Rede von
Heinz
Renner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(KPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (KPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unser Standpunkt zu dieser Gesetzesvorlage: Wir bejahen die Schaffung einer Sozialgerichtsbarkeit, getrennt von den Verwaltungsorganen der Sozialversicherung, der Arbeitslosenversicherung und den Versorgungsbehörden für die Kriegsopfer. Wir bejahen die Schaffung zweier Tatsacheninstanzen und einer Revisionsinstanz in der Sozialgerichtsbarkeit. Die Tatsacheninstanzen sollen nach unserer Auffassung die Sozialgerichte und Landessozialgerichte sein, die Revisionsinstanz soll das Bundessozialgericht sein.
Wir lehnen den in der Gesetzesvorlage der Bundesregierung enthaltenen Gedanken, diese Sozialgerichte mit Berufsrichtern zu besetzen, grundsätzlich ab. Nach unserer Meinung müssen als Richter in allen Instanzen der sozialen Gerichtsbarkeit
geeignete Persönlichkeiten aus den Gewerkschaften und aus den Organisationen der Sozialberechtigten und der Kriegsopfer eingesetzt werden. Diese Organisationen verfügen über genug erfahrene Persönlichkeiten, die auf Grund jahrelanger Tätig-
keit auf sozialpolitischem Gebiet die Gesetzgebungsmaterie genauestens kennen und die Funktion eines Richters voll auszuüben in der Lage sind. Einer der zwei ehrenamtlichen Richter bzw. Beisitzer in allen Instanzen muß nach unserer Ansicht dem Kreis der zuständigen Organisationen auf Grund eines echten Vorschlagsrechts der Gewerkschaften bzw. der Organisationen entnommen werden. Dasselbe soll auch auf die Richter in allen Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit zutreffen. Wir bestehen ferner darauf, daß das Vertretungsrecht bei allen Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit den Vertretern vorbehalten bleibt, die die Organisationen der Sozialberechtigten selber stellen.
Ebenso wichtig aber ist, daß entweder in das Verfahrensgesetz, in die zu diesem Gesetz angekündigte Sozialgerichtsordnung oder in das Bundesversorgungsgesetz bzw. in die Sozialgesetzgebung selber ausreichende Sicherungen dafür eingebaut werden, daß dem augenblicklichen skandalösen, planmäßig betriebenen Rentenraub ein Ende bereitet wird.
Die Organe der Sozialversicherung und vor allem der Kriegsopferversorgung müssen durch Gesetz gezwungen werden, gewisse zu Recht heftig kritisierte Praktiken einzustellen. Ich denke vor allem an die neuerlich praktizierte Methode, Rentenkürzungen, ja den völligen Entzug der Rentenversorgung mit der Begründung vorzunehmen, daß neue wissenschaftliche, ärztliche Erkenntnisse den Rentenentzug rechtfertigten. Wozu diese Methoden führen, hat die Öffentlichkeit durch den Fall Kulik erfahren. Diesem Kriegsbeschädigten des ersten Weltkrieges wurde die Rente auf Grund einer offensichtlichen Fehldiagnose entzogen. Er beging daraufhin Selbstmord. Nachträglich hat sich herausgestellt, daß der Rentenentzug völlig unberechtigt war. Die Versorgungsbehörde hat ihre Fehlentscheidung hinterher damit zu korrigieren versucht, daß sie der Witwe die zu Unrecht entzogenen Rentenbezüge ihres Mannes nachbewilligt hat. Aber den Freitod des 100 %ig kriegsbeschädigten Sozialberechtigten schafft man damit nicht aus der Welt.
Wir ziehen aus diesen Tatsachen die Schlußfolgerung, daß eine Sicherung geschaffen werden muß in der Form, daß jeder Sozialberechtigte, dessen Rentenbezüge auf Grund eines ärztlichen Gutachtens gekürzt oder völlig entzogen werden sollen, das Recht erhält, sich auf Kosten der Versicherungsträger bzw. der Versorgungsbehörden ein Gegengutachten zu beschaffen. Dieses Gegengutachten soll von einer gleichrangigen ärztlichen Autorität bzw. einem Krankenhaus oder einem medizinischen Institut erstattet werden, zu dem der Sozialberechtigte Vertrauen haben kann. Wir sind außerdem der Auffassung, daß Bescheide der Versorgungsorgane bzw. der Versicherungsorgane erst dann rechtswirksam werden dürfen, daß also eine Rentenkürzung bzw. der Rentenentzug erst dann vollzogen werden darf, wenn die Landesberufungsinstanz der Sozialversicherung gesprochen hat.
Zusammenfassend sei gesagt: Wir halten den Gesetzentwurf in seiner derzeitigen Form für völlig ungenügend. Wir werden bei der zweiten Beratung der Gesetzesvorlage die uns erforderlich scheinenden Änderungsvorschläge machen.