlaut ergibt sich die Frage, wie es mit den strafbaren Handlungen steht, die vor diesem Tage begangen worden sind. Sie fallen fraglos nicht unter den Vertrag. Nach der Erklärung des Vertreters des Herrn Bundesministers der Justiz ist in allen solchen Fällen eine vertragslose Einzelregelung notwendig.
Für diese Einzelregelung ist von besonderer Bedeutung die Frage der sogenannten Kriegsver-
brecher. Der Ausschuß hat sich mit dem theoretischen Fall befaßt, daß ein rein krimineller, nicht politischer Kriegsverbrecher-Fall, der von der französischen Seite als Mord deklariert wird, von deutscher Seite als politisch angesehen wird. Dem Ausschuß ist die Erklärung abgegeben worden, diese Frage sei durch einen besonderen Briefwechsel zwischen dem Herrn Bundeskanzler und den französischen Stellen zu regeln. Auf jeden Fall steht nach dem Deutschland-Vertrag fest, daß für die Aburteilung von Kriegsverbrechern im echten Sinne nach Inkrafttreten des Deutschland-Vertrags allein die deutsche Zuständigkeit gegeben sein wird.
Der Auswärtige Ausschuß hat dieses Verhandlungsergebnis des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht gebilligt. Er hat nur auf eine Fortentwicklung in der Frage der Einbeziehung Berlins in den Geltungsbereich des Ratifikationsgesetzes und für die Anwendung des Vertragswerks Wert gelegt. Entsprechend dem technischen Vorgang der Gesetzgebung beim Deutschland-Vertrag hat der Auswärtige Ausschuß vorgeschlagen, auch den Briefwechsel vom 28. und 29. November 1951 zum Gegenstand des Ratifikationsgesetzes zu machen. Sie finden deshalb in der Spalte 2 in Art. 1 des Ratifikationsgesetzes auch die Erwähnung dieses Briefwechsels.
Namens der beiden Ausschüsse habe ich Ihnen vorzuschlagen, dem Ratifikationsgesetz in der Form, wie sie der Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht empfiehlt, Ihre Zustimmung zu geben.