Rede von
Dr.
Gerhard
Kreyssig
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie wissen aus der Debatte vom Mittwoch voriger Woche, daß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion den eingebrachten Antrag mitunterstützt hat und ihn heute auch gutheißt. Trotzdem halte ich es für angebracht, etwas, was der Kollege Preusker — den ich heute nicht im Saale sehe — an einem Beispiel vorgetragen hat, richtigzustellen, um für alle, die vielleicht zunächst über die Folgen des Schumanplans etwas zu leichtfertig oder unvollkommen nachgedacht haben, dieses Beispiel zahlenmäßig zu berichtigen.
Das Beispiel, das ich Ihnen gebe und aus dem erklärlich wird, warum wir dieses Gesetz hier beschließen müssen, hat einen großen Vorzug: es ist dem Beratenden Ausschuß der Montanbehörde vorgetragen worden, ist von der Hohen Behörde geprüft und für richtig befunden worden. Es gibt also seitens der obersten Instanz, die wir auf dem Sektor von Stahl und Kohle haben, keine Möglichkeit, das Beispiel anzufechten oder als falsch zu erklären.
Die Situation, in der wir stehen, solange das heute zu beschließende Gesetz nicht in Kraft tritt, ist die folgende: Wenn wir davon ausgehen, daß eine Tonne Stabstahl einen Grundpreis von 410 DM hat, dann bekommt der deutsche Exporteur bei der Ausfuhr dieses Stabstahls nach Frankreich eine Rückvergütung von 16,40 DM. Da nach dem Montanvertrag — Art. 4 — verboten ist, daß eine Rückvergütung, die der Exporteur bekommt, dem Käut fer nicht zugute kommt, muß also der deutsche Stahl in Frankreich mit 393,60 DM angeboten werden.
Nun wissen Sie hoffentlich aus der Debatte voriger Woche, daß wir, obwohl von einem „gemeinsamen" Markt gesprochen wird, die groteske Situation haben, daß der deutsche Stahl in dem Augenblick, wo er über die französische Grenze geht, in Frankreich mit 20 % Produktionssteuer belastet wird. Das heißt, die Tonne deutschen Stabstahls kommt in Frankreich auf 473,32 DM zu stehen.
Nun kommt das Gegenbeispiel, nämlich wenn französischer Stahl in die Bundesrepublik exportiert wird, wobei das „Exportieren" eben eine groteske Sache ist, wenn man vermeintlich einen gemeinsamen Markt hat, auf dem ein einheitlicher neuer schöner europäischer Geist herrschen soll. Von Frankreich nach Deutschland sieht die Gegenrechnung folgendermaßen aus, wenn ich wiederum 410 DM als Grundpreis zugrunde lege: Der Preis wird um 16 % Produktionssteuer in Frankreich verringert, die der französische Exporteur vom französischen Staat zurückbekommt und die er nun ebenfalls nach Art. 4 des Montanvertrags dem deutschen Käufer nicht anrechnen darf. Diese Preisreduktion das kann jeder nachrechnen — macht 65 DM aus. Das heißt also, der französische Stahl wird mit 345 DM in der Bundesrepublik angeboten. Wird er in der Bundesrepublik von deutschen Abnehmern gekauft, kommen darauf 6 % Umsatzausgleichsteuer, also 20,50 DM.
Damit haben wir auf dem Gemeinsamen Markt dieser angeblich so schön funktionierenden Europäischen Gemeinschaft die Situation, daß der deutsche Stahl mit dem gleichen Grundpreis wie der französische Stahl in Frankreich 473,32 DM kostet und der französische Stahl bei uns 365,50 DM. Es gehört wohl wenig Überredung und Phantasie dazu, sich klarzumachen, was das bedeutet. Es bedeutet, daß wir ohne das Gesetz, das wir heute beschließen, Gefahr laufen, in kurzer Zeit 30-, 40-, 50 000 arbeitslose Stahlarbeiter an der Ruhr zu haben. Ja, es bedeutet sogar, daß der deutsche Stahl am Hochofen, wenn er verhüttet ist, von der französischen Konkurrenz geschlagen wird, und zwar aus einem merkwürdigen Grund: Obwohl im Montanvertrag der richtige Grundsatz aufgestellt worden ist, daß es Diskriminierungen nicht mehr geben dürfe, wird hier infolge der Nichtveränderung der steuerlichen Methoden und Grundlagen zwar eine Diskriminierung aufgehoben, die entstanden wäre, wenn man jemandem einen Preis anrechnete, der einen erheblichen Teil Steuern enthielte, die man nachher in seine eigene Tasche zurückbekäme. Aber diese Methode der Aufhebung einer „Diskriminierung" bedeutet zugleich eine produktionsmäßige und konkurrenzmäßige Diskriminierung der gesamten deutschen Stahlindustrie.
Meine Damen und Herren, ich möchte mit allem Nachdruck erklären, daß die sozialdemokratische Opposition nur Besorgnis und Unruhe verspürt angesichts der Tatsache, daß nach diesem denkwürdigen 1. Mai, der für die Bundesrepublik eine besondere Bedeutung bekommen hat, der Schumanplan sich in solchem Maße gegen die Industrie in der Bundesrepublik auswirkt. Wir empfinden keinerlei Genugtuung darüber, daß wir Ihnen diese Entwicklung vor Jahr und Tag auseinanderzusetzen versucht haben, um Sie davor zu warnen, voreilig oder fahrlässig einen Vertrag zu unterschreiben, dessen Bestimmungen darauf abgestellt waren — und hier kommt der erste kleineuropäische Wechsel, den wir einlösen sollen —, die anderen Industrien zu bevorzugen und den an sich schon ungünstigen Stand der deutschen Montanindustrie noch zu verschlechtern.
Nachdem ich Ihnen das einwandfreie, von der Hohen Behörde geprüfte und für richtig befundene Zahlenexempel vorgetragen habe, möchte ich Sie noch darauf aufmerksam machen, daß wir in einem Spezialfall die groteske Situation haben, daß, ausgehend vom gleichen Grundpreis, der Preisunterschied zwischen deutschem Produkt in Frankreich und dem gleichen Spezialprodukt französischer Herkunft in der Bundesrepublik 230 DM pro Tonne ausmacht.
Nun weiß ich — vielleicht wissen es auch unsere Stahlindustriellen —, daß der Vorwurf erhoben wird, Professor Erhards Politik der freien Preise auf dem Stahlsektor habe dazu geführt, daß die deutschen Stahlpreise überhöht seien, also über dem Preis lägen, der, auch nach Weltmarktmaßstäben, angemessen sei. Aber selbst wenn man das mit einrechnet und zugibt, daß der deutsche Stahl vielleicht billiger hergestellt und verkauft werden könnte, als es bisher der Fall gewesen ist, wird jeder vernünftige Mensch, der denken und rechnen kann, einräumen müssen, daß so phantastische Preisspannen, wie ich sie an dem Beispiel aufgezeigt habe — nämlich beinahe 25 % des Wertes oder gar in einem Ausmaß von 230 DM pro Tonne —, unmögliche Relationen sind, die man nicht bestehen lassen kann. Wir haben also die Situation, daß der „gemeinsame" Markt durch die Steuermethoden und Steuersysteme der Länder völlig verschoben und durcheinandergebracht wird.
Daraus ergab sich für uns die Notwendigkeit — unser Sprecher hat es vorigen Mittwoch bereits gesagt —, in Sorge um die Menschen, die in der Stahlindustrie tätig sind, und um die Folgen, die sich aus solchen Preiserhöhungen bzw. Preisunterbietungen ergeben müssen, uns zu entschließen, diesem Gesetz zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, ob Sie die Muße gehabt haben, zu lesen, was die Hohe Behörde in Luxemburg sich für die Eröffnung des Stahlmarktes ausgedacht hatte. Sie werden sich entsinnen, daß, als am 12. Februar der Gemeinsame Markt für Kohle eröffnet wurde, ein Zug mit deutschem Koks über die Grenze nach Frankreich rollte, und zwar in einem feierlichen Akt über eine Grenze rollte, die angesichts des Gemeinsamen Marktes eigentlich nicht mehr bestehen sollte. Der Zug war mit Fahnen geschmückt, und viele Leute, vor allem die Europa-Enthusiasten, haben erklärt: Wunderbar! Die Zollschranken sind gefallen! Was alle miteinander dabei übersehen haben, war die Tatsache, daß es für diese Ware gar keinen Zoll gab, so daß das Feiern des angeblich gefallenen Zolls somit ins Leere ging. Das ändert nichts daran, daß diese Maßnahmen im Schumanplan im Prinzip wirklich getroffen werden, und am 1. Mai ist allerdings jeglicher Zoll für Stahl und Roheisen und für die Walzwerksprodukte in Fortfall gekommen. Diesmal hat sich nun Herr Monnet eine prachtvolle Zeremonie ausgedacht. Er ist mit den Mitgliedern der Hohen Behörde, mit den Gesandtschaften, die bei ihm als dem „Ministerpräsidenten von Kohle und Stahl" akkreditiert sind, am Vorabend des 1. Mai in ein luxemburgisches Stahlwerk gefahren und hat dort feierlich das Zeichen zum Anstechen für das, wie er gesagt hat, erste europäische Roh, eisen gegeben. Das ist dann herausgeflossen, und als das erste Bruchstück einigermaßen abgekühlt war, haben die neun Mitglieder der Hohen Behörde feierlich symbolisch ihre Hände auf dieses noch warme Stück Roheisen gelegt. Den deutschen Vertretern wird es dabei siedeheiß gewesen sein — vermute ich; denn als der Markteröffnungs-Beschluß gefaßt wurde - trotz aller Überlegungen und Argumente, die man hinsichtlich der unmöglichen Steuer- und Rückvergütungsbedingungen vorgebracht hat —, haben sich die deutschen Vertreter der Stimme enthalten. Die Hohe Behörde hat also — Sie entsinnen sich vielleicht der Diskussion vor zwei Jahren — mit den berühmten übriggebliebenen sieben Stimmen beschlossen, daß der Gemeinsame Markt für Kohle und Stahl so eröffnet wird, wie er augenblicklich vorliegt und wie er ohne Korrekturen von uns aus eben dazu führen würde, daß die deutsche Stahlindustrie konkurrenzunfähig wird.
Was die meisten nicht gewußt haben, was aber die zwei oder drei Fachleute, die dabeigewesen sind, gesehen haben, war die groteske Tatsache, daß um des schönen Symbols willen der Hochofen zu früh angestochen wurde und das angeblich „europäische Roheisen" für die Produktion unbrauchbar war, so daß es am nächsten Tage als „Luxemburger Werkschrott" in den Hochofen zurückwandern mußte.
So kann es einem mit Symbolen ergehen! Ich fürchte, wir werden bei dem Schumanplan und seinen Wirkungen, wenn wir bei symbolischen Handlungen bleiben, ohne die europäischen Realitäten gründlich zu untersuchen, solche Pannen noch öfter erleben.
Was von dem feierlichen Akt übriggeblieben ist, sind ungefähr 300 bis 400 Aschenbecher von 5 Pfund Gewicht; die hat nämlich jeder Teilnehmer aus diesem ersten Stück unbrauchbaren, angeblich europäischen Roheisens als Erinnerung bekommen.
Nun, meine Damen und Herren, wir hätten uns als Sozialdemokraten einen besseren Start für die Eröffnung des gemeinsamen Marktes für Roheisen, Stahl und Walzwerkerzeugnisse gewünscht. Wir bedauern für die Bundesrepublik und nicht zuletzt für Europa, daß es jetzt dazu gekommen ist, daß wir mit steuerlichen Maßnahmen eine Aktion durchführen müssen, weil der Hohen Behörde die höhere Einsicht gefehlt hat, — um nicht von wirtschaftlicher Unvernunft auf Grund eines Vertragstextes zu sprechen, der solche Unvernunft erlaubt. Wir bedauern, daß es für Europa keinen besseren Start gegeben hat als den heutigen, der uns veranlaßt, dieses Gesetz zu machen und ihm zuzustimmen.